Präkels | Welt im Widerhall oder war das eine Plastiktüte? | E-Book | sack.de
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E-Book, Deutsch, 192 Seiten

Präkels Welt im Widerhall oder war das eine Plastiktüte?

Essays

E-Book, Deutsch, 192 Seiten

ISBN: 978-3-95732-548-8
Verlag: Verbrecher Verlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark



»Fenster putzen. Muss ich mal wieder machen. Zeitung zerreißen. Rausgehen. Wischen, bis es quietscht ...« Mit dem von Baustellenstaub getrübten Blick auf leere Berliner Straßen während des ersten Lockdowns beginnt Manja Präkels' poetisch-essayistische Reise durch die jüngere deutsche Geschichte und Lebenswelten in Stadt und Land. Erinnerungen an die letzten Jahre der DDR, Begegnungen mit Rotarmisten und das Aufwachsen zwischen Neonazis nach 1990 mischen sich mit Besuchen brandenburgischer Flüchtlingsprojekte der Gegenwart und Reisebildern aus ehemaligen Sowjetrepubliken. Ein kasachischer IT-Spezialist schwärmt vom Pionierlager am Scharmützelsee. Russische Zuhälter in Transnistrien zeigen stolz ihre falschherum tätowierten Hakenkreuze. Im Rheinsberger Schlosspark bekämpft ein junger Sheriff einen mürrischen Riesen, während im lang geschlossenen Lichtspielhaus Alhambra die Fische singen: »Wer möchte nicht im Leben bleiben?«

Manja Präkels, 1974 in Zehdenick/Mark geboren, ist Sängerin der hochgelobten Band »Der singende Tresen« und Autorin des Lyrikbandes »Tresenlieder«. Sie ist Mitherausgeberin der erzählerischen Anthologie »Kaltland - Eine Sammlung«, eines Klassikers der Nachwende-Literatur. Für den Verbrecher Verlag stellte sie mit Markus Liske das Erich-Mühsam-Lesebuch »Das seid ihr Hunde wert!« (2014) sowie den Band »Vorsicht Volk! Oder: Bewegungen im Wahn?« (2015) zusammen. Präkels erhielt für ihr Werk zahlreiche Auszeichnungen, unter anderem das Alfred-Döblin-Stipendium der Akademie der Künste (2005) und das Aufenthaltsstipendium im Writers House Ventspils, Lettland (2012/13). Manja Präkels wurde für ihren Debütroman 'Als ich mit Hitler Schnapskirschen aß' mit dem Kranichsteiner Jugendliteratur-Stipendium 2018 und dem Deutschen Jugendliteraturpreis 2018 ausgezeichnet. Zudem erhält sie für diesen Roman den Anna-Seghers-Preis 2018.
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BRANDENBURG MACHT PAUSE
Der multikulturelle Stadtstaat Berlin liegt inmitten des Bundeslandes Brandenburg. Eine Tatsache, an die beide Seiten nur ungern erinnert werden. Mit der Pandemie scheinen sich die Gegensätze noch verschärft zu haben. Eine Kollegin teilt Bilder der menschenleeren Metropole: die Berliner S-Bahn ohne Passagiere, der einzig von Tauben bevölkerte Alexanderplatz, tägliche einsame Spaziergänge durch die stillen Wohnviertel. Das Staunen der Großstädter über die Entleerung des öffentlichen Raums lässt nicht nach. Ganz anders in Brandenburg: Die Leere der märkischen Landschaft ist vertraut. War es hier jemals voller? Karfreitag. Im gesamten Bundesland gelten bereits hohe Waldbrandwarnstufen. Wie schon im Vorjahr sind Osterfeuer überall verboten. Nachdem wir die Autobahn Richtung Warschau verlassen haben, steuern wir, vorbei an unbelebten Vorgärten, das Zentrum der am westlichen Ufer des Flusses gelegenen Grenzstadt Frankfurt an der Oder an. Vereinzelte Menschen auf der großen Brücke, die hinüber ins polnische Slubice führt, laufen bis zur Mitte, schauen in die Ferne und kehren wieder um. Ende März hatte die polnische Regierung die Quarantänepflicht beim Grenzübertritt ausgeweitet und damit das tägliche Pendeln abrupt beendet. Laut der deutschen Industrie- und Handelskammer (IHK) sind davon rund 14000 polnische Staatsbürger betroffen, die in brandenburgischen Betrieben arbeiten. Meist zu Mindestlöhnen. Durch die neuen Regeln kam es zu Kündigungen und Rekordstaus in beide Richtungen. Panisch mieteten Betroffene Wohnungen auf deutscher Seite, um ihre Arbeit nicht zu verlieren. Nur wenige Lkws rollen noch. Einen Sonderstatus für die grenznahen Regionen gibt es nicht. Die Diskrepanz zwischen dem Anblick bestellter Landschaften ohne Menschen und den Zahlenkolonnen aus dem Autoradio vergrößert sich von Meldung zu Meldung. Vielstellige Zahlen von Neu-Infizierten, Verstorbenen, in ihrer Existenz Bedrohten. Kreditrahmen. Hilfsleistungen. Und fünfzig Kinder aus dem Schreckenslager Moria auf Lesvos dürfen nun doch nach Deutschland kommen. Ich schalte das Radio aus. Ein paar Kilometer flussaufwärts, hinterm nächsten Waldstück, liegt Eisenhüttenstadt. Ohne eigenen Grenzübergang oder Autobahnanschluss präsentiert die einst nach Stalin benannte und für ein großes Kombinat der DDR-Stahlindustrie errichtete Planstadt die ganze Formalität sozialistischen Städtebaus. Das Stahlwerk ist noch immer der größte Betrieb weit und breit. Fast die Hälfte der Menschen, die hier einst lebten, ist seit Mauerfall fortgezogen. Umbruch. Abriss. Keine Pferdemädchenparadiese. Zuwachs ergibt sich nur noch über eine »ab vom Schuss« am Stadtrand gelegene Zentrale Erstaufnahmeeinrichtung für Asylbewerber. Schon vor der Pandemie lebten Flüchtlinge in brandenburgischen Massenunterkünften stark isoliert. Oft mehr als 500 Bewohnerinnen in Mehrbettzimmern, die monatelang auf Behördenentscheidungen warten müssen. In Doberlug-Kirchhain, südwestlich von Eisenhüttenstadt, hat man die Einrichtung in ein militärisches Sperrgebiet gelegt. Der einzige Bus wurde, vorgeblich zur Eindämmung des Coronavirus, eingestellt – ein Offenbarungseid des institutionellen Rassismus im Lande. Der an der Lausitzer Neiße gelegene Grenzort Guben-Gubin bewirbt sich selbst als »europäische Doppelstadt«. Sein historischer Stadtkern am östlichen Ufer gehört seit dem Potsdamer Abkommen von 1945 zu Polen. Die wenigen Menschen, die in den Dörfern auf westlicher Seite nicht auf ihren durch hohe Mauern von der Straße getrennten Höfen sitzen, blicken misstrauisch den seltenen Besuchern hinterher. Ein Huhn hat sich verirrt und flattert verwirrt vor der Kirche herum. Trotz der tradierten Fremdenfeindlichkeit sind in den Städten entlang der Flussgrenze mit den Jahren familiäre, strukturelle und wirtschaftliche Geflechte entstanden, die in den Krisenstäben beider Länder schlichtweg ignoriert wurden. Das ist umso fataler, als es den rechten Strukturen auf deutscher Seite in die Karten spielt. Eine Menschenjagd durch die Gubener Innenstadt, die im Februar 1999 den algerischen Asylbewerber Farid Guendoul das Leben kostete, sorgte weltweit für Schlagzeilen. Heute fährt die rechtsextreme AfD hier Ergebnisse um die 30 Prozent ein. An der verwaisten Brücke, die Guben mit Gubin verbindet, wartet ein Kleinbus auf Passagiere: Arbeiterinnen und Arbeiter aus ähnlich abgehängten Orten in Polen auf dem Weg zu niedersächsischen Spargelfeldern oder Baustellen im Rheinland. Die müssen jetzt zu Fuß über die Brücke. Gegenüber erinnert eine »Traditionsstube« an die alte Heimat – drüben, auf der anderen Flussseite. Vaterland ist abgebrannt. Die nächste Stadt, Forst, wirkt vergleichsweise belebt. Vor dem Ortseingang äsen Lamas. Auch das ist Brandenburg: exotische Tiere in versandenden Landschaften, zwischen Industrieruinen und entleerten Dorfplätzen. An der Tankstelle werden wir Berliner mit unseren Mundschutzen verspottet. Auf der Heckscheibe eines VW Golfs prangt ein Aufkleber: »Ostdeutschland – natürliche Härte«. Darunter grinst der Sensenmann. Auch jenseits einschlägiger Nazikreise kokettieren die Leute gern mit ihrer krisentauglichen DDR-Prägung. Survival of the Toughest. Tatsächlich haben dreißig Jahre Armutsund Ausbeutungserfahrungen vielen eine Grundhärte abverlangt, auf die sich hier jedoch auch Einfamilienhausbesitzer mit eigenem Weinkeller gern berufen. Die Pandemie erscheint ihnen höchstens skurril. »Endlich drehen sich die Uhren so, wie wir es fühlen«, lese ich in der Timeline eines befreundeten Malers. Für den Rückweg nehmen wir die Autobahn. Eine Woche später verlassen wir abermals die Stadt, diesmal in Richtung Nordwest. Kein Feiertag. Nur normal Corona. Wir fahren in den Landkreis Ostprignitz-Ruppin, dessen Betreten uns an Ostern noch verboten war. Das Virus sollte ausgesperrt werden, doch ein Gericht hatte der Klage von Berlinern, die hier einen Zweitwohnsitz unterhalten, stattgegeben. Der Versuch totaler Abriegelung erscheint umso erstaunlicher, als die Region stark vom Tourismus abhängig ist. Kleinstädte wie Rheinsberg oder Neuruppin wurden den Berlinern schon durch Werke Theodor Fontanes oder Kurt Tucholskys ans Herz gelegt. Fast allein tuckern wir die sonst vielbefahrene Bundesstraße 96 entlang, die bis hoch auf die Ostseeinsel Rügen führt. Was vor allem fehlt: der übliche dichte Verkehr ins weiterhin abgesperrte Bundesland Mecklenburg-Vorpommern. Rehwild ist aus dem Wald herausgetreten, äst in der Sonne. Ein Stand mit Spargel, Produkt der Region, steht verwaist am Straßenrand. Für die Ernte wurden erst vor wenigen Tagen Tausende rumänischer Billiglöhner eingeflogen und in zu vollen Bussen auf die Betriebe verteilt. Schutzlos im Mehrbettzimmer. Drei Euro Stundenlohn und 14 Euro für das Kilo Spargel. Der Corona-Tod eines Arbeiters sorgte einen Tag lang für Schlagzeilen. Es ist ein altes Lied: Die Einheimischen stört der Ausflügler, den Ausflügler stören die Einheimischen. Mit Stadtflucht ist bis auf Weiteres Schluss. Mit dem Misstrauen nicht. Zwar hat die Gegend bei geschlossenen Häfen, Museen und Biergärten ihren Reiz für die Masse der Großstädter verloren, doch manche wollen sich den Waldspaziergang nicht nehmen lassen. Sie sind gewarnt. Es hat sich rumgesprochen, dass beflissene Brandenburger die Notrufleitungen nutzen, um das Auftauchen von Nicht-Einheimischen zu melden. Die über Kleingärten wehenden Reichskriegsflaggen werden sichtbarer. In Rheinsberg mit seinem berühmten Schlosspark am See ist selbst der Supermarktparkplatz leer. Eine rote Ampel wirkt wie ein Scherz. Am Hafen wird ein Hausboot ins Wasser gelassen, von der Polizei überwacht. Eine weitere Streife kommt gefahren, scheint auf uns zuzuhalten. Wissen die noch nichts vom Gerichtsurteil? Dann aber tönt es aus dem Lautsprecher des Streifenwagens: »Andi, is dit Bier kalt?« Ironischer Gruß an den Reeder. Fahrgastschiffe bleiben angeleint. In der geöffneten Fischräucherei bammeln kinderarmdicke Aale. Unangerührt. Eine Spaziergängerin erzählt uns von einer Gruppe junger Bolivianer: »Die sollten hier auftreten und sind nun gestrandet. Dauerproben in der Musikakademie.« Über Twitter verbreitet sich die neueste Forderung der AfD: »Keine Coronatests für Flüchtlinge!« Das alte »Deutsche zuerst« gehört eben zum Grundrepertoire. Im Radio erklären die Ärzte ohne Grenzen zur katastrophischen Situation im Camp Moria: »Wir müssen mit dem Schlimmsten rechnen.« Die Lokalzeitung weiß davon wenig zu berichten, wohl aber von aktuellen Skandalen: »An Ostern zwei Lämmchen geköpft!« »Mutwillig Ortsschilder vertauscht!« »Werkstatt entglast – Vandalismus!« Kindheit auf dem Lande. Am Straßenrand werden Ausflugsziele beworben....


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