Pirandello | Die erste Nacht | E-Book | sack.de
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E-Book, Deutsch, 144 Seiten

Pirandello Die erste Nacht

Sizilianische Novellen

E-Book, Deutsch, 144 Seiten

ISBN: 978-3-96999-049-0
Verlag: Steidl Verlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark



Luigi Pirandello, der Dramatiker und Erzähler, hatte die Angewohnheit, am Sonntagvormittag Sprechstunden für Personen abzuhalten, die aufgrund ihres besonderen Schicksals in seine Stücke oder Erzählungen aufgenommen werden wollten. Manche, die besonders aufsässig waren, schickte er wieder fort, aber den meisten lieh er sein Ohr, und so entstand nicht nur das weltberühmte Theaterstück Sechs Personen suchen einen Autor, sondern auch ein Großteil seiner Novellen. Mit dieser ironischen Selbstbeschreibung seiner Arbeit eröffnet der vorliegende Band, um dann in die ebenso karge wie intensive Lebenswelt Siziliens einzumünden. Große und kleine Tragödien von Witwen und Waisen, Frommen und Frömmlern - Grotesken, die das menschliche Maß übersteigen und doch mitten aus dem Leben gegriffen sind. All diese leidvollen und mit tiefer Empathie beschriebenen Verhältnisse - die alte Mutter, die ihren hilfsbereiten Sohn nicht sehen will, der Mann, der immer im Schlaf lacht, die junge Witwe und der alte Witwer, die sich in ihrer Hochzeitsnacht auf dem Friedhof einfinden - haben ein erschütterndes oder absurdes Geheimnis. Über allem waltet der klare südliche Himmel, in dem der junge Ciàula, der nur die Arbeit im Schwefelbergwerk kennt, eines Nachts zum ersten Mal den Mond entdeckt.

Luigi Pirandello, geboren 1867 als Sohn eines Schwefelgrubenunternehmers, wuchs in Agrigent und Palermo auf. Bereits während seiner Schulzeit veröffentlichte er erste literarische Versuche. Ab 1887 studierte er Romanische Philologie in Rom und Bonn. 1892 kehrte Pirandello nach Italien zurück und arbeitete als freier Schriftsteller und Journalist, heiratete und wurde 1908 zum Ordentlichen Professor ernannt. Mit seinem Theaterstück Sechs Personen suchen einen Autor erlangte er 1921 Weltruhm. Sein Verhältnis zum italienischen Faschismus, für ihn der Nachfolger der fasci, der sozialistischen Partei Siziliens, für die er sich in seiner Jugend engagiert hatte, blieb zeitlebens ambivalent: Zwar ließ er sich von Mussolini hofieren und trat der Faschistischen Partei bei, zerriss aber später demonstrativ seinen Parteiausweis. Im nationalsozialistischen Deutschland war sein Werk verboten. 1934 wurde er für sein Gesamtwerk mit dem Nobelpreis für Literatur ausgezeichnet. Pirandello starb 1936 in Rom.
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Die Tragödie einer Person


Es ist eine alte, liebe Gewohnheit von mir, jeden Sonntagmorgen für die Personen meiner künftigen Novellen Sprechstunde abzuhalten.

Fünf Stunden lang, von acht bis eins. Und fast jedes Mal gerate ich dabei in schlechte Gesellschaft.

Ich weiß nicht, wie es kommt; aber gewöhnlich strömt das unzufriedenste Volk von der ganzen Welt zu diesen Audienzen zusammen; von ganz besonderen Leiden Heimgesuchte, in die schwierigsten Verhältnisse Verstrickte!

Ich höre sie alle geduldig an. Mit viel Takt versuche ich sie auszufragen, nehme Kenntnis von Namen und Lebensverhältnissen eines jeden Einzelnen und interessiere mich für ihre Gefühle und ihre Wünsche. Aber ich muss auch hinzufügen, dass es nicht immer eine leichte Aufgabe ist, mit ihnen zu verhandeln. Ich kann ja wohl eine ganze Menge vertragen, aber beschwindeln lasse ich mich nur ungern. Und so bedarf es oft einer langwierigen und gründlichen Untersuchung, um bis auf den Grund ihrer Seelen vorzudringen.

So kommt es manchmal, dass sich auf meine Fragen der eine oder andere ganz wütend aufführt, weil er meint, es mache mir Vergnügen, ihn seiner vermeintlichen Würde zu entkleiden. Dann versuche ich sie eben mit aller Geduld und allem guten Anstand davon zu überzeugen, dass mein Fragen keineswegs überflüssig ist. Ich mache ihnen klar, wie leicht es ist, den Willen eines Menschen nach der einen oder anderen Seite umzubiegen; und wie alles daran liegt, ob wir auch das sein können, was wir sein wollen. Wo das Können fehle, da erscheine das Wollen lächerlich und eitel.

Davon lassen sie sich aber meist nicht gern überzeugen. Dann bemitleide ich sie, denn im Grunde bin ich ein guter Mensch. Aber kann man nicht manches Missgeschick nur richtig bemitleiden, indem man herzlich darüber lacht?

Und so kommt es, dass die Personen meiner Novellen überall verbreiten, ich sei ein grausamer und hartherziger Schriftsteller. Es sollte wirklich mal ein wohlgesonnener Kritiker darauf hinweisen, wie viel Mitleid hinter diesem meinem Lachen steckt.

Wohlgesonnene Kritiker?! Wo gibt es die wohl heute noch?

Nun drängen sich in meiner Sprechstunde manchmal einzelne Personen mit solcher Dreistigkeit vor die anderen, dass ich mich gezwungen sehe, sie an die Luft zu setzen.

Nachher reut sie ihre Heftigkeit, und sie kommen wieder und schwören, sie hätten sich gebessert. Dann antworte ich ihnen mit dem freundlichsten Lächeln, nun müssten sie eben ihre Strafe haben und warten, bis ich wieder Zeit und Lust hätte, mich aufs Neue mit ihnen zu befassen.

Unter den Manierlicheren jedoch sind manche, die leise seufzend im Hintergrund warten, manche aber auch, die, des Wartens müde, an der Tür irgendeines anderen Schriftstellers anklopfen. Es ist mir nicht selten passiert, dass ich in den Novellen meiner Kollegen solchen Personen, die sich erst bei mir vorgestellt hatten, wiederbegegnet bin; so wie ich auch wiederum andere traf, die mit der Gestalt, die ich ihnen gegeben hatte, nicht zufrieden waren und dann anderswo besser abzuschneiden hofften.

Ich beklage mich nicht darüber, denn zwei oder drei »Neue« kommen doch fast jede Woche zu mir. Und oft ist der Andrang so groß, dass ich sogar mehreren gleichzeitig Audienz geben muss. Bis mein Verstand, so gleichsam nach verschiedenen Seiten hingezerrt, sich schließlich weigert und verzweifelt ruft: Entweder einer nach dem anderen, in aller Gemütsruhe, oder zum Teufel alle miteinander!

Ich muss immer daran denken, mit welcher Ergebung einmal ein armer, alter kleiner Mann, der von ferne her kam, darauf wartete, bis er an der Reihe war. Ein alter Kapellmeister namens Icilio Saporini, der im Jahre 1849 beim Sturz der römischen Republik nach Amerika hatte auswandern müssen, weil er irgendein patriotisches Lied komponiert hatte, und der nun nach fünfundvierzig Jahren nach Italien zurückkam, fast achtzig Jahre alt, um hier zu sterben. Ausgesucht höflich, mit seinem dünnen, schrillen Stimmchen, ließ er immer allen anderen den Vortritt. Und schließlich eines Tages – ich war noch in der Genesung von einer langwierigen Krankheit – trat er doch in mein Sprechzimmer, ganz unterwürfig, mit einem schüchtern-schmalen Lächeln auf den Lippen:

»Wenn ich darf … wenn ich auch wirklich nicht störe …«

»Aber ja doch, mein lieber alter Freund! Gerade zur rechten Stunde kommst du heute!«

Und rasch – rasch setzte ich mich an die Arbeit, und in der Erzählung »Von alten Klängen« schenkte ich ihm einen glücklichen Tod.

* * *

Diesen letzten Sonntag kam ich nun ein wenig später als gewöhnlich in mein Sprechzimmer.

Ein langer Roman, den man mir geschickt hatte und der seit mehr als einem Monat darauf wartete, gelesen zu werden, hatte mich bis drei Uhr morgens wach gehalten. Eine seiner Gestalten, die einzig lebendige unter lauter leeren Schatten, hatte mich so stark beschäftigt, dass ich nicht in den Schlaf fand.

Es war ein armer Mann, ein gewisser Doktor Fileno. Der glaubte gegen jede Art von Übel ein höchst wirksames Heilmittel erfunden zu haben, ein unfehlbares Rezept, sich und alle Menschen in allen öffentlichen und privaten Kalamitäten zu trösten.

Eigentlich war diese Erfindung mehr eine Methode als ein Heilmittel oder Rezept. Sie bestand darin, dass man von morgens bis abends Geschichtsbücher lesen soll, um auf die Gegenwart als Geschichte sehen zu lernen, das heißt so, als sei sie schon lange verflossen und ruhe in den Urkunden der Vergangenheit.

Mit dieser Methode hatte er sich von jeder Sorge und Last befreit und, ohne den Tod herbeizuwünschen, den Frieden gefunden. Einen schönen und heiteren Frieden, über den der Ausdruck klagloser Trauer gebreitet war wie etwa der, mit dem die Friedhöfe aus dem Gesicht der Erde zum Himmel noch aufschauen werden, auch wenn es keinen einzigen Menschen mehr geben wird.

Aber Doktor Fileno dachte nicht im entferntesten daran, aus der Vergangenheit etwa Lehren für die Gegenwart ableiten zu wollen. Er wusste ganz genau, dass das töricht gewesen wäre und verlorene Zeit. Denn er war sich klar darüber, dass das, was wir Geschichte nennen, nur etwas verstandesgemäß Zusammengefügtes ist, von den Geschichtsschreibern gemäß ihrer Natur, ihren subjektiven Ansichten und Wünschen, ihren Antipathien und Sympathien gesammelt und verfasst. Und dass es also nicht anginge, dieses mit dem Verstand Gefügte auf das lebendige Leben anzuwenden, das sich in all seinen Besonderheiten und Wirrnissen ständig wandelt. Und noch weniger ließ er es sich einfallen, aus der Gegenwart Regeln oder Prophezeiungen für die Zukunft abzuleiten. Nein, im Gegenteil: er versetzte sich im Geist in die Zukunft, um von dort aus die Gegenwart zu betrachten, und so sah er sie als Vergangenheit.

Ein Beispiel: Ihm war vor wenigen Tagen sein einziges Töchterchen gestorben. Ein Freund besuchte ihn, um ihm sein tiefstes Beileid auszusprechen. Und siehe da, er fand ihn so getröstet, als sei die Tochter schon mehr als hundert Jahre tot. Seine ganze frische Trauer hatte er ohne weiteres zeitlich von sich abgerückt, in die Vergangenheit gedrängt. Und man muss gesehen haben, mit welch ruhiger Würde und Gelassenheit er nun davon sprach.

Kurz und gut, Doktor Fileno hatte diese Methode für sich entwickelt und bediente sich ihrer etwa wie eines umgedrehten Fernrohrs. Er kehrte es nie in die rechte Richtung, um damit in die Zukunft zu blicken. Er wusste, er würde doch nichts von ihr erkennen können. So befriedigte er sein Gemüt damit, dass er von der größeren Linse aus durch die kleinere sah, die er auf die Gegenwart eingestellt hatte derart, dass ihm alle Dinge sogleich ganz klein und entfernt vorkamen. Und seit vielen Jahren trug er sich mit dem Gedanken, ein Buch zu schreiben, das sicherlich Aufsehen erregt hätte: »Die Philosophie des Entfernten«.

Während der Lektüre des Romans wurde mir klar, dass der Autor, damit beschäftigt, einen der aller-alltäglichsten Konflikte zu schürzen, sich der besonderen Eigenart dieser einzigen Person gar nicht bewusst geworden war. Zwar war es ihr, der Person, die in sich das Zeug zu einem ganzen Kerl hatte, eine Zeitlang geglückt, den Dichter an der Hand zu nehmen und von den gewöhnlichen Plattheiten seiner Erzählung ein Stückchen Weges abzuführen. Plötzlich aber fiel sie ab und wurde schwach und ließ sich dann einfach ausnützen zu einer ganz verlogenen und törichten Lösung.

Lange Zeit hatte ich wach gelegen in der schweigenden Nacht, das Bild dieser Gestalt vor Augen, und hatte geträumt. Zu schade! Es war so viel Stoff in ihr, ein Meisterwerk daraus zu bilden! Wenn nur der Dichter sie nicht so schmählich missverstanden und vernachlässigt, wenn er sie nur in den Mittelpunkt der Erzählung gebracht hätte, so hätte sich vielleicht auch das, was an Künstlichem und Leblosem in ihr war, umgebildet und wäre lebendig geworden! Und mich überkamen Schmerz und großes Mitleid um dies so kümmerlich verfehlte Leben.

Als ich nun am nächsten Morgen spät in mein Sprechzimmer trat, fand ich dort ein ganz schreckliches Durcheinander, denn eben dieser Doktor Fileno hatte sich lebhaft zwischen meine wartenden Personen gedrängt, die, ihrerseits wiederum erzürnt über den nicht hierher gehörigen Gast, ihn ergreifen und hinauswerfen wollten.

»He holla!«, rief ich. »Was sind das für Manieren, meine Herrschaften? Doktor Fileno, ich habe schon zu viel Zeit an Sie verschwendet. Was wollen Sie eigentlich von mir? Sie gehören ja gar nicht zu mir. Lassen Sie mich jetzt ruhig mit meinen eignen Personen...


Pirandello, Luigi
Luigi Pirandello, geboren 1867 als Sohn eines Schwefelgrubenunternehmers, wuchs in Agrigent und Palermo auf. Bereits während seiner Schulzeit veröffentlichte er erste literarische Versuche. Ab 1887 studierte er Romanische Philologie in Rom und Bonn. 1892 kehrte Pirandello nach Italien zurück und arbeitete als freier Schriftsteller und Journalist, heiratete und wurde 1908 zum Ordentlichen Professor ernannt. Mit seinem Theaterstück Sechs Personen suchen einen Autor erlangte er 1921 Weltruhm. Sein Verhältnis zum italienischen Faschismus, für ihn der Nachfolger der fasci, der sozialistischen Partei Siziliens, für die er sich in seiner Jugend engagiert hatte, blieb zeitlebens ambivalent: Zwar ließ er sich von Mussolini hofieren und trat der Faschistischen Partei bei, zerriss aber später demonstrativ seinen Parteiausweis. Im nationalsozialistischen Deutschland war sein Werk verboten. 1934 wurde er für sein Gesamtwerk mit dem Nobelpreis für Literatur ausgezeichnet. Pirandello starb 1936 in Rom.


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