Aufsätze zur Literatur
E-Book, Deutsch, 196 Seiten
ISBN: 978-3-347-24219-7
Verlag: tredition
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Josef Quack, Dr. phil., Jg. 1944, schrieb Bücher über das Sprachverständnis von Karl Kraus (1976), die fragwürdige Identifikation als Modus der Lektüre (1992), die Künstlerische Selbsterkenntnis bei E.T.A. Hoffmann (1993), über W. Koeppen als Erzähler der Zeit (1997), über die Grenzen des Menschlichen bei G. Simenon u. a. (2000), über den Geschichtsroman und die Geschichtskritik bei A. Döblin (2004) sowie über den Diskurs der Redlichkeit in Döblins Hamlet-Roman (2011). Wenn das Denken feiert (2013). Zur christlichen Literatur im 20. Jahrhundert (2014). Über das authentische Selbstbild. Zum Tagebuch (2016). Über die Rückschritte der Poesie dieser Zeit (2017). Lehrjahre in St. Wendel und St. Augustin (2018. Über Simenons traurige Geschichten (2019).Über das Ethos von Intellektuellen (2020) Website: www.j-quack.homepage.t-online.de
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Über Joseph Roths Hiob Es gibt einige gezählte Meisterwerke der Weltliteratur, die sich dadurch auszeichnen, daß sie die wesentlichsten Fragen des menschlichen Daseins aufwerfen und ihre Aspekte gründlich beleuchten. Es ist ihnen gelungen, typische Gestalten und Ausprägungen des Homo sapiens mustergültig darzustellen, so daß sie zu gerne nachgeahmten Vorbildern für spätere Dichtungen bis in unsere Zeit wurden. Um nur die bekanntesten Menschheitsgestalten zu nennen: Odysseus, Antigone, Hiob, Faust, Don Quijote, Hamlet, Don Juan, Romeo und Julia, Robinson, Lederstrumpf. Bemerkenswert ist nun, daß gerade die exemplarischen Gestalten des Menschseins in der Literatur der Moderne aufgegriffen werden, um in exzellenten Dichtungen eine neue, zeitgemäße Form zu finden. Man braucht nur an Ulysses von James Joyce zu denken, an Antigone von Jean Annouilh, Doktor Faustus von Thomas Mann, Hamlet oder Die lange Nacht nimmt ein Ende von Alfred Döblin, Schwarze Spiegel von Arno Schmidt, eine endzeitliche Robinsonade, und eben Hiob von Joseph Roth. Zu den klassischen Menschenbildern sei hier noch angemerkt, daß zwischen dem Buch Hiob und der Antigone des Sophokles ein signifikanter Gegensatz besteht. Die griechische Tragödie handelt nicht nur von dem tödlichen Konflikt zwischen Staatsmacht und Menschlichkeit, sondern in einem berühmten Chorlied auch von der furchtbaren Macht des Menschen: „Vieles Gewaltge lebt, und doch / Nichts gewaltiger denn der Mensch“. Das antike Chorlied ist ein hymnisches Lob des Menschen, die biblische Schrift handelt dagegen von dem Elend und der Vergänglichkeit des Menschen: „Der Erdenmensch, vom Weibe geboren, an Tagen arm und unruhvoll, geht gleich einer Blume auf und welkt, flieht wie ein Schatten und besteht nicht lang.“ Bevor ich jedoch die Beziehung zwischen kanonischem Vorbild und moderner Gestalt genauer untersuche, möchte ich Roths Roman allein für sich besprechen, getreu der Empfehlung, die Lessing in den Briefen, die neueste Literatur betreffend (Nr. 105) den Interpreten und Rezensenten gegeben hat: „Ich habe immer geglaubt, es sei die Pflicht des Kriticus, sooft er ein Werk zu beurteilen vornimmt, sich nur auf dieses Werk allein einzuschränken; an keinen Verfasser dabei zu denken; sich unbekümmert zu lassen, ob der Verfasser noch andere Bücher, ob er noch schlechtere oder noch bessere geschrieben habe; uns nur aufrichtig zu sagen, was für einen Begriff man sich aus diesem gegenwärtigen allein mit Grund von ihm machen könne.“ 1. Die Geschichte Der Roman erzählt die Geschichte Mendel Singers, die Unglücksserie, die ihn trifft, seine Anklage gegen Gott, seine Verzweiflung an Gott und das unerwartete Glück, das er am Ende erfährt und ihm wie ein Wunder erscheint. Mendel Singer ist Lehrer, der bei sich zuhause zwölf Knaben die Bibel lesen lehrt. Er lebt in Zuchnow, einem russischen Dorf, das nach dem Ersten Weltkrieg polnisch wird. Er ist mit Deborah verheiratet und hat drei Söhne und eine Tochter: Jonas, Schemarjah und Mirjam. Sein viertes Kind ist Menuchim, ein körperlich und geistig schwer behinderter Junge, epileptisch veranlagt und sprachlich zurückgeblieben, so daß er jahrelang nur „Mama“ sagen kann. Als die ältesten Söhne ins wehrpflichtige Alter kommen, entscheidet sich Jonas freiwillig für den Militärdienst, während Schemarjah heimlich nach Amerika auswandert. Mendel entdeckt zufällig, daß Mirjam sich mit einem Kosaken abgibt, deshalb beschließt er, nach Amerika zu gehen und Menuchim bei einem befreundeten jungen Paar zurückzulassen. Schemarjah, der sich nun Sam nennt, schickt ihnen die Schiffskarten und sorgt in New York für die Familie. Im ersten Weltkrieg fällt er als amerikanischer Soldat. Als Deborah die Nachricht von seinem Tod erfährt, erleidet sie einen Tobsuchtsanfall und stirbt. Wenig später erkrankt Mirjam psychisch und wird als unheilbar in eine Anstalt gebracht. Angesichts dieser Unglücksfälle will Mendel seinen religiösen Glauben verzweifelt aufgeben. Während der Familienfeier am Osterabend kommt ein berühmter junger Dirigent zu ihnen und gibt sich als Menuchim zu erkennen. Er war in Petersburg geheilt worden und hat den Krieg als Dirigent überstanden. Was die Zeit des Romans angeht, so finden sich nur wenige historische Daten. Einmal heißt es, daß der Krieg gegen Japan (1905) beendet war (S.28). Kurz vorher liest man, daß Menuchim vor zehn Jahren sein erstes und einziges Wort ausgesprochen habe (S.25). Der Beginn des Krieges und sein Ende werden vermerkt (S.124 u. 155) und danach der April, womit wohl das Jahr 1919 gemeint ist (S.157, das Osterfest, an dem Menuchim seinen Vater wiederfindet. Nach diesen Angaben und gewissen Andeutungen kann man annehmen, daß Menuchim 1895 geboren wurde, vor dem Krieg nach Petersburg kam und jetzt 24 Jahre alt ist. Die Familie ist wenige Jahre vor dem Krieg ausgewandert, Mendel war damals mindestens 59 Jahre alt (S. 119). Daß der Text so wenige geschichtliche Daten enthält, die gerade für eine grobe Datierung ausreichen, bedeutet offensichtlich, daß die historische Zeit für den Sinn des Romans von untergeordneter Bedeutung ist. Signifikanter ist die Zeit der religiösen Festtage. Ohne Kommentar, als verstehe es sich von selbst, werden zweimal jüdische, alttestamentliche Monatsnamen verwendet. Es ist von der „ersten Woche im Monat Ab“, als die Juden den Neumond begrüßen, die Rede (S.61); d.h. es wird, Mitte Juni, der Beginn des Monats kultisch festgestellt. Dann liest man von dem Monat Ellul und den hohen Feiertagen (S.151), womit wohl Anfang oder Mitte September gemeint ist. Auch werden der Sabbat und die Vorbereitungen für diesen Tag häufig erwähnt und ausführlich beschrieben. 2. Form des Romans Roths Hiob ist ein Episodenroman. Er enthält sechzehn Kapitel, die jeweils die bedeutsamen Ereignisse der Familie schildern; gelegentlich wird auch die ereignislose Zeit erwähnt, um die Lücke des Zeitverlaufs zu markieren. Der erste Teil des Romans beschreibt das Leben der Protagonisten in Zuchnow und die Fahrt nach Amerika, der zweite Teil handelt von dem Aufenthalt in New York. Was die Folge der Kapitel angeht, so fällt auf, daß Roth nicht nur einfach einen Orts-, Personen- oder Szenenwechsel beschreibt, sondern die Erzählsequenzen oft sprachlich-diskursiv in Form einer filmischen Montage verbindet. Er verwendet etwa eine klanglich-semantische Analogie-Montage, was im Film einer Überblendung entspricht. So endet das erste Kapitel mit den Worten: „…kehrte sie heim“, und das nächste Kapitel beginnt: „Als Deborah heimkehrte“ (S. 18). Das fünfte Kapitel endet: „Also verrannen die Jahre“, das sechste Kapitel beginnt: „An einem Nachmittag im Spätsommer …“ (S.52) – ein Beispiel für eine semantische Kontrast-Montage. Noch radikaler wird der semantische Kontrast im Übergang vom zehnten zum elften Kapitel bezeichnet, wo der Jubel des Herzens und der Tanz des Körpers den Sorgen gegenübergestellt werden (S. 119). Oft aber vollzieht Roth die Verbindung zwischen den Kapiteln durch die Wiederholung des Orts- oder Personennamens. Am markantesten ist die folgende Analogiemontage im Übergang zwischen zwei Erzählsequenzen. Mendel sagt: „Kapturak? Natürlich! Er hat meinen Sohn weggeschickt!“ Dem folgt in einem harten Schnitt, der einen Perspektiven- und Ortswechsel anzeigt, der Satz: „‘Alte Kundschaft!‘ sagte Kapturak“ (S. 79). Roth verwendet das filmische Montageverfahren, die Methode der Überleitung von Szene zu Szene mittels phonologisch-semantischer Analogie oder des entsprechenden Kontrastes, nicht ganz so obstinat und planmäßig wie Alfred Döblin, der die filmische Montage mittels sprachlich-diskursiver Verbindung bewußt in das epische Werk eingeführt hat (Quack 2004, 22ff.). Daß Roth sie aber überhaupt in einem eher legendenhaften Roman anwendet, zeugt von einem scharfen Formbewußtsein und einer intimen Kenntnis des modernen Romans. Um aber kein Mißverständnis aufkommen zu lassen, sei betont, daß nur die verbale, klanglich-semantische Überleitung der Erzählsequenzen neueren Datums ist, während die narrative Montage des Szenen- und Perspektivenwechsels zum Wesen des Erzählens an sich gehört und seit Menschengedenken praktiziert wird. So hat der Sprachtheoretiker Karl Bühler die filmischen Szenenschnitte bei Homer wunderbar beschrieben (l.c. 23). Tatsache ist aber auch, daß erst der Film die Literaturtheorie auf das Montagemoment des Erzählens recht eigentlich aufmerksam gemacht hat. Für die Erzählweise dieses Romans ist weiterhin bezeichnend, daß meistens die Stimme eines auktorialen Erzählers zu vernehmen ist, gelegentlich aber die personale Erzählweise an seine Stelle tritt, so daß aus der Perspektive einer Person erzählt wird und deren Gedanken in innerem Monolog oder erlebter Rede wiedergegeben werden. Einmal tritt der auktoriale...