E-Book, Deutsch, 367 Seiten
ISBN: 978-3-7565-0974-4
Verlag: epubli
Format: EPUB
Kopierschutz: 0 - No protection
Ulrike Raimer-Nolte ist eine preisgekrönte Übersetzerin für Englisch und Skandinavisch. Mit 'FünfSeelen' (Originaltitel: 'Die fünf Seelen des Ahnen') hat sie den Deutschen Science Fiction-Preis gewonnen - als einzige Frau in 30 Jahren! Weitere Bücher sind 'Märchenhaft' und 'Die vertrixte Adventsmaschine'. Sie lebt mit ihrer Ehefrau und einem Sohn in Hamburg.
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Es war zwei Uhr nachmittags, und Serail hatte sich gerade auf die andere Seite gedreht und beschlossen, noch ein Stündchen zu schlafen. Er lag in einer dämmrigen Wohnhöhle. Die Wände bestanden aus Baumwurzeln, als Bett diente ein rohes Birkenholzgestell, über das Tierhäute gespannt waren. Verschiedene Pelze lagen darauf verstreut: Zobel, Polarfuchs, Perserkatze. Vögel zwitscherten. Es war ein perfekter Nachmittag, bis sein Getrauter durch die Tür kam und ihm die Decke wegrupfte. „Du verschläfst gerade ein geschichtliches Ereignis, du Schnarchnase.“ „Hmm?“ „Es gibt da draußen einen Wasserplaneten. Hast du die Ansage an die Crew nicht gehört? Auf der Brücke ist Vollversammlung in genau ... achtundzwanzig Minuten!“ Serail brummte und zog das Kissen über den Kopf. Caravan hatte die Grausamkeit besessen, sämtliche Lampen hochzuschalten. Die Sonnenstrahlen aus der Höhlenöffnung wurden gleißend, ein Lagerfeuer flammte in der Mitte des Raumes auf. „Wasserplaneten sind eine Legende“, knurrte Serail. „Lass mich in Ruhe.“ Sein Getrauter stand mitten im Lagerfeuer, was Serails Laune nicht verbesserte. Er hatte Tage gebraucht, um diese Illusion zu erschaffen. Jeder Mensch mit einem bisschen Sinn für Romantik hätte darauf Rücksicht genommen und wäre um die Flammen herum gegangen. Stattdessen stellte Caravan fest: „Die Kabine sieht aus wie ein Schweinestall. Ich nehme an, das gehört zu dieser neuen Modewelle, die du aufgeschnappt hast? Terranische Lebensweise. Zurück zum Urschlamm.“ Serail seufzte gequält und stellte mit einem Blinzeln sein Implantat an, so dass die Stromsicht verschwand und nur die langweilige Wirklichkeit übrig blieb. Er musste zugeben, dass Caravan Recht hatte. So gesehen, war der kahle Raum ein Chaos aus verstreuter Unterwäsche, Popcorn und leeren Champagnergläsern. Allmählich fiel ihm die Party wieder ein. Gleich danach kamen die Kopfschmerzen. Er jaulte und griff erneut nach seinem Kissen. „Nix da“, sagte Caravan und warf das Pelzstück in die hinterste Ecke der Kabine. Wenigstens hatte er Mitleid genug, ein Glas mit Anti-Kater-Mischung aus dem Recycler zu holen. Das Gebräu, das dampfend in einem Plastikbecher erschien, sah nicht besonders einladend aus, aber für Serail war es das Wasser des Lebens. Er brachte sogar ein verzerrtes Lächeln zustande, während er mit geschlossenen Augen danach griff ... Das Lächeln verschwand gleich darauf, als Caravan ihn am Kragen packte und ihn kurzerhand aus der Tür schleifte, in Richtung Schiffsbrücke. Vor der Tür herrschte das übliche Gedränge. Die beiden hatten darauf verzichtet, im Crew-Bereich zu wohnen, der komfortabel aber langweilig war. Hier, am Rand der Passagierstadt 1.3 Lilienthal, gab es immer etwas zu sehen. Ein bunter Strom von Menschen schob sich durch die engen, niedrigen Gänge: Jesuiten, Samurai, Pompadour ... Da man sich in diesem Bauabschnitt nicht die Mühe gemacht hatte, die glatten Wandflächen mit einer Verkleidung zu überziehen, warf das Metall die Bilder der Vorüberkommenden zwischen sich zurück wie ein Spiegellabyrinth. Tausende von Menschen schienen sich gleichzeitig in allen Richtungen durch die Stahlröhre zu pressen. Serail konnte sich selbst vervielfacht in der glitzernden Unendlichkeit verschwinden sehen. Man musste den Anblick gewohnt sein, um an den Kreuzungen nicht gegen die nächste Wand zu laufen. Er stellte das Implantat ab, um die unangenehme Wirklichkeit verschwinden zu lassen, und die Umgebung verwandelte sich vor seinen Augen. Geisterhaft legte sich das Bild einer Landschaft über den kahlen Gang. Für einen kurzen Augenblick existierten beide Ebenen gleichzeitig, die Illusion schimmerte flüchtig wie eine Seifenblasenwand. Dann wurde der Stromraum stabil und verdrängte den Anblick von kaltem Metall, den Geruch von verbrauchter Luft, den harten Faserplastboden unter Serails Füßen. Der Strom umschloss seine Sinne, ein frischer Wind erfasste Serails Haar, und Orchideenduft strömte ihm aus einem fernen Dschungel entgegen. Holzplanken bewegten sich unter ihm, sodass er für einen Moment fast das Gleichgewicht verlor. Als er die Balance wiedergefunden hatte, warf er einen ungläubigen Blick auf das Design, eine morsche Hängebrücke, die sich vor ihm bis zum Horizont erstreckte. Ständig programmierte irgendjemand die Landschaften vor seiner Wohnungstür um, und die Strecke schien von Mal zu Mal abenteuerlicher zu werden. Das schmale Gerüst aus Stricken und Brettern wirkte, als müsste das Gewicht der Passanten es jeden Moment zum Einsturz bringen. Serail schloss nicht aus, dass dieser Special Effect tatsächlich zum Programm gehörte. Jedenfalls reichte der Anblick, um ihn endgültig aus seinem Halbschlaf zu reißen. „Ich könnte jetzt in meinem Bett liegen“, protestierte er achtzig Meter über dem Erdboden, während ein Dschungelfluss in mörderischer Tiefe brauste und seine Stimme fast übertönte. „Ich lasse mich scheiden.“ „Natürlich, mein Schatz.“ „Wieso hast du mich überhaupt aus dem Schlaf gezerrt? Was hast du mir vorhin ins Ohr geschrieen?“ Caravan wiederholte geduldig: „Wir haben einen Wasserplaneten entdeckt.“ „Was, einen Was-“ sagte Serail, kehrte mit einem Blinzeln in die Realität zurück und rannte abgelenkt in einen entgegenkommenden Passagier hinein. „ ... sserplaneten? Das kann nicht dein Ernst sein.“ Er rieb sich den Ellenbogen und redete weiter, ohne das Opfer des Zusammenstoßes zu beachten. Serail war Crew und Entschuldigungen gehörten nicht zu seinem Lebensstil. „Daran glaubt doch niemand. Schon mein Urururgroßvater hat gewusst, dass die Erde der einzige bewohnbare Planet in diesem ganzen öden Universum ist.“ „Manchmal können sich auch Großväter irren.“ „ ... sagt ausgerechnet der Mann, der mir immer seine Altersweisheit unter die Nase reibt.“ „Stimmt. Wenn ich schon mit einem Grünschnabel wie dir zusammenlebe, erwarte ich wenigstens etwas Respekt.“ Serail ignorierte diese Bemerkung, schaute beim Gehen in die Spiegelwände und zupfte sorgfältig seine Frisur zurecht. Sein Haar sah aus wie ein Vogelnest, jammerte er innerlich, und gerade als es eine gewisse Form anzunehmen schien, endete schlagartig das polierte Metall. Er seufzte. Hätten sie nicht ein paar Minuten später in die Crewstadt kommen können? Hier gab es Wandverkleidungen, die wie eine Mischung aus hellblauer Seide und schillernden Fischschuppen aussahen. Die Straßen hatten doppelte Breite, und die Decken waren so hoch, dass man sie mit den Händen nicht mehr erreichen konnte. Die Platzverschwendung gab dem Raum etwas Grandioses. Der Boden war mit einer weichen, federnden Schicht überzogen, die an Daunengefieder erinnerte. Je weiter sie zum Zentrum vordrangen, desto leerer wurden die Wege. „Also, was denkst du wirklich darüber?“, fragte Caravan, als sie ihr Ziel erreicht hatten und in den Kommandoraum traten. „Worüber denn?“ Serail gab sich begriffsstutzig. Caravan zog nur ein Braue hoch, was er besonders ausdrucksvoll konnte, und Serail murrte: „Na gut, wir haben angeblich einen Wasserplaneten entdeckt. Was ist daran so toll? Wer will schon ernsthaft fremde Welten besiedeln?“ Caravan schaute ihn an, als habe er den Verstand verloren. „Ich lebe in meiner Kabine wie ein Höhlenmensch“, stellte er fest. „Ich muss neben einem schwachsinnigen Lagerfeuer schlafen. Du sprichst nur noch von ‘Naturverbundenheit’ und ‚Terranischem Lifestyle’. Und jetzt erzählst du mir, dass alles so bleiben soll, wie es ist? Du möchtest den Rest deines Lebens an Bord eines Raumschiffes verbringen und im Nichts herumirren?“ Serail zuckte lässig mit den Schultern. „Bloß weil ich ein bisschen modebewusst bin, nehme ich die ganze Erdnostalgie doch nicht ernst. Keine Ahnung, warum alle statt solidem Metall einen Humusboden unter den Füßen haben wollen. Ich bin sehr glücklich hier an Bord.“ „Sorry, aber das ist Blödsinn. Wenn ich jemanden kenne, der den Weltraum nicht erträgt, dann du. Nach jeder Außenwache muss ich dich davon abhalten, in den Recycler zu springen!“ Serail wusste nicht, was er darauf antworten sollte. Also setzte er seine Primadonna-Miene auf, wandte sich ab und ließ seinen Blick durch den Saal schweifen. In der großen, runden Halle herrschte ungewöhnliches Gedränge. Es fehlte kaum jemand von den höheren Dienstgraden. Die meisten waren in Gala-Uniformen erschienen, mit roten Kordeln über königsblauen Smokings. Serail entdeckte einige seiner Freunde aus der Matrosenklasse, aber er hatte wenig Aussicht, sich zu ihnen durchzukämpfen. Von der anderen Seite des Saals winkte ihm eine Blondine zu, an die er sich nur vage vom vorigen Abend erinnern konnte. Ihr Name war Mango ... oder Papaya? Es spielte keine Rolle. Sie hatte ihn noch mehr gelangweilt als die meisten seiner Partybekanntschaften. Er lächelte strahlend und winkte zurück. Anscheinend waren sie beide gerade noch rechtzeitig eingetroffen. Soeben teilte sich die Menge und eine zierliche Gestalt mit dem weißgefärbten Haar...