Begegnungen mit Hannah Arendt, Gershom Scholem, Theodor W. Adorno und anderen
E-Book, Deutsch, 152 Seiten
ISBN: 978-3-86393-533-7
Verlag: CEP Europäische Verlagsanstalt
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Es ist eine intellektuelle Gemeinschaft, die einst die Weimarer Republik bestimmte. In der Nähe Sils Marias, im schweizerischen Graubünden, kamen sie wieder zusammen, die größtenteils jüdischen Emigranten, die im 20. Jahrhundert das intellektuelle Leben Deutschlands prägten. Eine Begegnung durchdrungen vom Festhalten und Wiedersuchen der Welt, aus der sie kamen – und die nicht zurückzuholen ist.
Unvergessen bleibt ein Abend bei Adornos 1952, bei dem auch die Suhrkamps und Gershom Scholem eintreffen. Monika Plessner beobachtet genau, bemüht sich nicht, ihre Eindrücke nach Kriterien von Pietät und Gerechtigkeit zu ordnen, und auf diese Weise entstehen Bilder in kräftigen Farben. Das Grauen von Konzentrationslagern, Krieg und Exil schimmert durch, aber es werden nie belehrende Exerzitien.
Weitere Infos & Material
Vorwort Während eines Empfangs, den die New Yorker «New School for Social Research» im September 1962 auf Long Island für ihren ersten Theodor-Heuss-Professor, Helmuth Plessner, gab, stand ich eine Weile allein und betrachtete das Gruppenbild vor mir: ein Fest, Willkommen und Wiedersehen. Die Gäste: deutsche Emigranten, Gelehrte, Schriftsteller, Künstler, die seit vielen Jahren in New York lebten. Dr. Alvin Johnson, Gründer der New School, der ihnen zu neuem Wirken verholfen hatte, nannte sie seine «Argonauten». Ich glaube nicht, daß ich an den antiken Mythos dachte, als ich diese Argonauten mit ihren Damen vor mir hatte. Ohne noch zu wissen, warum, sah ich sie dennoch mit anderen Augen. Vor einer leeren Wand mir gegenüber saß, allein wie ich, ein alter Mann. Er sah müde aus und stützte sich mit beiden Armen auf eine Küchenleiter. Es muß diese Leiter gewesen sein, auf deren Sprossen ein Déjà-vu-Erlebnis aus der Tiefe aufstieg: Das Gruppenbild, das ich betrachtete, verwandelte sich in Max Beckmanns letztes Triptychon «Die Argonauten». Beckmanns Atelier in Amsterdam war nach dem Einmarsch der Deutschen ein Ort, an dem Helmuth in aller Vorsicht manchmal andere Emigranten treffen konnte, so seinen Studienfreund, den Filmregisseur Ludwig Berger, oder den Schriftsteller Wolfgang Frommel. Dreißig Jahre nach dem Fest auf Long Island schickte mir ein junger Verehrer von Frommel ein Reclambändchen: «Max Beckmann. Die Argonauten» von Erhard Göpel. Im Anhang gibt Göpel, der die Entstehungsgeschichte des Triptychons bis ins Detail verfolgt hat, Wolfgang Frommel das Wort. In Form eines Briefes schildert dieser sein «Argonautenerlebnis» mit Beckmann. Der Maler sei der Ansicht gewesen, so Frommel, er habe mit seinem Œuvre «den Grundgehalt seiner Epoche zu totalem Ausdruck gebracht». Frommel widersprach. Darauf Beckmann: «Und was fehlt nach Ihrer Ansicht? Was gibt es noch nach Ihrer Ansicht?» Antwort: «Uns.» Beckmann: «Und was verstehen Sie unter ‹uns›?» Frommel: «Ich verstehe darunter das, was das Leben meiner Freunde bestimmt und vielleicht nicht nur das ihre. Oder sagen wir es mythologischer, deutlicher: die Argonauten.» Beckmann hat das Triptychon erst 1949 in Amerika begonnen. Im Tagebuch nennt er es «Die Künstler» – bis zum 9. Dezember 1950. In der Nacht vorher hatte er einen Traum, den er als Todesahnung empfand. In einem Brief an Göpel vom 26. April 1951 erzählt Quappi Beckmann dem Freund: «Am Morgen sagte er mir, er hätte von den Argonauten geträumt, nicht von der Legende, aber von den Gestalten auf seinem Bild. Auf meine Frage, was es gewesen sei, sagte er nur: ich weiß nicht mehr genau – es war nur sehr unheimlich – toll – sie sind einfach auf mich zugekommen (die Figuren) – sowas hab ich noch nie erlebt.» Seit dem 9. Dezember 1950 heißt das Triptychon im Tagebuch «Die Argonauten». Beckmann hat es am 26. Dezember 1950, am Vorabend seines Todestages, beendet. Wahrscheinlich sind alle Argonauten, denen ich in 34 Jahren des Zusammenlebens mit einem von ihnen, Helmuth Plessner, begegnet bin, lange tot. Einige, von denen ich im folgenden erzähle, sind längst Idole einer jüngeren Generation geworden. Ohne ihre schöpferische Leistung würdigen zu können, habe ich sie in ihrer Menschlichkeit auftreten lassen, so wie ich sie erlebt habe, einen jeden an jedem neuen Tag, den er, lachend und weinend, der Vertreibung abgetrotzt hat. Idole sind leblos. Aber Lachen und Weinen sind Monopole des Menschen. Ein neuer Tag «Aus Lachen und Weinen ein neuer Tag» lautet die Widmung eines seiner Bücher, das Helmuth mir im Mai 1952 schenkte. Heute weiß ich, daß dem neuen Tag eine lange Dämmerung vorausgegangen war, die mit meiner Flucht aus Breslau Ende Januar 1945 begonnen hatte. Meine beiden kleinen Töchter und ich fanden Zuflucht bei einer Freundin in Thüringen. Ihr Mann, Hans Urban von Hirschfeld, starb in der Nacht nach unserer Ankunft an den Folgen eines Verhörs durch die Gestapo. Er hatte das Bewußtsein nicht wiedererlangt. Im April kamen wir in Lemgo in Lippe, der Heimat meines ersten Mannes, an. Sein Vater, Lebensmittelgroßhändler, hatte ein Puddinglager für uns räumen lassen. Die Kinder, vier und acht Jahre alt, und ich haben darin über fünf Jahre lang gewohnt. Ihr Vater, Kunsthistoriker und Maler, zog nach Göttingen, sobald die Universität den Betrieb wiederaufnahm. Von Oktober 1945 an haben wir bei gutem Einvernehmen keinen gemeinsamen Haushalt mehr geführt. Vom 4. Januar 1950 an leitete ich die Volkshochschule der Stadt Lemgo. Gleich nach der Währungsreform hatte ich ein Modell entworfen, das Erwachsenenbildung bis ins letzte Dorf des ehemaligen Fürstentums Lippe-Detmold tragen sollte. Die kultur- und bildungspolitische Studie, die ich den Bürgermeistern und Landräten, dem Landesverband Lippe in Detmold und dem Kultusministerium in Düsseldorf einreichte, fand Anklang. Nur verlangte der Regierungspräsident von Detmold-Minden, Heinrich Drake, der in Personalunion Vorsteher des Landesverbandes Lippe war, ein wissenschaftliches Gutachten. Dr. Karl Pfauter, Kulturdezernent und Volkshochschulleiter in Göttingen, verschaffte mir einen Termin bei dem aus der Emigration zurückgekehrten Professor für Soziologie und Philosophie, Helmuth Plessner. Bevor ich ihn aufsuchte, schickte ich ihm eine Kopie meiner Studie. Der Sturm der Befreiung hatte die ehrwürdige Georgia Augusta zwar kräftig geschüttelt. Aber 1951 wirbelte noch viel braunes Laub durch ihr Gehege. Um die Besetzung des neu geschaffenen Lehrstuhls für Soziologie war lange gerungen worden. Als Frucht der Aufklärung und der Republik war das Fach keineswegs jedermanns Sache. Die Berufung des 1933 aus Köln vertriebenen Philosophen Plessner war ein Kompromiß zwischen Streitern, die so gegensätzliche Geister beschworen wie Hans Freyer und Eugen Rosenstock-Huessy. Das erste soziologische Institut lag im Hochparterre des Auditoriengebäudes an der Weender Straße. Es bestand aus zwei einfenstrigen Räumen, offenbar hatte man eine Wand durch einen kleinen Hörsaal gezogen. Im vorderen Raum stand ein Tisch für etwa zwölf Personen. An den Wänden gähnten leere Bücherregale. Eine junge Frau, die Sekretärin, begrüßte mich: «Der Herr Professor erwartet Sie. In einer halben Stunde beginnt sein Kolleg.» Das Zimmer, in das sie mich führte, war noch kleiner als das erste. Es wurde fast ausgefüllt von einem mächtigen Schreibtisch, dessen Platte wie ein gespannter Bogen geformt war. Die tiefstehende Sonne blendete mich, so daß ich nur die Umrisse des Herrn hinter dem Schreibtisch erkennen konnte. «Wechseln wir die Seiten», sagte er – ein Vorschlag, damals noch undenkbar bei einem «ordentlichen» deutschen Professor im Amt. Mir war, auf der anderen Seite des Schreibtischs, als befände ich mich in einem anderen Land. Der Professor hatte sein Gutachten schon nach Detmold geschickt und, so erzählte er, sich selbst vorsorglich zur Gründungssitzung angemeldet. Während er über meine Arbeit sprach, fiel mein Blick auf ein Ölgemälde, das auf dem Fußboden an einem Wandschrank lehnte: das Brustbild eines Mannes in braunem Jackett vor grünem Hintergrund. Die gleichgültigen Augen waren ins Unbestimmte außerhalb des Rahmens gerichtet. Statt des rechten Unterarmes ruhte ein toter Fisch auf der Stuhllehne. «Beckmann?» fragte ich. Der Professor nickte, sah mich etwas verwundert an, zögerte einen Moment und begann zu erzählen. Er sei oft in Amsterdam bei Beckmann gewesen, in dessen Atelier zahlreiche deutsche Emigranten verkehrten. Das Bild des Mannes mit dem Fischarm habe er am Tag der Befreiung Amsterdams gegen einen kleinen Brillanten eingetauscht, seinen «letzten Heller», den er immer im Brustbeutel bei sich trug. Übrigens habe Beckmann ihn im Auftrag holländischer Freunde porträtieren sollen. Aber dazu war es nicht mehr gekommen, weil der Maler nach St. Louis berufen wurde. Dann erzählte ich: vom Kunsthändler Wiese im Riesengebirge, bei dem sich manche Gesinnungsgenossen getroffen hatten. Er war als Museumsdirektor in Breslau entlassen worden, weil er sich in seinem Eintreten für die «entartete» Kunst nicht beirren ließ. Ich hatte in seinem Antiquitätengeschäft in Hirschberg ein Selbstbildnis von Beckmann erstanden, eine Kaltnadelradierung. Sie ist in Breslau geblieben und hat hoffentlich einen polnischen Liebhaber gefunden. Herr Plessner sah, während er mir zuhörte, nachdenklich aus dem Fenster. So hätte Beckmann ihn malen können....