Popovic / Popovic Anleitung zum Gehen
1. Auflage 2015
ISBN: 978-3-641-15558-2
Verlag: Luchterhand Verlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
E-Book, Deutsch, 176 Seiten
ISBN: 978-3-641-15558-2
Verlag: Luchterhand Verlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
»Beim Gehen werden wir die eigenen Schritte hören und auch den eigenen Atem und das eigene Herz, und wenn wir uns vollständig entspannen, werden wir auch unsere eigenen Gedanken hören.« In seinem poetisch-philosophischen Essay »Anleitung zum Gehen« versammelt Edo Popovic´ alles, was er in fünfzig Jahren an Weisheit über die Menschheit und ihr oft selbstzerstörerisches Wesen zusammengetragen hat. Über uns, die wir uns benehmen wie Hamster im Laufrad. Die wir rennen, so lange wir Kraft haben, um irgendwann einfach zu erlöschen. Wir sind in Eile. Und wir beschleunigen ständig. Wer nicht beschleunigt, ist verdächtig.
Edo Popovic beschreibt diesen ständigen Drang zur Selbstoptimierung als einen Hunger, der uns verunstaltet, uns in Automaten zum Verdienen und Verbrauchen verwandelt hat. Von diesem Hunger befreien seine klugen, erfahrungsreichen Texte. Und sie lehren uns: Das, was wir tatsächlich brauchen, wird nicht beworben, es findet sich nicht in Schaufenstern und ist nicht mit Geld zu kaufen.
Edo Popovi?, geb. 1957, lebt in Zagreb. Er war Mitbegründer einer der einflussreichsten Underground-Literaturzeitschriften des ehemaligen Jugoslawiens. 1991 bis 1995 arbeitete er als Kriegsberichterstatter, dessen unideologische Reportagen ebenso angesehen wie gefürchtet wurden. Sein erster Roman »Mitternachtsboogie« avancierte zum Kultbuch seiner Generation. Mit den folgenden Romanen, u.a. »Der Aufstand der Ungenießbaren«, »Ausfahrt Zagreb-Süd« und »Stalins Birne«, seinen Erzählbänden und seinem Essay »Anleitung zum Gehen« wurde Popovi? zu einem der aufregendsten osteuropäischen Erzähler.
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Beschleunigung
Wir sind in Eile. Und wir beschleunigen ständig. Das ist ein gesellschaftlich erwünschtes Verhalten. Wer nicht beschleunigt, ist verdächtig. Unproduktiv. Ein Parasit.
Die Beschleunigung existiert nicht erst seit gestern, sie wirkt seit 15 Milliarden Jahren. Die Evolution ist eine Geschichte der Beschleunigung – vom Urknall und den ersten Wasserstoff- und Heliumatomen, von den ersten thermonuklearen Explosionen der Sterne, die im Weltall neue Elemente und die ersten Galaxien ausspuckten, bis hin zu schnellen Bakterien, Geparden, bis zu Kimi Räikkönen und den Überschallflugzeugen.
Um was für eine Beschleunigung es sich handelt, können Sie sehr einfach erkennen – besuchen Sie eine Videothek und leihen Sie sich zwei James Bond-Filme aus. Dr. No von 1962 mit Sean Connery in der Hauptrolle und Casino Royale von 2006 mit Daniel Craig als Agent 007, zum Beispiel. Schauen Sie sich beide Filme genau an. In Casino Royale hat Bond es so eilig, das Ende des Films zu erreichen, dass er nicht einmal Zeit dafür hat, in Ruhe seinen trockenen Martini zu trinken. Shaken, not stirred. Die Szenen wechseln schnell, allein durch Augenzwinkern versäumt man so viele, dass man am Ende überhaupt nicht begreift, worum es geht.
Falls es dabei überhaupt um irgendetwas geht.
In der Natur ändern sich die Dinge mehr oder weniger schnell, alle Wesen haben ihren eigenen Rhythmus, und niemand hat es besonders eilig. Die Natur ist entspannt. Wann habt ihr je ein Tier in nervöser Eile und im Stress gesehen? Die Wesen der Natur beschleunigen ihren Bewegungsrhythmus nur in Extremsituationen, wenn sie jagen, wenn sie in Gefahr sind oder wenn sie durchdrehen.
Der Mensch ist ständig auf der Jagd oder in Gefahr oder dabei, durchzudrehen.
Der Mond, verwandelt in einen Hasen auf einem Waldweg in Lomska Duliba.
Das Leben und die Bedürfnisse des Hasen, den ich Ende Mai 2007 in Lomska Duliba auf dem Berg Velebit getroffen habe, haben sich seit der Zeit des Gebeugten nicht verändert. Er stand in der Kurve eines Waldweges, nur zwanzig Meter von mir entfernt, unbeeindruckt von dem Geräusch meines Autos, ohne jede Absicht zu fliehen.
Woher kommst du so früh, Freundchen? Der Hase ist ein Wesen der Nacht. Er sucht des Nachts nach Nahrung und Gesellschaft – die alten Kulturen zeigen ihn als einen geheimnisvollen Gefährten des Mondes, er taucht auf und verschwindet leise wie ein Schatten, auch der Mond selbst verwandelt sich manchmal in einen Hasen – wahrscheinlich hat eine ernsthafte Not ihn heute Morgen aus seinem Bau vertrieben. Der Hase weiß, wann er beschleunigen muss, wann er gelassen herumhüpfen und wann er sich ausruhen kann; wenn er das nicht wissen würde, wäre er an diesem Morgen nicht hier gewesen. Er schätzte die Situation offenbar als ungefährlich ein. Darum blieb er ruhig, hielt seine Ohren aber in Habtachtstellung.
Ich stellte den Motor ab und stieg aus. Der Hase bewegte sich nicht. Er blieb hocken in seinem eine Million Jahre alten Pelz, mit seinen eine Million Jahre alten Gewohnheiten und Bedürfnissen. Auf der anderen Seite stand ich. Dank der Sprache, der Schrift, der tausendjährigen Ansammlung von Erfahrungen, Wissen, Informationen und anderem Kleinkram stand ich nicht in einem uralten Pelz da, sondern in einer einige Jahre alten Windjacke, in geflickten Jeans und Wanderschuhen, mit einer Digitalkamera mit 10 Megapixel in der Hand, mit Bedürfnissen und Gewohnheiten, die sich von Jahr zu Jahr ändern, und zwar immer schneller. Als ich uns so betrachtete, war ich nicht sicher, wer von uns beiden auf dem langen Marsch namens Evolution das bessere Los gezogen hat.
Ein anderes Tier hatte es eilig, wahrscheinlich ein Bär auf der Flucht vor unseren Stimmen, der alles vor sich niederwalzte im Dickicht des nördlichen Velebit, unweit der Stelle, an der ein Abzweig vom Premužic-Wanderweg nach Gromovaca führt. Mein Kollege Gordan Nuhanovic und ich standen dort an diesem spätsommerlichen Morgen und lauschten dem Lärm aus der tiefen Talmulde, die mit Bergkiefern und Buchen bewachsen war. Wir sahen nichts, und ehrlich gesagt waren wir auch nicht von dem Wunsch getrieben zu erfahren, wer da unten so einen Lärm machte. Im Gegenteil, wir setzten mit hastigen Schritten unseren Weg nach Süden in Richtung des Veliki Alan-Passes fort.
Oder etwa jenes Veilchen, das in einer Felsspalte auf dem Cepuraši wuchs. Der Felsen, 60 Millionen Jahre alt, und die Pflanze, einen Monat alt. Der Felsen, der Dutzende Millionen Jahre dafür benötigte, um auf eine Höhe von über 1500 Meter über dem Meeresspiegel anzuwachsen und der immer noch nach oben strebt, und die Pflanze, die ihren Zyklus in einigen Monaten absolviert. Man sagt, dass wir dort, wo das Ewige dem Vergänglichen begegnet, den verborgenen Sinn des Lebens erkennen. Haben wir jedoch die Zeit, in solchen Momenten innezuhalten und über das, was wir sehen, nachzudenken?
Wir sind im Zustand einer ständig beschleunigenden Besorgnis. Die Situation ist absurd – je perfekter die Technologie, desto mehr arbeiten wir, unsere Verpflichtungen häufen sich, Fristen verkürzen sich. Wir verlieren den Verstand. In Eile hasten wir aneinander vorbei, tauschen Grimassen und zerfetzte Phrasen aus und verabschieden uns, ohne uns umzudrehen. Die Gelegenheiten für Treffen, für ruhige Gespräche, für gemeinsames Kaffeetrinken, die wir versäumt haben, werden nicht wiederkommen. Der morgige Tag ist nicht die Reprise des heutigen Tages.
Wie oft hat euch ein Freund gesagt, dass er euch nicht zu einem Ausflug begleiten kann, nicht mit euch trinken oder ins Kino gehen kann, weil er keine Zeit habe. Keine Zeit haben! Wer steuert unsere Zeit?
Der Zen-Lehrer Kodo Sawaki hat in einer Rede lakonisch festgestellt: »Wenn du sagst, dass du keine Zeit hast, bedeutet das, dass du dich von etwas Äußerem versklaven lässt.«3
Im Wesentlichen benehmen wir uns wie Hamster im Laufrad. Wir rennen, solange wir Kraft haben, und am Ende erlöschen wir einfach. Unser ewiger Wunsch, anderswo zu sein und etwas anderes zu tun und eben das so schnell wie möglich zu erreichen, treibt uns zum ständigen Herausfahren aus unserer eigenen Haut. Da unsere Möglichkeiten begrenzt sind, der Wunsch aber stark, benötigen wir Hilfsmittel.
Wenn wir uns einmal mit Freunden zum Kaffee treffen, verwandelt sich unser Beisammensein sehr schnell in ein Gespräch mit denjenigen, die gar nicht am Tisch sitzen.
Wir, die hier sind, nehmen einander kaum wahr, es fällt uns schwer, uns auf das, was die anderen erzählen, zu konzentrieren. Unsere Handys lenken unsere Gespräche. Sie spulen ihre widerlichen synthetischen Melodien ab, piepsen, schnattern, zischeln, vibrieren und blinken, und wir reagieren und tauschen Botschaften mit Abwesenden aus. Mit denen, die am Tisch anwesend sind, werden wir uns unterhalten, wenn wir auseinandergegangen sind, wir haben ja unsere Handys.
Oder das Auto. Theoretisch ist es als Mittel gedacht, mit dessen Hilfe wir eine Geschwindigkeit erreichen können, die die des Fußgängers bei Weitem übersteigt. Um schneller und einfacher Entfernungen zwischen zwei oder mehreren Punkten im Raum überbrücken zu können. Als ein Mittel, das unser Leben erleichtern soll. Doch in der Praxis sehen die Dinge anders aus. Wir benehmen uns auf der Straße nicht so, als würden wir uns am ganz gewöhnlichen Verkehr beteiligen und nur von Punkt A nach Punkt B fahren, sondern so, als würden wir an einem Rennen teilnehmen, von dem unser Leben abhängt und bei dem uns alle anderen als Gegner im Weg stehen. Wir fahren nicht hinter oder neben anderen, sondern liegen mit ihnen im Wettstreit. Wir versuchen, sie von der Straße zu drängen – wir wollen sie nicht überholen, sondern durch sie hindurchfahren, sie überfahren, aus dem Weg räumen. Wenn unser Auto größer, teurer und schneller ist, fühlt es sich an, als hätten wir mehr Rechte an dieser Straße, in diesem Leben.
Doch wie kann uns etwas das Leben erleichtern, das uns zu Schuldnern macht, uns, die wir für das Auto einen Kredit aufnehmen mussten?
Dieses Ding aus Eisen, Glas, Blech, Plastik, Gummi und Stoff hat uns zu Sklaven gemacht. Wir waschen und putzen es, tanken es voll, pflegen es, bangen um es, fahren zur Inspektion, stellen es in seinem eigenen Raum ab. Tun wir das Gleiche für uns selbst? Gehen wir regelmäßig zu den Vorsorgeuntersuchungen? Nehmen wir genug Vitamine und Mineralien zu uns? Besitzen wir einen gesonderten Raum, in dem wir schlafen, uns erholen, lesen und nachdenken können?
Wir finden dort, wo das Ewige dem Vergänglichen begegnet, den verborgenen Sinn des Lebens. (Cepuraši am nördlichen Velebit)
Wir haben es nicht nur eilig, wenn wir arbeiten. Wir eilen auch dann, wenn wir uns ausruhen.
Ich habe einmal zwei Damen aus Slowenien auf dem Velebit getroffen, Bergsteigerinnen, die schon auf vielen europäischen Gipfeln waren. Sie verbrachten zwei Nächte auf der Hütte. Morgens standen sie früh auf, wie es sich gehört, sie frühstückten, packten ihre Rucksäcke und zogen los. Sie kehrten am frühen Abend zurück, müde und zufrieden. Beim Abendessen berichteten sie, was sie an jenem Tag alles gesehen hatten, und prüften in ihrem Bergsteigerheft die Stempel der Gipfel, die sie erklommen hatten. Nach ihren Tagesrouten zu urteilen waren sie bei ausgezeichneter Kondition – das, was sie an einem Tag bewältigt hatten, schaffte ich in zwei oder drei Tagen. Während ich sie in ihrer Anspannung...