Geschichten und Betrachtungen zur Zweisamkeit
E-Book, Deutsch, 220 Seiten
ISBN: 978-3-7017-4255-4
Verlag: Residenz
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Das Paar als Denkmal, das Paar als Ruine, das Paar als Arena, das Paar als Falle, das Paar als Abgrund, das Paar als Traum. Und dazu allerlei unerhörte Paare, verkuppelt vom Zufall, von der Sehnsucht oder vom hinterlistigen Leben: Da bildet ein kleines Mädchen mit seinem erfundenen Vater ein prachtvolles Lügner-Team; eine junge Frau verbündet sich mit ihrem ungeborenen Kind gegen dessen Erzeuger, den einzig seine künstlerische Arbeit beschäftigt; durch die Trennscheibe in einem Gefängnis-Sprechraum blühen zwischen Häftling und Besucherin grelle Erinnerungen auf...
Mit diesen und anderen Begegnungen spürt Erika Pluhar dem rätselhaften dritten Wesen Paar' nach, das Gelegenheitsbekannte ebenso wie Liebende unweigerlich hervorbringen und das rasch machtvoll auf die beiden Individuen zurückwirkt. In Erzählungen und Gedichten führt sie uns die Verwandlung vor Augen, die Menschen widerfährt, wo immer einer sich am nächsten zu stärken sucht oder sich im anderen verliert - wenn einen das gepaarte Leben heimsucht, streift oder ergreift.
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Im Zug
Der Intercity Schnellzug fuhr pünktlich von Frankfurt ab. Er beschloß, sich gleich in den Speisewagen zu setzen, denn er hatte seit dem Morgen nichts gegessen, und er hatte Lust auf ein Glas Weißwein. Die Kellner trugen Bierkisten vorbei und beachteten ihn eine Weile lang nicht. Er schaute aus dem Fenster. In der getönten Scheibe sah er sein Gesicht gespiegelt. Dahinter glitten Häuser vorbei. Der Zug überquerte einen Fluß. Er betrachtete seine hervorspringende Nase, die schlecht rasierte Oberlippe, die schweren Linien neben seinem Mund. Ich sehe alt aus, stellte er fest. Da die Sonne durch das Waggonfenster auf ihn fiel, hing er selbst, in vorgebeugter Haltung, beide Unterarme auf den Tisch vor sich gelegt, überdeutlich vor der vorbeifliegenden Landschaft. Das wird nichts mehr Rechtes, dachte er, strich aber mit der einen Hand sein Haar hinter das Ohr. Dann versuchte er, die Augenbrauen etwas höher zu ziehen, doch dadurch gerieten sie über den Rand seiner dunklen Brillen und gaben seinem Gesicht etwas Clowneskes. Ich gebe auf, war sein nächster Gedanke. Eine Weile starrte er noch auf das hell beleuchtete Gesicht, hinter dem jetzt ein rötlicher Herbstwald durch das Fenster zog. Dann wandte er sich der Speisekarte zu. Verwundert, hier finnische Spezialitäten angeführt zu finden, wählte er eine Erbsensuppe mit kompliziertem Namen und gefüllte Piroggen. Einer der Kellner trat an seinen Tisch, nahm die Bestellung entgegen, brachte kurz darauf den Weißwein und stellte einen Teller Piroggen vor ihn hin. Er trank sofort einen Schluck Wein und wandte sich dann wieder dem Fenster und dem unvermeidlichen Anblick seiner selbst zu. Der Einfallswinkel der Sonne hatte sich jedoch verändert, und jetzt war es das besonnte Land, das leuchtete, sein eigenes Gesicht lag wohltuend im Schatten. Sieht sofort besser aus, dachte er, es war das grelle Licht, das hat übertrieben. Der Zug eilte nahezu geräuschlos dahin, er fühlte sich sanft gewiegt. Als Kind hatte er auf Eisenbahnfahrten immer im Rhythmus der Fortbewegung Worte gebildet oder seltsame abgehackte Liedchen erfunden, damals war ihm alles laut und rhythmisch erschienen, die Menschen schwankten durch die Waggons, unter den Rädern ratterten die Schienenschwellen, die Lokomotive pfiff, alles war in lärmender Bewegung. Nichts von dieser abgeschirmten luxuriösen Ruhe, in der ich jetzt dahinfahre, dachte er. Genau in diesem Moment aber legte sich der Zug abrupt in eine Kurve, die Türe des Speisewagens flog auf, und eine Frau wurde in seine Richtung geschleudert. »Hoppala«, sagte sie und fing sich mit beiden Händen am Tischrand auf. Dann lachte sie ihn an. »Was hat er denn plötzlich, dieser feine Zug? Er wird uns doch nicht entgleisen wollen. Entschuldigen Sie bitte.« Er lächelte höflich zurück. Sie richtete sich auf und hielt Ausschau nach einem freien Tisch. Er sah, daß sie sehr groß war, um einiges größer als er. »Wie blöd –«, hörte er sie murmeln. Sie nickte ihm zu, schob den Riemen ihrer Umhängetasche höher auf die Schulter und wollte weitergehen. Schnell sagte er: »Wollen Sie sich nicht zu mir setzen – da es Sie schon mal zu mir hergeweht hat?« Sofort schämte er sich für diesen matten Scherz. Auch die Frau, deren Gesicht bereits freundliche Zustimmung erfüllt hatte, runzelte leicht die Stirn und schaute ihn unschlüssig an. Dann sagte sie: »Also gut«, und nahm ihm gegenüber Platz. Er sah, daß sie nicht mehr jung war. Der Blick, den sie auf ihn richtete, besaß eine ungewöhnliche Bestimmtheit. Ihre Augen sind schön, dachte er. »Mich weht es nirgendwohin«, sagte sie. »Ich habe mich jetzt freiwillig zu Ihnen gesetzt, weil dies der einzige freie Fensterplatz ist. Nur um das zu klären.« »Natürlich.« Sie muß mich für einen Trottel halten, dachte er. Erst lasse ich sie herwehen, und dann fällt mir nur ein, daß alles ganz natürlich ist. Es erleichterte ihn, daß der Kellner jetzt die finnische Erbsensuppe brachte, die aussah wie eine normale Erbsensuppe, und den Teller mit einem »Bitte sehr« vor ihn hinstellte. Die Frau bestellte Eintopf und ebenfalls Weißwein. »O je«, sagte sie dann, »man darf hier nicht rauchen.« »Nein, leider«, sagte er und begann seine Suppe zu löffeln. »Hm«, brummte die Frau, legte jedoch die Tasche, die sie bereits angehoben hatte, wieder neben sich auf die Bank. Dann schaute sie aus dem Fenster. Er sah jetzt ihr Gesicht, das von der Sonne beleuchtet war, in der Fensterscheibe gespiegelt. Sie selbst schien durch dieses Gesicht hindurchzusehen, ihr Blick war in die Ferne gerichtet, hinaus in das herbstliche Land, das vorbeizog. »Ein schöner Tag«, sagte er und dachte gleichzeitig: Ich habe doch tatsächlich verlernt, eine Konversation zu führen. Sie wandte ihm jedoch den Kopf zu und lächelte. Es war ein Lächeln ohne Spott. »Ja«, sagte sie, »es ist herrlich heute. Diese letzten Herbsttage, wenn sie vollkommen sind, greifen mir immer ans Herz.« »Sie machen einen traurig«, sagte er. Vor Überraschung vergaß er, den Löffel zum Mund zu führen. Er starrte den Löffel an und fühlte, daß er errötete. Machen mich die letzten schönen Herbsttage traurig? dachte er verwirrt. Das wußte ich gar nicht. Er senkte den Löffel wieder in die Suppe und hörte auf zu essen. Statt dessen sah er jetzt ebenfalls aus dem Fenster und auf die Weinhänge, die in der Sonne glühten. Die Hügel schienen sich leise zu drehen und die abwärtslaufenden Bahnen der Weingärten wie einen Rock um sich zu schwingen. Er fühlte, daß die Frau ihn immer noch anschaute, und zwang sich, ihr seinen Blick zuzuwenden. Sie lächelte nicht mehr, und daher ließ auch er den Versuch bleiben, sie anzulächeln. »Tja«, sagte er nur. »Fahren Sie bis Hamburg?« fragte sie. »Ja«, sagte er, »und Sie?« »Ich nur bis Bonn.« Unwillkürlich hatte er zurückgefragt, aber weder schämte er sich dafür, noch runzelte sie die Stirn. Unglaublich, was geschieht, wenn man über den Herbst spricht, dachte er. Jetzt brachte der Kellner die Schüssel mit dem Eintopf und das Fläschchen Weißwein, stellte beides vor die Frau hin und goß ihr Wein in das Glas. »Danke«, sagte sie. Dann begann sie vorsichtig zu essen, sie blies auf ihren Löffel. »Ist noch heiß« erklärte sie und warf ihm dabei einen kurzen Blick zu. Wie ein Kind, dachte er, jetzt hat sie ausgesehen wie ein Kind. »Darf ich mit Ihnen anstoßen?« fragte er und hob sein Glas. Auch dieser Satz war ihm leicht gefallen. Er wollte mit dieser Frau unbedingt auf etwas trinken. »Ich möchte mit Ihnen auf irgend etwas trinken«, fügte er hinzu. Sie legte den Löffel beiseite, tupfte sich mit der Serviette den Mund ab und hob ihr Glas. »Worauf?« fragte sie. Ihre auf ihn gerichteten Augen waren wieder von einer Bestimmtheit, vor der es keine Ausflucht zu geben schien. »Auf –«, er stockte. »Auf diesen Herbsttag«, sagte er dann, »weil er mich traurig macht.« Sie erhob keinen Einwand, sah ihn nur ruhig an, und sie ließen ihre Gläser gegeneinander klingen. Nachdem sie beide getrunken hatten, fragte sie: »Macht Sie denn selten etwas traurig?« »Ich spreche selten darüber«, antwortete er. »Und warum?« Sie nahm einen Löffel Eintopf und gab ihrer Frage dadurch Leichtigkeit. »Ich spreche selten über so was.« »So was?« »Nun ja – über – über Gefühle.« Sie schwieg und aß langsam weiter. Ihm gefiel, daß sie schwieg. Eigentlich hatte er, nachdem das Wort »Gefühle« ausgesprochen war, eine dieser Frauenantworten erwartet, in denen so schnell die Bemerkung »typisch männlich« vorkommt. Oder vielleicht hatte er sich nur daran erinnert, daß viele Frauen so zu kontern pflegen. Nein, sie sagt so etwas nicht, dachte er. »Zu fühlen ist wichtiger als darüber zu reden«, sagte sie. Sie schob die Schüssel mit dem Eintopf zur Seite und trank Wein. Dann lehnte sie sich zurück und seufzte. »Jetzt wäre eine Zigarette wirklich gut.« »Wir können in ein Abteil –« »Nein, nein«, unterbrach sie ihn sofort, »es ist angenehm hier.« Sie schaute ihn an, und wieder dachte er: Sie hat schöne Augen. Ihr Blick ist...