Pierre | Jesus von Texas | E-Book | sack.de
E-Book

E-Book, Deutsch, 383 Seiten, E-Book Epub

Pierre Jesus von Texas

Roman

E-Book, Deutsch, 383 Seiten, E-Book Epub

ISBN: 978-3-8412-0859-0
Verlag: Aufbau Verlage GmbH
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark



Vernon Little sitzt im städtischen Gefängnis von Martirio, der 'Barbecuesaucen-Hauptstadt von Texas'. Er hat ein ernsthaftes Problem: Sein Kumpel Jesus hat soeben 16 Klassenkameraden ins Jenseits befördert und sich anschließend selbst erschossen. Auf Vernon konzentrieren sich nun die gesamten Rachegelüste der Stadt und die Sensationsgier der Medien. Ausgezeichnet mit dem renommierten Booker-Preis, bejubelt von der Kritik und wochenlang auf der Spiegel-Bestsellerliste - eine literarische Sensation. 'Wütend wie ein Song von Eminem und witzig wie ein Film von Tarantino.' Bayerischer Rundfunk. 'Raffinierter und treffsicherer als Michael Moore. Wir schwören, etwas Besseres hat man lange nicht gelesen.' AMICA. 'Die böseste und beste Satire auf Amerika.' Die Welt. 'Ein perfektes Buch.' Literaturen.

DBC Pierre wurde für seinen ersten Roman »Jesus von Texas« mit dem Booker Prize, dem Whitbread First Novel Award und dem Bollinger Everyman Wodehouse Award ausgezeichnet. Es folgten »Bunny und Blair«, »Das Buch Gabriel« und »Licht aus im Wunderland«. Seine Romane sind in 43 Sprachen übersetzt. DBC Pierre lebt im County Leitrim, Irland.

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eins


Es ist höllisch heiß in Martirio, doch die Zeitungen auf der Veranda sind voller frostiger Neuigkeiten. Ihr kommt nie drauf, wer am Dienstag die ganze Nacht mitten auf der Straße rumgestanden hat. Kleiner Tip? Denkt mal an die rotzige olle Mrs. Lechuga. Ihre Haut war gekräuselt wie ein Leichentuch im Wind. Schwer zu sagen, ob es am Verandalicht lag, das durch die Weiden fiel, und an den Motten, die darin herumflatterten, oder ob sie wirklich so sehr geschlottert hat. So oder so, als es hell wurde, sah man die Pfütze zwischen ihren Füßen. Hier ist nichts mehr normal, soviel steht fest – die Normalität ist schreiend aus der Stadt geflohen, wahrscheinlich für immer. Ich hab wirklich versucht, das Leben zu kapieren, manchmal kam es mir sogar großartig vor. Doch damit hat sich’s jetzt erst mal, nach allem, was passiert ist. Ich meine, was soll das denn für ein Scheißleben sein?

Heute ist Freitag, und ich sitze im Büro des Sheriffs. Fühlt sich an wie ein Freitag in der Schule oder so. Schule – noch so ein beschissenes Thema.

Ich hocke zwischen den Lichtfeldern, die aus den Türen in den Gang fallen, und warte. Abgesehen von meinen Schuhen und der Unterwäsche von Donnerstag, bin ich nackt. Sieht ganz so aus, als wär ich bis jetzt der erste, den sie drangekriegt haben. Nicht, daß ich irgendwie in Schwierigkeiten wäre, absolut nicht. Mit Dienstag hab ich nichts zu tun. Trotzdem wärt ihr heute lieber nicht an meiner Stelle. Da würde euch nämlich der alte schwarze Typ einfallen, der vergangenen Winter in den Nachrichten war – Clarence Soundso. Der Irre, der die ganze Zeit vor sich hin gedöst hat, und die Kamera immer direkt drauf. Das war in genau demselben holzvertäfelten Gang. Sie haben gesagt, seine Apathie zeigt, wie wenig ihn die Konsequenzen seiner Handlungen kümmern. Wobei mit »Konsequenzen« Axtwunden gemeint waren, wenn ich das richtig verstanden hab. Ol’ Clarence war kahlgeschoren wie ein Tier und hatte so ’nen Krankenhausanzug für Psychopathen an, dazu ’ne Brille mit Gläsern wie Flaschenböden, so eine, die Leute aufhaben, bei denen man nur noch Zahnfleisch, aber keine Zähne mehr sieht. Dann bauten sie ihm einen Zookäfig in den Gerichtssaal und verurteilten ihn zum Tode.

Ich sitz da und stiere auf meine Nikes. Jordan New Jacks, Mann. Ich würd sie ja mit Spucke auf Hochglanz bringen, aber was hätte das für einen Sinn, nackt, wie ich bin. Außerdem sind meine Finger klebrig. Ich könnt schwören, diese Farbe würde einen Atomkrieg überleben – Kakerlaken und diese beschissene Fingerabdrucksfarbe.

Ein riesiger Schatten wabert durch das dunkle Ende des Gangs, gefolgt von seinem Besitzer, einer Lady. Als sie näher kommt, erfaßt das Licht aus einer der Türen die Bar-B-Chew-Barn-Schachtel, die sie im Arm hält; außerdem einen Beutel mit meinen Klamotten und ein Telefon, in das sie versucht zu sprechen. Sie ist langsam, sie schwitzt, und ihre Gesichtszüge streben auf die Mitte zu – trotz der Uniform eindeutig eine Gurie. Ein anderer Polizist folgt ihr, aber sie wedelt abwehrend mit der Hand.

»Laß mich das Vorgespräch machen – ich sag dir dann Bescheid, wenn’s soweit ist für die offizielle Aussage.« Sie schiebt sich das Telefon wieder vor den Mund und räuspert sich. Ihre Stimme wird scharf und schrill.

»Ch-chrr, wer sagt denn, daß du ein Trottel bist – ich versuch dir lediglich zu erklären, daß schtass-tistisch gesehen SWAT-Teams die Opferzahlen senken können.« Sie spricht so hoch, daß ihr die Schachtel runterfällt. »Mittagessen«, ächzt sie, als sie sich bückt. »Nur Salat, Pupselchen, ich schwör’s.« Dann sieht sie mich und beendet das Gespräch.

Ich setz mich auf, um zu erfahren, ob meine Mutter gekommen ist. Ist sie nicht. Ich hab’s vorher gewußt, so ein schlaues Kerlchen bin ich. Und so verflucht genial, daß ich trotzdem drauf hoffe. Vernon Genie Little.

Sie läßt die Klamotten in meinen Schoß fallen. »Hier entlang.«

So viel zu Mom. Wie üblich wird sie in der ganzen Stadt um Mitleid betteln. »Vern ist einfach total am Ende.« Sie nennt mich nur Vern, wenn sie mit ihren Kaffeefreundinnen zusammenhockt und vorführen will, wie verdammt nah wir uns stehen. Hauptsache, niemand kriegt mit, was für peinlich verkorkste Figuren wir abgeben. Ganz ehrlich, wäre meine alte Dame mit Gebrauchsanweisung geliefert worden, hätte garantiert dringestanden, daß man ihr am Ende einen Tritt in den Arsch geben soll. Jedem ist klar, daß es letzten Endes Jesus ist, der für Dienstag die Verantwortung trägt, außer meiner Mom. Ich brauch bloß bei den Ermittlungen zu helfen, und schon kriegt sie das bescheuerte Tourette-Syndrom, oder wie man das nennt, wenn deine Arme wild in der Gegend rumrudern.

Die Polizistin führt mich in einen Raum mit einem Tisch und zwei Stühlen. Kein Fenster, nur ein Bild von meinem Freund Jesus, das mit Klebestreifen an der Tür befestigt ist. Ich kriege den fleckigen Stuhl. Ich ziehe mir meine Sachen über und stell mir vor, es sei vergangenes Wochenende: nichts als vertraute, abgegriffene Augenblicke, die durch Klimaanlagen mit fehlenden Reglern in die Stadt tropfen; Spaniels, die von Rasensprengern trinken wollen und statt dessen einen Tritt vor die Nase bekommen.

»Vernon Gregory Little?« Die Lady bietet mir ein gegrilltes Rippchen an, doch das Angebot ist halbherzig, und, ehrlich gesagt, man würde sich schlecht fühlen, es anzunehmen, wenn man sieht, wie gierig ihre drei Kinne dabei zittern.

Sie legt mein Rippchen in die Schachtel zurück und greift sich selber ein anderes. »Ch-chr, fangen wir mal ganz am Anfang an. Dein fester Wohnsitz ist 17 Beulah Drive?«

»Ja, Ma’am.«

»Wer wohnt außer dir dort?«

»Niemand, nur meine Mom.«

»Doris Eleanor Little …« Barbecuesauce tropft auf ihr Namensschild. Deputy Vaine Gurie steht da drauf. »Du bist also fünfzehn Jahre alt – schwieriges Alter.«

Will sie mich verarschen oder was? Ich reibe meine New Jacks aneinander, zur moralischen Stärkung.

»Ma’am – dauert das noch lange?«

Einen Moment lang sind ihre Augen weit aufgerissen, dann verengen sie sich zu einem schmalen Schielen. »Vernon, es geht hier um Beihilfe zum Mord. Es dauert so lange, wie es dauert.«

»Aber …«

»Und erzähl mir bloß nicht, du wärst nicht eng befreundet gewesen mit dem Mexikaner-Bengel – sein einziger Freund sogar. Fang besser gar nicht erst damit an.«

»Aber, Ma’am, ich meine – es muß doch massenweise Zeugen geben, die mehr gesehen haben als ich.«

»Ach ja?« Sie schaut sich im Zimmer um. »Ich sehe sonst niemanden. Du etwa?«

Wie ein Idiot glotze ich umher. O Mann. Sie fängt meinen Blick auf und bringt ihn wieder auf Kurs. »Mr. Little, du weißt doch hoffentlich, warum du hier bist, oder?«

»Klar, glaub schon.«

»Dann hör mir mal gut zu. Meine Aufgabe ist es, die Wahrheit herauszufinden. Wenn du denkst, das ist schwierig, dann laß dir gesagt sein, daß es schtass-tistisch gesehen nur zwei Faktoren gibt, die unsere Existenz bestimmen. Du weißt, welche das sind? Die zwei Faktoren, die allem Leben auf dieser Welt zugrunde liegen?«

»Ähm – Reichtum und Armut?«

»Reichtum und Armut sind es nicht.«

»Gut und Böse?«

»Nein. Ursache und Wirkung. Und bevor wir anfangen, wirst du mir noch sagen, welche zwei Kategorien von Menschen nachweislich diese Welt bevölkern. Also, ich höre – welche zwei Kategorien von Menschen gibt es?«

»Verursacher und, ähm, Bewirker?«

»Falsch. Es gibt Bürger – und Lügner. Verstehst du das, Mr. Little? Kannst du mir folgen

Mann, ist ja gut. Ich würd gern sagen: »Nee, ich folge gerade ihren blöden Töchtern runter zum See«, aber ich laß es lieber bleiben. Soviel ich weiß, hat sie nicht mal Töchter. Jetzt muß ich garantiert den ganzen Tag daran denken, was ich hätte sagen sollen. Was für eine Scheiße.

Sie reißt einen Streifen Fleisch vom Knochen und klatscht ihn sich in den Mund; es sieht aus wie Scheiße, die in den Arsch reinrutscht statt raus. »Ich nehm an, du weißt, was ein Lügner ist. Ein Lügner ist ein Psychopath – jemand, der graue Bereiche zwischen Schwarz und Weiß zeichnet. Es ist meine Pflicht, dich darauf hinzuweisen, daß es keine grauen Bereiche gibt. Fakten sind Fakten – oder Lügen. Kannst du mir folgen?«

»Ja, Ma’am.«

»Das will ich hoffen. Kannst du hinreichend darüber Auskunft geben, wo du dich am Dienstag vormittag um zehn Uhr fünfzehn aufgehalten hast?«

»In der Schule.«

»Welches Fach du hattest, meine ich.«

»Äh – Mathe.«

Gurie läßt ihren Knochen sinken und glotzt mich an. »Welche wichtigen Grundsätze über Schwarz und Weiß hab ich dir eben zu vermitteln versucht?«

»Ich hab nicht gesagt, daß ich im Klassenzimmer war …«

Es klopft an der Tür, gerade noch rechtzeitig, bevor meine Nikes miteinander verschmelzen. Eine Betonfrisur schaut ins Zimmer. »Vernon Little, ist der hier? Seine Mutter ist am Telefon.«

»Okay, Eileena.« Gurie wirft mir einen stechenden Blick zu, um mir zu verstehen zu geben, daß ich mich nicht zu früh freuen soll, und deutet mit dem Knochen zur Tür. Ich folge der Betonlady zum Empfang.

Scheiße, ich wäre so was von dankbar, wenn’s nicht meine alte Dame wäre. Ganz unter uns – manchmal hab ich das Gefühl, daß sie mir bei der Geburt ein Messer in den Rücken gestoßen hat und seitdem ständig in der Wunde rumstochert, damit sie ja nicht zuheilt. Mit jedem blöden Pieps, den sie von sich gibt, bohrt sie ein bißchen darin rum. Und jetzt, wo mein Daddy nicht...


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