Popovic / Popovic | Mondmeridian | E-Book | sack.de
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E-Book, Deutsch, 256 Seiten

Popovic / Popovic Mondmeridian

Roman
1. Auflage 2022
ISBN: 978-3-641-22228-4
Verlag: btb
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark

Roman

E-Book, Deutsch, 256 Seiten

ISBN: 978-3-641-22228-4
Verlag: btb
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark



Die Erde ist in Aufruhr: Mirko Graf fährt mit dem Zug nach Zagreb, in eine Stadt, die überfüllt ist mit Obdachlosen und Bettlern, Hungrigen und Arbeitslosen. Gut geht es nur den Angepassten und den Reichen. Mirkos Organisation ist auf der Suche nach den »Vergessenen«, Menschen, die angeblich in einem verborgenen Paradies irgendwo in Mitteleuropa leben. In diesem »Paradies« wiederum geht das Gerücht von den »Vergifteten« um, Menschen, die ihre Umwelt völlig zerstört haben. Leben sie alle mit einer Lüge? Kann es ein freies Leben geben?

Edo Popovi?, geb. 1957, lebt in Zagreb. Er war Mitbegründer einer der einflussreichsten Underground-Literaturzeitschriften des ehemaligen Jugoslawiens. 1991 bis 1995 arbeitete er als Kriegsberichterstatter, dessen unideologische Reportagen ebenso angesehen wie gefürchtet wurden. Sein erster Roman »Mitternachtsboogie« avancierte zum Kultbuch seiner Generation. Mit den folgenden Romanen, u.a. »Der Aufstand der Ungenießbaren«, »Ausfahrt Zagreb-Süd« und »Stalins Birne«, seinen Erzählbänden und seinem Essay »Anleitung zum Gehen« wurde Popovi? zu einem der aufregendsten osteuropäischen Erzähler.
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Züge sind unsere zweite Haut. Während wir reisen, streifen wir sie über und wieder ab. Jemand, der in einen Zug steigt, ist nicht mehr derselbe, wenn er aussteigt, und wie könnte es auch anders sein. Ob wir zur Arbeit fahren, in den Urlaub, Freunde besuchen, wohin auch immer wir fahren, wir ändern uns. Dagegen kann man nichts machen. Das ist wie das Atmen, wie das Schlüpfen eines Schmetterlings, wie der Anak Krakatau, wie der Lauf der Sterne und der Sternbilder und all jene anderen zerbrechlichen, unsteten Dinge. Und dann sagt man, dass der Mensch heute den Schlüssel zum Leben in seinen Händen hält, zu grauen Haaren, zum Tod, dass die Märchen vom Jungbrunnen und dem ewigen Leben Wirklichkeit geworden sind, all diese Themen, die die Verrückten aus den Genetiklaboren laut hinausposaunen. Unsere überlegene Technologie, so sagen sie, und unsere Produkte werden euch die ewige Jugend schenken.

Dass ich nicht lache!

Ich bin der Meinung, dass wir nicht hier sind, um ewig da zu sein, sondern um ein wenig Spaß zu haben und dann abzutreten, um für andere Platz zu machen. Was für ein Gedränge würde hier herrschen, wenn die Menschen nicht sterben würden. Es wäre überfüllt wie in der Straßenbahn zur Hauptverkehrszeit, wir würden uns bis in alle Ewigkeit aneinander reiben und uns gegenseitig ins Gesicht pusten. Auch so treten wir uns schon gegenseitig auf die Füße und steigen übereinander hinweg, statt uns miteinander anzufreunden und das uns geschenkte Leben zu genießen, und wie würde es erst aussehen, wenn wir unsterblich wären? Wer würde sich ein solches Leben wünschen, wer wäre gern ein vakuumverpackter Tintenfisch? Nicht einmal die Berge sind ewig, ich habe zum Beispiel gestern gelesen, dass in Südtirol ein Felsen abgegangen ist. Tausende Tonnen stürzten ins Tal, es wird Tage dauern, bis sich der Staub gelegt hat. Es gab auch Tote. Wo sind jetzt die Herrscher über Leben und Tod, warum beleben sie die Toten nicht wieder, warum reparieren sie den Felsen nicht? Die Geschichten über die Unsterblichkeit betreffen letztlich – sollten sie überhaupt der Wahrheit entsprechen, was ich bezweifele – nur diejenigen, die über einen Haufen Geld verfügen. Nur sie können sich so etwas wie die Ewigkeit leisten, medizinische Versorgung, drei Mahlzeiten am Tag, zusammengesetzt aus gesunden Nahrungsmitteln, und ähnliche Extravaganzen. Von denen ganz zu schweigen, die sich, wenn ihr Herz, ihre Leber oder ein anderes Organ versagen, einfach Ersatz kaufen können von jemandem, der gerade gestorben ist, weil er nicht genügend Geld hatte, um sich zu kaufen, was bei ihm versagt hat. Und was dem Ganzen die Krone aufsetzt, diese Klugscheißer versuchen jetzt, kopflose Klone zu produzieren, die denen, die es sich leisten können, als Reserve dienen. Die dann in einer Speisekammer oder einem Kühlraum, was weiß ich, hängen und darauf warten, dass bei dem Typen irgendwas kaputtgeht. Widerlich. Als wären wir, sagen wir mal, ein Gerät, das sich aus verschiedenen Teilen zusammensetzt, und nicht ein kleines Universum, das seinen eigenen Platz im unendlichen Universum hat, zusammen mit den Tieren, den Pflanzen, den Mineralien, den Wolken, den Gewässern, den Kometen und Sternen, so wie es Leute formuliert haben, die klüger sind als ich. Einige Menschen wissen einfach nicht, wann sie abtreten sollen. Sie verstehen nicht, dass der Tod nicht das Ende des Lebens ist und dass die Geburt nicht das Ende des Todes bedeutet, sondern dass das Leben Leben und der Tod Tod ist, so wie auch der Frühling nicht der Tod des Winters und der Sommer nicht der Tod des Frühlings ist, und dass der, der zu leben versteht, auch weiß, wie man stirbt, denn Leben und Tod gehören zusammen, so war es schon immer.

Mal ganz im Ernst, wer würde sich wünschen, diese Scheiße um uns herum ewig ertragen zu müssen? Ich jedenfalls nicht. Zum Glück habe ich weder das Geld noch die Nerven dazu. Ich habe kaum genug für eine Rückfahrkarte, selbst so eine Zugfahrt ist für Menschen wie mich keine Bagatelle, sondern eine richtige Investition. Ich fahre zum UNKRAUT-Treffen. Ich bin völlig allein in einem Großraumwaggon und lese ein Interview in einer Zeitschrift, die ich auf dem Sitz gefunden habe.

Warum glauben wir, dass der Mensch die Erde und das Leben darauf vorangebracht hat? Genau das Gegenteil ist der Fall, der Mensch ist eine todbringende Bakterie, die Erde würde ohne ihn viel besser funktionieren. Während er in zehntausend Jahren den Weg vom Ackerbauern zum Biotechnologen zurückgelegt hat, zerstörte der Mensch über hunderttausend Tier- und Pflanzenarten. Das ist die schlechte Nachricht. Die gute Nachricht ist, dass die Evolution, indem sie dem Menschen Sprache, Schrift, Werkzeuge und Technologien gegeben hat, die sich am Ende gegen die Menschheit richten werden, sich als ein intelligenter Prozess erweist, den die Erde in Gang gesetzt hat, um den Menschen loszuwerden. Die Evolution ist zugleich der Triumph und der Untergang der menschlichen Gattung.

Der Zug rast durch das breite Tal. Der Morgen ist schon vorangeschritten. An der Bahnstrecke stehen Wildrosenbüsche voller rosaroter Blüten und verrostete Güterwaggons. An einigen Stellen hat Ackerwinde den Drahtzaun verschluckt. Dann der Fluss, das Wasser wirbelt sanft um die grünen und roten Bojen. Das Wasser. Unser tägliches Wasser. Das Wasser des Ozeans, der uns erschaffen hat, aus dem wir gekommen sind, das Wasser in den Kammern unter der gespannten Haut des Bauches, in dem die Föten keimen. Aus Wasser kommen wir, Wasser sind wir und zu Wasser werden wir. Zu Regen, zu Wildwassern, die sich im Frühjahr durch Spalten ins Tal stürzen, zu eisigen, klaren Bächen in ihren Betten aus strahlend weißen Kieselsteinen. Zu Wasser in Steinbecken, an denen Hornvipern durstigen Vögeln auflauern. Es kommt mir in den Sinn, dass Züge der Haut einer Schlange ähneln. Das Gleis entfernt sich vom Fluss. Der Wind kämmt die Kronen der Trauerweiden und Pappeln, durch die man das Wasser erahnt. Das Wasser kräuselt sich und schillert, dann verschwindet es aus meinem Blick.

Ich spüre ein Kribbeln in den Beinen. Ich stehe auf, mache einige Kniebeugen und gehe in das Zugrestaurant. Nur zwei Fahrgäste, jeder an seinem Tisch an den entgegengesetzten Seiten des Waggons, damit sie bloß nicht der Versuchung erliegen, ein Gespräch zu beginnen und sich näherzukommen. Die Frau ist in ihren Laptop vertieft, der Mann starrt auf sein Handy. Aus den Lautsprechern, die in der Decke des Waggons versteckt sind, tröpfelt Musik, eine Schnulze, irgendein Typ jammert, er sei müde, müde, müde – müde davon, seinen Träumen hinterherzurennen, so sagt er.

Kaum ist er geboren, schon ist er müde.

Nicht von schwerer Arbeit,

nicht von der Suche nach Arbeit,

nicht vom Mangel an Geld,

oder von den schlaflosen Nächten voller Sex und Alkohol,

sondern davon, dass er seinen Träumen hinterherrennt.

Was für ein Mist.

Ich stehe an der halbrunden Theke. Der Kellner ist in einen Vorratsraum verschwunden, ich höre ihn dort herumrascheln. Es dauert eine Zeitlang, bis er sich zu mir schleppt und ich eine Tasse heißes Wasser bestellen kann.

»Nein danke«, sage ich, »ich möchte keinen Teebeutel, nur das heiße Wasser.«

»Ich werde Ihnen trotzdem den Tee berechnen müssen«, sagt er.

»Ich weiß«, sage ich, »aber ich will keinen gentechnischen Scheiß trinken, in den man wahrscheinlich Rattengene oder was Ähnliches eingebaut hat, um das Wachstum zu beschleunigen, so dass man jede Woche Tee ernten kann.«

Er sagt, dass sie auch Tee aus biologischem Anbau anbieten. Ich antworte, dass es eine Sache sei, was auf der Tüte stehe, und eine ganz andere, was wirklich drin sei. Der Kellner lächelt säuerlich. Hundertpro denkt er, dass er nicht dafür bezahlt wird, irgendwelchen Idioten zuzuhören, die ihm blödsinnige Lektionen erteilen. Er denkt bestimmt, dass ich mich mitsamt dem beschissenen Tee zum Teufel scheren soll.

Ich gehe zurück zu meinem Platz und werfe eine Mischung aus Bergkraut, Minze und Schafgarbe in das heiße Wasser. Das Wasser verfärbt sich blassgrün. Der Zug fährt durch eine Ebene mit wogenden Feldern. Am Horizont ein Windpark. Am tiefhängenden Himmel ziehen sich schmutzig graue Wolken zusammen.

Ich trinke den Tee und denke über das Treffen nach, zu dem ich fahre. Die Kommune UNKRAUT wurde vor fast dreißig Jahren gegründet, zu der Zeit, als die großen Konzerne ein Auge auf das Wasser geworfen hatten. Lange Zeit haben wir damals Lärm geschlagen, die Menschen aufgerüttelt, die abgezäunten Quellen und Abfüllanlagen besetzt. Alles vergeblich. Das Wasser wurde den Menschen geraubt. Erde und Luft wurden ihnen schon viel früher genommen.

Und dennoch kann man die Aktivitäten unserer Kommune nicht als völlig verfehlt betrachten. Wir glaubten, es sei wichtig zu tun, was wir für richtig hielten, ohne uns darum zu scheren, ob wir erfolgreich waren oder nicht. Erfolg kann sowieso nicht garantiert werden und ist deshalb im Grunde unwichtig. Die Schönheit des Tuns liegt schließlich nicht im Ergebnis, sondern im Tun selbst. Vom Kampfgeist der Kommune ist nicht viel übrig geblieben, heute beschäftigen wir uns vorwiegend mit publizistischer Arbeit und mit biodynamischer Landwirtschaft. Das Treffen, zu dem ich fahre, wurde einberufen, weil wieder eine Nachricht über die Vergessenen eingetroffen ist. Das sind Menschen, die angeblich in einem vergessenen Paradies irgendwo in Mitteleuropa leben, sie trinken Wasser aus Bächen, sie beackern nicht die Erde, sondern ernähren sich von wilden Früchten und Tieren. Mir stinkt die Geschichte, natürlich stinkt sie mir, die Menschen haben ihre Nase schon längst in die...


Popovic, Edo
Edo Popovic, geb. 1957, lebt in Zagreb. Er war Mitbegründer einer der einflussreichsten Underground-Literaturzeitschriften des ehemaligen Jugoslawiens. 1991 bis 1995 arbeitete er als Kriegsberichterstatter, dessen unideologische Reportagen ebenso angesehen wie gefürchtet wurden. Sein erster Roman »Mitternachtsboogie« avancierte zum Kultbuch seiner Generation. Mit den folgenden Romanen, u.a. »Der Aufstand der Ungenießbaren«, »Ausfahrt Zagreb-Süd« und »Stalins Birne«, seinen Erzählbänden und seinem Essay »Anleitung zum Gehen« wurde Popovic zu einem der aufregendsten osteuropäischen Erzähler.



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