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E-Book, Deutsch, 336 Seiten

Pörksen Zuhören

Die Kunst, sich der Welt zu öffnen

E-Book, Deutsch, 336 Seiten

ISBN: 978-3-446-28358-9
Verlag: Hanser, Carl
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark



Warum hören wir nicht zu? Ein Plädoyer, sich der Welt zu öffnen, von Bernhard Pörksen, der bereits in seinem Buch „Die große Gereiztheit“ Wege für positive gesellschaftlichen Debatten aufgezeichnet hat

Zuhören, Gehörtwerden, den Dialog auf Augenhöhe führen – das sind Schlagworte unserer Zeit, Leerformeln der politischen Rhetorik. Aber was heißt es, wirklich zuzuhören, die eigenen Überzeugungen in Frage zu stellen, sich der Weltsicht des anderen auszusetzen? Warum hört man so lange nicht auf die Opfer sexuellen Missbrauchs, warum nicht auf die Warnungen vor dem Klimawandel? Bernhard Pörksen zeigt, welche Mechanismen das Zuhören verhindern – ob im privaten Umgang oder in der Öffentlichkeit. Und er präsentiert Ansätze und Methoden, die eine neue Offenheit, tieferes Verstehen und empathisches Zuhören ermöglichen. Wie erreicht man, so lautet die Schlüsselfrage, diejenigen, die man nicht mehr erreicht?
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I Philosophie des Zuhörens
Die Macht der Tiefengeschichten
Dieses Buch geht auf ein Erlebnis zurück, das mich, obwohl es schon Jahre zurückliegt, noch immer umtreibt und irritiert. Ich selbst habe in einem entscheidenden Moment meines Lebens nicht wirklich zugehört, war taub, aber doch nicht so taub, dass ich taub für meine eigene Taubheit wurde. Aber lange kannte ich die Gründe für das anfängliche Hinhören und das spätere Weghören nicht. Und doch: Ist es nicht merkwürdig, peinlich und falsch, erst einmal vom eigenen Ich und den eigenen Erfahrungen zu sprechen, zumal wenn es um das Zuhören geht, also um die Zuwendung zum anderen? Nun, da ich dies notiere, noch einmal, ein allerletztes Mal, neu ansetze, stehen hinter mir drei Koffer voll mit Büchern. Gleich bringe ich sie zurück in die Bibliothek. Gleich können sie weg und auf Nimmerwiedersehen zurück in irgendein Regal. Ich habe Hilfe gesucht bei diesen Büchern, Werken aus der Philosophie, der Literatur und Psychologie. Aber sie haben mir nicht geholfen, allenfalls ein bisschen. Ich habe, im Versuch zu begreifen, endlos ein diffuses Zentrum umkreist, das ich lange nicht wirklich verstand und bestenfalls halbherzig kennenlernen wollte. Irgendwann habe ich mich drei Tage lang mit einem Freund in einem Zimmer in Hamburg eingeschlossen und erst einmal herumtheoretisiert und mit meinem Bücherwissen geprahlt, Studien und Statistiken aufgefahren, die vom Zuhören handeln, das klassische akademische Angebertum. Und irgendwann, weil der Freund so ausdauernd schwieg, so lange zuhörte, aber manchmal auch so hart und zupackend nachfragte, habe ich angefangen, von mir selbst zu sprechen, von meinem eigenen Erleben, von Scham und Schuldgefühlen, von Versäumnis und Versagen. »Fahr nach Hause und schreib alles auf«, sagte er zum Abschied erschöpft. »Du musst persönlich werden.« Das Jahr 2007. Ein Tag im Herbst. Besuch bei den Eltern in der Wiehre, einem Stadtteil in Freiburg. Ein kurzer, flüchtiger Blick auf die Kirschholzkommode im Wohnzimmer, auf der immer die neuesten Bücher stehen, die gerade gekauft oder von irgendwem geschenkt worden waren. Und auf dieser Kommode findet sich ein Buch, das Hartmut von Hentig geschrieben hat, einst der Star der Reformpädagogik, ein Bekannter meiner Familie, der manchmal auf eine Stippvisite vorbeikam. Sein Buch heißt Mein Leben — bedacht und bejaht.1 Die Elite der alten Bundesrepublik marschiert hier noch einmal auf, Gräfin Dönhoff und Golo Mann, Richard von Weizsäcker, Walter Jens und Georg Picht. Und er, der Gründer der Bielefelder Laborschule, kannte sie alle, korrespondierte mit allen, wurde von allen hofiert und geladen, um Rat gefragt und umschmeichelt, so scheint es, wenn man die biografischen Exkurse liest, die er voller Selbstgenuss ausbreitet. Nur eine Figur wirkt in dieser Parade der Prominenz seltsam blass, so denke ich, blätternd und lesend, an diesem Nachmittag. Und es ist nicht irgendeine Figur, nicht irgendein Freund oder ein beliebiger, aber natürlich berühmter Universitätsbewohner, mit dessen Namen man sich schmücken kann. Es ist vielmehr ein Mann, der als Freund und Lebensgefährte vorgestellt wird, der in diesem Buch eine zentrale Rolle spielt, aber doch eigentümlich diffus und schwer fassbar erscheint. Seinen Namen habe ich noch nie gehört. Er heißt Gerold Becker, auch er ein anerkannter Pädagoge, so scheint es. Adrian Koerfer, einst Schüler der Odenwaldschule, die Becker lange leitete, wird ihn später »einen der schlimmsten Serienvergewaltiger in der Geschichte der Bundesrepublik« nennen2, einen Pädokriminellen, der manche seiner Schüler hundertfach missbrauchte, ihnen schon morgens beim Wecken an der Odenwaldschule in den Schritt griff oder den Finger in die Poritze schob, um ihnen den Anus zu massieren. Natürlich war bei Hartmut von Hentig nichts von solchen Vorwürfen zu erfahren; der schreckliche Verdacht fand, obwohl damals schon Jahre öffentlich bekannt, mit keinem Wort Erwähnung. Man bekam stattdessen eine hübsche Griechenland-Segelstory mit einem schwierigen Kind zu lesen, die wesentlich vom pädagogischen Genie des Gefährten handelte, von seinem ungeheuren Talent im Umgang mit Jugendlichen, gerade mit jenen, die sich nicht anpassen konnten oder wollten und in der Konsequenz überall rausflogen. Und man erfuhr auf den letzten Seiten des Buches dann noch, dass Gerold mitunter ein bisschen zu viel trank, beim Treppensteigen ins Schnaufen kam, lange an seinem Computer saß, Spiegel und Zeit studierte und oft, trotz seiner Kurzatmigkeit, den Gang zum Postbriefkasten erledigte, auch wenn Hentig das Treppensteigen deutlich leichter fiel. Warum wurde ich stutzig? War es die literarisierte Glätte der Schilderungen, ihre so eigentümlich überanstrengt wirkende Harmlosigkeit, die Stilisierung des Lebensgefährten zu einem Meister der Pädagogik? Kann man mitunter, ob man will oder nicht, auch das lautstark Beschwiegene und das Ungesagte hören? Vielleicht. Jedenfalls setzte ich mich aus einer Intuition heraus an den Rechner, um das Bild Gerold Beckers zu vervollständigen, das mir seltsam unvollständig schien. Im Netz stieß ich dann auf einen digitalen Zwilling, einen Avatar, der doch ganz andere Züge trug. Auch er hieß Gerold Becker. Auch er war der Lebensgefährte Hentigs. Aber dieser Becker hatte so gar nichts zu tun mit dem grundsympathischen, feinfühligen Menschenkenner aus dem Buch, dessen Fehler allenfalls darin bestand, dass er zum Abend ein paar Gläschen Mariacron zu viel trank. Denn hier erschien er, in manchen Artikeln, als Missbrauchstäter, der sich an Kindern verging. Ich las, was öffentlich zugänglich war. Und hörte zunächst einmal hin, hörte wirklich zu, verstand intuitiv, dass an den Vorwürfen etwas dran sein könnte, gerade weil sie mit keinem Satz Eingang in die Hochglanz-Biografie gefunden hatten und in der seltsam artifiziellen Prosa dieses Erinnerungswerkes nicht auftauchten. Mich verstörte, so würde ich in der Rückschau sagen, der Gegensatz von imponierender Vorderbühnen-Rhetorik (die sich im Buch entfaltete) und verbrecherischer Hinterbühnen-Existenz (die ihre Spuren im Netz hinterließ). Denn diese Kontrasterfahrung kannte ich aus eigenem Erleben. Das Muster war mir im Prinzip vertraut — hier die Schönsprecherei, die wunderbare Rede des Pädagogen, dort die Realität, von der kaum etwas in Richtung der Vorderbühne durchdringt. Nur manchmal lassen sich, wenn man ganz genau hinsieht und hinhört, Signale des Protests erahnen, chiffrierte Botschaften der Betroffenen, die aber auf der Vorderbühne in der Regel nicht wirklich erkannt werden, weil schlicht nicht vorstellbar scheint, was sonst noch so läuft und geschieht, wenn die Tür zu ist und ein Lehrer und die ihm anvertrauten Jugendlichen miteinander allein sind. Der Klassenlehrer, den ich selbst an der Freien Waldorfschule hatte, war kein Missbrauchstäter, der sexualisierte Gewalt verübte. Er war ein Sadist, ein Menschenfänger und Machtspieler, charismatisch und gutaussehend, verehrt und umschwärmt, stets das passende Rudolf-Steiner-Zitat auf den Lippen und in der Beschämung des Gegenübers geübt, falls doch mal irgendwer kritisch nachfragen sollte.3 Er ließ ein Mädchen, das sich zu ihrem Unglück eine weiße Hose angezogen und ihre Tage hatte, nicht auf die Toilette, obwohl sie darum bat, bis die Hose dann durchgeblutet war und man Blutflecken sah, sich das Blut auf dem kleinen Stuhl ausbreitete, auf dem sie saß, und in das Holz einsickerte. Er verspottete sie vor der Klasse mit einer solchen Perfidie, dass andere Mädchen Angst bekamen und sich fragten, was wohl passieren würde, wenn sie selbst ihre Regel bekämen und womöglich solchen Ad-hoc-Attacken ausgesetzt sein würden. Er verspottete meinen Freund Leon, mit dem ich gelegentlich Musik machte, weil seine Eltern, wie er behauptete, zu den Proleten gehörten, arm und dreckig. Sie seien Abschaum, so suggerierte er, wieder und wieder. Und schon die Tatsache, dass mein Freund billige, nährstoffarme Weißbrötchen aß und kein Vollkornbrot, wurde auf seltsame Weise zu einem Zeichen von Schmutz und Nichtzugehörigkeit stilisiert, zu einem Stigma, das uns, den anderen, den...


Pörksen, Bernhard
Bernhard Pörksen, Jahrgang 1969, ist Professor für Medienwissenschaft an der Universität Tübingen und bekannt durch seine Arbeiten zur Skandalforschung (u.a. »Der entfesselte Skandal«, mit H. Detel) sowie seine Bücher mit dem Kybernetiker Heinz von Foerster und dem Psychologen Friedemann Schulz von Thun. Bei Hanser erschien: »Die große Gereiztheit. Wege aus der kollektiven Erregung« (2018) und »Die Kunst des Miteinander-Redens. Über den Dialog in Gesellschaft und Politik« (mit Friedemann Schulz von Thun, 2020).


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