E-Book, Deutsch, Band 1371, 265 Seiten
Reihe: Aufbau Taschenbücher
Historischer Kriminalroman
E-Book, Deutsch, Band 1371, 265 Seiten
Reihe: Aufbau Taschenbücher
ISBN: 978-3-8412-1769-1
Verlag: Aufbau Verlage GmbH
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Jeremy Potter (1922-1997) war Autor zahlreicher Bücher zu verschiedenen Themen der englischen Geschichte sowie Kriminalromanen mit historischem Hintergrund. Zudem war er 18 Jahre lang Vorsitzender der Richard III Society. Privat war er mit der Schriftstellerin Anne Melville verheiratet.
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Teil I
Die Abtei
1
»Ihr sprecht von Hochverrat«, sagte der Abt. »Nicht doch«, erwiderte der Kanzler. Er hatte ein grobes Gesicht mit einer Eberschnauze. Sie waren Feinde von altersher, und der Abt zog es vor, den Widerspruch zu überhören. »Hochverrat«, wiederholte er. »Ihr würdet mich an den Galgen hängen und lebendig wieder abnehmen lassen. Dann würdet Ihr mir die Eingeweide herausreißen und vor meinen sehenden Augen verbrennen lassen. Ihr würdet Stücke meines nackten Fleisches öffentlich zur Schau stellen.« Er sprach gelassen und ohne erkennbaren Vorwurf. »Da sei Gott vor!« Der Kanzler bleckte seine schwärzlichen Zahnstümpfe in einem Judaslächeln. »So geschah es unserem Bruder in Gott, dem Prior Houghton vom Kartäuserkloster in London.« »Der Prior suchte den Märtyrertod. Ihr, Lord Abt, seid zu klug dafür.« Provokation und Schmeichelei; Anstachelung zum Hochverrat. Der Abt seufzte. Als er von einer Reise nach London in kirchlichen und staatlichen Angelegenheiten nach Hause zurückkehrte, erwarteten ihn zwei unwillkommene Besucher, die seinen wohlverdienten Frieden störten: John Rayne, der Kanzler und Generalvikar der Diözese Lincoln, und Robert Aske, ein dreister junger Anwalt aus dem Norden. Sein Zuhause war Croyland. Fünfzehnhundertundsechsunddreißig Jahre waren vergangen, seit Gott Seinen einzigen Sohn in die Welt gesandt hatte, um die ganze Menschheit von ihren Sünden zu erlösen, und seit mehr als achthundert Jahren hatte die Abtei im Marschland im Dienste Seiner Sache in einer immer sündigeren Welt gestanden. John Wells’ Herrschaft als Abt dauerte zwar erst bloße vierundzwanzig von diesen Jahren, aber das Gewicht der Jahrhunderte lastete auf seinen Schultern. Wenn es Schultern in diesen gefährlichen Zeiten zu tragen vermochten, dann die seinen. Sie waren breit und aufrecht. Inzwischen über sechzig, war er immer noch groß und von frischer Gesichtsfarbe und besaß die Haltung eines Edelmanns. Gutaussehend, ruhig und weltlich. Mit diesen Worten konnte man auch sein Empfangszimmer beschreiben, in dem er mit seinen Gästen und dem Prior saß. Die Eichenbalken der Decke stammten aus dem Forst von Rockingham. Farbenfrohe Wandbehänge mit ländlichen Szenen, in Flandern gewebt, schützten vor Zugluft. Ein Erkerfenster wies das moderne Wunder wirklich durchsichtigen Glases auf. Das Feuer, das sie wärmte, brannte in einem neuen Kamin, und der war aus dem besten Stein in christlichen Landen – ein Geschenk der Abtei König William des Eroberers in Caen. Äbte waren nicht wie gewöhnliche Mönche. Davon zeugte schon das mit Pelz verbrämte Samtgewand. Sie hatten einen Fuß in jeder der beiden Welten. Ihre Wohnräume lagen außerhalb des umschlossenen Klosterbezirks. Hier in Croyland grenzten sie an die Südmauer der Abteikirche, aber sie wandten der Abgeschiedenheit der Kreuzgänge den Rücken zu und öffneten sich lieber dem geschäftigen Treiben des äußeren Hofes. In diesen Räumen beherbergten die Äbte auch die vornehmen Reisenden, die ihre Gastfreundschaft suchten. Niemand kehrte in einem Wirtshaus ein, wenn er in einer Abtei Unterkunft finden konnte. In einer Abtei war das Essen besser, die Betten waren weicher, und man bezahlte nur, wenn man wollte. Reisende galten wie Kranke als Notleidende, und man erwies ihnen die gebührende Barmherzigkeit. Selbst Königen hatte es gefallen, in Croyland Quartier zu nehmen: Angefangen von Ethelbald von Mercia im achten Jahrhundert über den frommen Henry von Lancaster bis zu dem alles andere als frommen Edward von York in jüngeren Zeiten. König Henry war in der Fastenzeit gekommen, um zu fasten und zu beten. Er hatte verkündet, er würde am liebsten die Kutte nehmen und seine restlichen Tage als einer der Brüder im Kloster verbringen. Edward hatte sich über die Kälte beklagt und schändlicherweise verlangt, die hübsche Tochter des Torwächters solle ihn im Bett warmhalten. Bei seiner Abreise schenkte er der Abtei ein Goldstück und dem Torwächter eine Handvoll davon. Als Eintrittsgeld, wie er sagte. Hier herrschten die Äbte auch über ein Besitztum, das es mit dem eines jeden weltlichen Lords aufnehmen konnte. Sie sorgten für die Erziehung der Söhne des Landadels der ganzen Umgebung, die ihrer Obhut anvertraut wurden, damit sie Lesen und Schreiben, geziemendes Benehmen und gewandte Umgangsformen lernten. Hier wurden die Geschäfte der Abtei abgewickelt, die Verwaltung ihrer Güter geregelt und ihre Bilanzen aufgestellt. Hierher kamen Leute in Zeiten des Krieges und der Pest und der Unsicherheit, um ihre kostbarsten Besitztümer in den sicheren Gewahrsam eines Hauses Gottes zu geben. Oft waren die Zeiten so unsicher, dass sie niemals zurückkehrten, um sie wieder abzuholen. Wenn der Abt durch das Glas seines Fensters hinausschaute, konnte er den ständigen Regen fallen sehen. Feuchte zu Feuchte. Die Gegend war so mit Wasser gesättigt, dass die Leute sie Holland nannten. Der Name Croyland selbst bedeutete so viel wie »schlammiger Boden«. Als der heilige Guthlac ihn vor so langer Zeit als Ort für seine Einsiedlerzelle ausgesucht hatte, war er noch eine unbewohnte Insel. Selbst jetzt, da die Abtei auf dem Höhepunkt ihrer Macht und ihres Ruhmes stand, schien er noch immer Gottes besonderes Missfallen auf sich zu ziehen. Der vorige Sommer war der sonnenloseste seit Menschengedenken gewesen und der Winter so hart wie die Nachrichten, die er aus London mitbrachte. Endlich war es Mai geworden, aber das Februarwetter hatte noch nicht aufgehört. Vielleicht hatte Gott beschlossen, sich von ganz England abzuwenden. Konnte man es Ihm verdenken, so wie sich der König aufführte? Was man auch von Kardinal-Erzbischof Wolsey halten mochte, er hatte die Angelegenheiten des Landes gut besorgt, während der König sich seinen Vergnügungen hingab. Nun war er in Ungnade gefallen und gestorben, und ein emporgekommener Kaufmann war zum Lenker des Staatswesens bestellt worden. Der König hatte sich zum Oberhaupt der Kirche von England erklärt und hatte Thomas Cromwell zu seinem Generalvikar ernannt. Das war der Mann, der den Vorsitz bei der Synode führte, die der Abt in London besucht hatte. Schon allein die Anwesenheit eines niedriggeborenen Laien war eine Beleidigung, und sie hatten scharfe Worte gewechselt wegen des Gesetzes über die Auflösung der kleineren Klöster. Im Laufe der Sommermonate sollten diese Häuser Gottes geschlossen, ihre Besitzungen eingezogen, ihre Gebäude abgerissen und ihre Mönche vertrieben werden. Der König war ein Verschwender. Selbst die Münzverschlechterung hatte ihn nicht gerettet. Er brauchte Geld, und die religiösen Häuser besaßen es. Das war der Kern der Sache, und Master Cromwell war die Made im Kern. Er war über alle kirchlichen Würdenträger des Reiches erhoben worden, damit er sie ausplündern konnte. Er warf seine gierigen Blicke auf die klösterlichen Ländereien und auf die edelsteinbesetzten Schreine ihrer Heiligen. Der Abt unterdrückte mit Mühe ein Fluchwort. Croyland war sicher – einstweilen. Zu Weihnachten hatte Cromwell einen Beauftragten mit den Vollmachten eines königlichen Kommissars entsandt, aber der Abt hatte ihn bezwungen. Nun kam noch der Streit in London hinzu. Mit größerem Ärger war zu rechnen gewesen, aber er hatte nicht vorausgesehen, dass er so schnell kommen würde und in der aufgedunsenen Gestalt von Kanzler Rayne. Mit gewohnter Schläue hatte Cromwell einen Feind aus den eigenen Reihen gewählt. Die klaren blauen Augen des Abts wanderten vom Fenster zum Kamin. Darüber hing das Schwert des heiligen Guthlac. Früher war es eine verehrte Reliquie in der Kirche gewesen, nun war es ins Empfangszimmer verwiesen worden. Er hatte nicht umhinkönnen, die unzweifelhaft normannische Ziselierung auf der Klinge zu bemerken, die sich nicht mit der Tatsache vereinbaren ließ, dass der Gründerheilige ein Angelsachse und einige Jahrhunderte vor der normannischen Eroberung gestorben war. Dennoch tröstete ihn der Anblick des Schwertes. »Ihr nennt mich klug«, sagte er, »aber heutzutage ist Klugheit vielleicht nicht genug.« »Ist das der Grund, weshalb Ihr das Schwert des Heiligen so blank haltet?« Der Kanzler hatte ihn beobachtet, mit der gleichen Geduld, mit der ein Jäger darauf wartet, dass sein Wild eine falsche Bewegung macht. »Und scharf auch«, erwiderte der Abt ruhig. »Dafür sorgt mein Leibdiener Gervase.« »Ihr würdet es aber wohl kaum gebrauchen«, vermutete der Kanzler weniger ruhig. »Wir sind Männer des Friedens – davon gehe ich wenigstens aus. Das ist unser Beruf.« »Ich bin nicht gekommen, Frieden zu senden, sondern das Schwert«, sagte der Abt. »Matthäus zehn, Vers vierunddreißig. Wer aber kein Schwert hat, der kaufe eins. Lukas zweiundzwanzig, Vers sechsunddreißig. Dies sind die Worte unseres Herrn.« »Dann seid Ihr ein Krieger und werdet nicht zögern, das zu tun, worum wir Euch in Christi Namen bitten.« Diesmal hatte der junge Mann gesprochen. Sein Gesicht war gerötet, die Haut spannte sich über den Wangenknochen. Er hatte nur ein Auge, das andere Lid deckte die Blindheit einer leeren Augenhöhle. Aber ein Auge genügte, den Abt das Feuer darin erkennen zu lassen. »Einen rechtmäßigen König zu suchen kann kein Verrat sein«, fuhr der junge Mann fort. Seine Stimme zitterte von der Leidenschaft eines Fanatikers. Ein gefährlicher Verbündeter, dachte der Abt. Eine Gefahr für sich selbst und für andere. »Wer außer Gott kann die Rechtmäßigkeit von Königen beurteilen?«...