E-Book, Deutsch, Band 594, 328 Seiten, Format (B × H): 137 mm x 212 mm
Reihe: Gulliver
Roman
E-Book, Deutsch, Band 594, 328 Seiten, Format (B × H): 137 mm x 212 mm
Reihe: Gulliver
ISBN: 978-3-407-74183-7
Verlag: Beltz, J
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Mirjam Pressler (1940 - 2019) lebte bis zu ihrem Tod in Landshut. Sie gehört zu den bekanntesten Kinder- und Jugendbuchautoren und hat mehr als 30 eigene Kinder- und Jugendbücher verfasst, darunter »Bitterschokolade« (Oldenburger Jugendbuchpreis), »Wenn das Glück kommt, muss man ihm einen Stuhl hinstellen« (Deutschen Jugendliteraturpreis), »Malka Mai« (Deutscher Bücherpreis) »Nathan und seine Kinder«,»Ich bin's Kitty. Aus dem Leben einer Katze« und zuletzt »Dunkles Gold« sowie die Lebensgeschichte der Anne Frank »Ich sehne mich so«. Außerdem übersetze sie viele Bücher aus dem Niederländischen, Englischen und Hebräischen. Für ihre »Verdienste an der deutschen Sprache« wurde sie 2001 mit der Carl-Zuckmayer-Medaille ausgezeichnet, für ihr Gesamtwerk als Übersetzerin mit dem Sonderpreis des Deutschen Jugendliteraturpreises und für ihr Gesamtwerk als Autorin und Übersetzerin 2004 mit dem Deutschen Bücherpreis, der Corine und der Buber-Rosenzweig-Medaille sowie mit dem Friedenspreis der Geschwister Korn und Gerstenmann-Stiftung.
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Oktober
Hanna Mai wachte auf, als es noch dunkel in der Hütte war. Minna und Malka schliefen fest, sie hörte es an ihren ruhigen Atemzügen. Eine Weile blieb sie liegen, starrte in die Dunkelheit und wartete, dass der Schlaf wiederkommen würde, aber er kam nicht. Sie fröstelte. Die beiden Decken, die in der Hütte lagen, hatte sie gestern Abend Minna und Malka überlassen, und die Pferdedecke, die Frau Kowalska ihnen mitgegeben hatte, war zu schmutzig, um sich damit zuzudecken, die konnte man nur als Unterlage benutzen. Sie stützte den Kopf auf den Arm und betrachtete Malka, die, fest in ihre Decke gerollt, auf der Pritsche nebenan lag. Hanna hatte keine Ahnung, wie viel Uhr es war, sie lebte nur nach dem Stand der Sonne und nach Gefühl, seit sie dem Schmuggler ihre Armbanduhr gegeben hatte, aber sie war hellwach. Kein Wunder, sie hatte gestern schließlich den ganzen Nachmittag verschlafen, bevor Jossel Bardosz sie hier heraufgeführt hatte. Sie stand auf und trat vor die Hütte. Der Himmel über ihr war eine graue Kuppel. Der Mond war verschwunden, nur noch ein paar vereinzelte Sterne waren zu sehen. Im Südosten tauchte vor dem Horizont eine Bergkette auf. Die Kämme zeichneten sich dunkel und weich vor einem helleren Streifen Himmel ab. Hanna setzte sich auf die Holzbank vor der Hütte und legte die Hände in den Schoß. Es war noch kühl hier oben, ihre Füße wurden nass vom Tau. Sie streckte die Beine vor sich, dass nur noch ihre Fersen das Gras berührten, und bewegte die Zehen. Die Luft tat ihren geschundenen Füßen gut, trotz der Kälte und der Nässe. Dankbar zog sie die Strickjacke fester um sich, die ihr Frau Bardosz gestern Abend gegeben hatte, zusammen mit einem abgetragenen Paar Halbschuhe, die ihr zwar zu groß waren und die sie deshalb mit Watte ausgestopft hatte, aber besser als ihre Sommerschuhe mit den Absätzen waren sie auf alle Fälle. Für Malka hatte es keine Schuhe gegeben, sie hatten der Kleinen Fußlappen umgebunden und darunter, statt Sohlen, mit großen Stichen Wachstuchstreifen genäht. »Lang wird das nicht halten«, hatte Frau Bardosz gesagt. »Höchstens ein paar Tage, mehr nicht. Ich kenne mich da aus.« Hanna massierte sich erst das eine Bein, dann das andere. Die Muskeln an Waden und Oberschenkeln taten ihr weh, ein Muskelkater, ganz normal nach solch langen Fußmärschen, trotzdem fühlte sie sich, wenigstens in diesem Moment, seltsam gelassen. Die Kinder schliefen und zum ersten Mal, seit sie geflohen waren, saß sie ganz ruhig da, ohne schon wieder den nächsten Schritt planen zu müssen. Der nächste Schritt war klar. Sie mussten dort hinunter, in das Tal, in dem der Nebel aufstieg, grau und wattig, als wäre er ein helleres Spiegelbild des Himmels. Wenn sie genau hinhörte, konnte sie den Fluss unten im Tal rauschen hören, vielleicht war ja auch irgendwo ein Wasserfall. Die Wiese hinunter zum Fluss, hatte Jossel Bardosz gestern Abend in seinem seltsamen Polnisch gesagt. Und dann immer dem Fluss nach ins Tal, in Richtung Pilipiec. Dazwischen gibt es nur vereinzelte Höfe und ein paar Weiler. Und kurz vor Pilipiec, wenn das Tal schon sehr breit ist und man in der Ferne die Häuser der Stadt erkennen kann, kommt die Mühle. Sie können sie nicht übersehen. Aber auch da sind wir noch nicht sicher, dachte Hanna. Wir müssen eine Gruppe finden, der wir uns anschließen können, das hat Frau Bardosz auch gesagt, alleine kommen wir nicht weit, die ungarischen Gendarmen greifen Tag für Tag polnische Juden auf und schicken sie zurück über die Grenze. Erst in Budapest, der großen Stadt, würde es ihnen möglich sein, in der Masse der Menschen unterzutauchen. Illegal konnte man nur in einer Großstadt leben. Aber daran wollte Hanna im Moment nicht denken, noch nicht. Die Probleme warteten unten im Tal auf sie, sie würden nicht weglaufen. In den nahen Bäumen regten sich die ersten Vögel, ein Tschilpen da, ein Zwitschern dort, seltsame kleine Töne in einer großen Welt. Zu Hause hatten die Vögel sie manchmal beim Morgengrauen mit ihrem Lärm geweckt, hier hörten sie sich verloren an. Hoffentlich klappt das mit Minna, dachte sie, das Mädchen ist so aufbrausend. Natürlich hat sie Recht, wenn sie sagt, dass alles nach meinem Kopf geht, aber nach wessen Kopf sollte es sonst gehen? Etwa nach Minnas? Gestern hat sie zum ersten Mal davon gesprochen, was ihr durch den Kopf geht. Nach Erez-Israel will sie also. Vielleicht wird sie es ja schaffen, stur genug ist sie, das hat sie von mir. Nur dass sie nicht so ehrgeizig ist. Vielleicht war Erez-Israel wirklich eine Möglichkeit für Minna. Irgendwann würde sie sich über die Zukunft ihrer ältesten Tochter Gedanken machen müssen, aber nicht jetzt. Jetzt ging es nur darum, nach Budapest zu kommen. Minna war kräftig, um sie brauchte man sich keine Sorgen zu machen, um Malka schon eher. Sie war erst sieben, wenn auch groß für ihr Alter. Und sie hielt sich gut. Zu Hause war sie die verwöhnte Kleine gewesen, die Schöne, auf die jeder Rücksicht nehmen musste und auch gerne nahm, die Prinzessin eben, und auf einmal war sie ein Mensch geworden, fast erwachsen. Warum haben sie mich die ganze Zeit nichts gefragt?, dachte Hanna. Warum haben sie nicht über ihre Angst vor der Zukunft gesprochen. Oder haben sie etwa keine? Ich habe Angst. Ich habe große Angst. Aber ich will nicht an meine Angst denken, sie nützt mir nichts, die Angst würde mich lähmen, wenn ich sie zulassen würde. Wo würden sie leben können, wie, von was? Hanna schob diese Gedanken zur Seite. Irgendwie würde es schon weitergehen, wenn sie erst einmal in Budapest waren. Vielleicht ergab sich ja eine Möglichkeit, nach Amerika auszuwandern, das würde ihr besser gefallen als Erez-Israel. Aber wenn ihr nichts anderes blieb, würde sie auch dorthin gehen, um zu überleben. Hanna zog es nicht zu ihrem Mann, sie hatten schon längst keine Ehe mehr geführt. Eigentlich war es noch nie eine richtige Ehe gewesen, so wie die Ehe ihrer Eltern oder die Ehe ihrer Schwester und ihres Schwagers. Hanna dachte an den Mann, der doch der Vater ihrer Töchter war, wie an einen Fremden. Sie wusste, genau genommen, nicht mehr, warum sie ihn geheiratet hatte. Natürlich hatte er ihr gefallen, aber ihr hatten viele gefallen. Sie hatte Kinder haben wollen, sie hatte gehofft, mit Kindern ihren strengen Vater zu versöhnen. Falls es noch weitere Gründe gegeben hatte, so hatte sie sie vergessen. Andere Männer, andere Liebschaften, waren ihr viel stärker in Erinnerung geblieben. Seltsam. Sie überlegte, ob es ihr in Budapest gelingen würde, als Ärztin zu arbeiten, vielleicht in einem jüdischen Krankenhaus oder in einem Pflegeheim. Aber wenn das nicht ging, wäre sie auch bereit, jede andere Arbeit zu übernehmen, um den Lebensunterhalt für ihre Töchter und sich selbst zu verdienen. Wir sind nicht die ersten Juden, die ihr Zuhause verlassen mussten. Wir sind auch jetzt nicht die ersten Juden, die aus Polen geflohen sind. Frau Bardosz hat Recht. Der Himmel war heller geworden, kein Stern war mehr zu sehen. Der Nebel stieg in dünnen Fäden aus dem Tal und kroch die Hänge herauf. Im Osten erschien ein rötlicher Streifen am Himmel, die Sonne ging auf, die Bergkämme zeichneten sich jetzt scharf und dunkel gegen das Licht ab. Die Sonne war kein Feuerball, wie Hanna erwartet hatte, auch keine glühende Scheibe, sie sah eher aus wie ein roter Nebel mit einem leuchtenden Zentrum, als sie langsam hinter den Bergen aufstieg. Das Rot wurde violett, dann grau und schließlich zu einem grünlichen Blau. Vielleicht würde es ein schöner Tag werden, obwohl man jetzt deutlich sah, dass sich im Westen Wolken auftürmten, grau und drohend. Hanna wusste nicht, woran man hier, auf der Südseite der Karpaten, erkennen konnte, wie das Wetter werden würde. Drüben in Polen hatte sie es ziemlich genau gewusst, da war es oft wichtig gewesen, zum Himmel zu schauen, bevor sie sich auf den Weg zu Patienten machte, wenn auch nur, um zu wissen, welche Kleidung sie mitnehmen sollte. Sie beschloss, die Kinder zu wecken. Sie mussten sich auf den Weg machen. Für die Kleine würde der Abstieg schwer werden, ihre Beine waren geschwollen, die Striemen hatten sich entzündet. Aber hier konnten sie nicht bleiben, auch wenn es noch so schön war. Vielleicht würde sie in Pilipiec einen Arzt finden, der bereit war, ihr Jod und steriles Verbandsmaterial zu geben. Als sie aufstand, sah sie, dass in der Ecke zwischen Bank und Haus, zwischen ein paar Kartäusernelken, die aus dem steinigen Boden wuchsen, ein zusammengerollter Igel lag. Sie wollte ihn Malka zeigen, das würde sie fröhlich machen und ihr Kraft geben für den Abstieg. Als Hanna die Hütte betrat, lag Minna mit offenen Augen auf ihrer Pritsche und lächelte ihr entgegen. Malka schlief noch. Sie lag auf der Seite, mit der Wange auf der Stoffpuppe, die sie Liesel nannte. Hanna setzte sich zu Minna auf die Pritsche und nahm ihre Hand. »Du musst mir helfen«, sagte sie leise. »Ich weiß nicht, wie wir es schaffen sollen, wenn du mir nicht hilfst.« Das Lächeln verschwand von Minnas Gesicht. Sie zog ihre Hand aus der ihrer Mutter und sagte: »Auf einmal bin ich kein Kind mehr, oder?« Hanna nickte und stand auf. »Ja«, sagte sie. »Auf einmal bist du kein Kind mehr.« Sie drehte sich um und weckte Malka. Malka wusste nicht, ob sie wachte oder schlief, als ihre Mutter sie an der Schulter berührte, denn auch im Traum war sie gerade von ihrer Mutter geweckt worden, zu Hause, in Lawoczne. Sie richtete sich auf. Vor sich sah sie nicht ihr Fenster mit dem Blumenvorhang, sondern dunkle Bretterwände, von denen Fetzen von Spinnweben herunterhingen. Sie meinte, immer noch zu träumen, und rieb sich die Augen, doch da war auch schon das Gesicht ihrer...