Buch, Deutsch, 200 Seiten, PB, Format (B × H): 165 mm x 230 mm
Porträt einer literarischen Epoche des Übergangs
Buch, Deutsch, 200 Seiten, PB, Format (B × H): 165 mm x 230 mm
ISBN: 978-3-85449-440-9
Verlag: Sonderzahl
In gewohnter Souveränität schüttet Polt-Heinzl in ihrem neuen Buch ein Füllhorn an detaillierten Informationen und spannenden Querverbindungen aus; die Generationengrenzen werden offen gehalten; scheinbar Selbstverständliches wird hinterfragt und Verlorengegangenes aufgespürt. Im Kapitel 'Technikdiskurse' etwa werden Innovationen wie die Elektrifizierung, das Automobil, die Mode des Sich-photographieren-Lassens oder die Herausforderung, die das Benützen von Aufzügen darstellt (Stichwort: Elevator Sickness), geschildert – die literarischen Werke werden dafür genauso herangezogen wie unmittelbar das Leben betreffende Quellen wie Briefe und Tagebucheinträge. Amüsant etwa, zu welchen Wortspielereien technische Neuerungen oft anregten: Marie von Ebner-Eschenbach verwendet 1909 die
Formulierung 'abgeautomobilt', Arthur Schnitzler schreibt 1923: 'Samstag autelten wir nach Südtirol.'
Mit Schnitzler und Ebner-Eschenbach sind auch die beiden wichtigsten Kronzeugen für Polt-Heinzls 'Porträt einer literarischen Epoche des Übergangs' genannt. Doch wie immer lässt Evelyne Polt-Heinzl nicht nur die Repräsentanten des Kanons zu Wort kommen, sondern Autoren und besonders Autorinnen, die im Lauf der Zeit aus der Literaturgeschichte geworfen wurden oder bestenfalls in Fußnoten abgedrängt worden sind. Aus bildungsbürgerlicher Sicht ist es wohl keine Schande, nichts von Marie Eugenie delle Grazie, Auguste Groner oder Helene von Druskowitz gelesen zu haben, ihr Kennenlernen erweitert indes allemal den Horizont.
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Ganz banal beginnt das Problem schreibender Frauen im 19. Jahrhundert bei der Kleidung. Eine Abbildung zeigt die noch relativ junge Marie von Ebner-Eschenbach am Schreibtisch, doch eigentlich sitzt sie nur daneben: der steif-gebauschte Rock der damaligen Damenmode passte einfach nicht unter die Tischplatte. So sitzt sie auf einem thronartigen Stuhl, rechts und links und vorne kragen die Weiten der Stofffalten in den Raum. In gekrümmter Haltung beugt sie sich über ein Schreibbrett, das sie mit der linken Hand festhält, in der rechten Hand den Federkiel. Wo Tintenfass und Löschsand gelagert sind, ist aus diesem Bild nicht ersichtlich. Von Bandscheibenvorfällen in der Halswirbelsäule ist nichts überliefert, sehr wohl aber von permanenten Kopfschmerzen als Folge der vorgebeugten Haltung. Davon berichtet Ebner-Eschenbach fortwährend – ohne eine kausale Verbindung zu ihrer Schreibhaltung herzustellen. Auch andere Autorinnen wie Annette von Droste-Hülshoff haben darunter gelitten.
(…)
'Schreiben Sie ein Buch, es sei so schlecht wie es wolle, ein Stück, es sei ungegerbtes Leder – finden Sie ihnen nur einen Namen, einen pikanten Namen, und Sie erleben zwanzig Auflagen, und ein Repertoirestück', schrieb Ebner-Eschenbach 1858 in ihrer Satire 'Aus Franzensbad'. Vom Werbeeffekt griffiger Titel verstand sie so wenig wie Saar. Branding ist etwas, das diese Generation absolut nicht beherrscht, pikante Titel wären in den konservativen Publikationsmedien vom Typus Familienblatt auch nicht einsetzbar gewesen, das blieb der jüngeren Generation vorbehalten. Schnitzler war in diesem Punkt äußerst geschickt. Er bevorzugte doppelbezügliche Ein-Wort-Titel wie 'Freiwild' oder 'Märchen' und traf damit mitunter den Zeitgeist so genau, dass gleich drei davon – 'Anatol', 'Liebelei' und 'Reigen' – titelgebend wurden für Zeitschriftenprojekte.
(…)
Wer aber schrieb den Roman des Ringstraßenbaus, dieses Projekts radikaler Stadterneuerung unter rückwärtsgewandten Vorzeichen? Für viele aus der jungen Generation bildete der Stadtumbau gewissermaßen den festen Baugrund ihrer Karrieren. Die Väter erwirtschafteten mit den Geschäften und (Spekulations-)Gewinnen der Gründerzeit jene Vermögen, die den Söhnen ein Leben für die Kunst ermöglichten. Die Familienwege führten nicht selten von wenig angesehenen Bezirken, allen voran der Leopoldstadt, in die Palais in Ringstraßennähe, die den soliden Grundstein für einen erfolgreichen Start der Söhne bildeten. Hätten sie diese sozialen wie wohnraumtechnischen Veränderungen der Väter-Generation zu ihrem Thema gemacht, hätten sie damit die Fundamente ihrer eigenen Biographie ständig in Frage stellen oder doch reflektieren müssen.