Historischer Luftfahrtroman über den Junkers-Flugdienst Persien 1929
E-Book, Deutsch, 567 Seiten
ISBN: 978-3-7565-7322-6
Verlag: neobooks
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Stefan Piasecki verfasst spannende und präzise recherchierte Romane. Neben dem WK2-Drama 'Kleine Frau im Mond', dem Stasi-Spionageroman 'Die Sterne der Welt', dem Medienthriller 'Long Forgotten' und der 'Colony Wars Tranthal-Serie' legt er mit 'Himmelsleiter - Nardebane Aseman' einen historischen Roman zu den Anfängen der interkontinentalen Luftfahrt vor. Als Hochschullehrer lehrt und forscht er über die gesellschaftlichen Auswirkungen technologischer Innovationen und Entwicklungen.
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Einladung nach Potsdam
Die grauen Strähnchen des dunkelblonden Oberlippenbartes pflegte Wilhelm Darburg gerne zu verstecken, wenn er in Gedanken darüber strich. Zeichen des Alters. Wenige Monate vor dem vierzigsten Geburtstag nicht unüblich. Er ignorierte sie für gewöhnlich. Der Hörsaal im ersten Stock der Friedrich-Wilhelms-Universität zu Berlin war gut gefüllt und die Studenten hingen an seinen Lippen. Selbst wenn er kein hauptamtlicher Professor war – als außerordentliche Lehrkraft genoss er Respekt und Ansehen. Leider fehlte zu seinem Glück das sichere Gehalt eines Hochschullehrers.
Es war warm. Bereits jetzt, Anfang Juni, befürchtete die Landwirtschaft Schlimmstes für die trockenen Felder. Als wäre die Lage nicht schon hart genug. Wirtschaftlich und auch sonst. Das Diktat von Versailles hatte Deutschland bislang alles eingebracht, außer Wohlstand und Arbeitsplätze. Wilhelm hob seinen Zeigefinger und lockte die smarten Herren zu sich, die manierlich in ihren Zweireihern in den Bänken saßen.
»Komm se mal ran, meine Herren Studenten«, witzelte er wie auf dem Jahrmarkt, wenn junge Männer zum Mitreisen gesucht wurden. Zögernd traten sie näher und bildeten drei Reihen, die andächtig auf den Apparat starrten, den er auf dem Versuchstisch aufgebaut hatte.
Er musterte sie. Niemand hatte eine Ahnung. »Das hier ist der letzte Schrei«, strahlte er. »Wir alle kennen Kathodenstrahlrekorder oder Glimmlichtröhren als Grundlagen der Faksimilemethode. Dieses«, er strich sanft an dem länglichen Gerät entlang, das aus mehreren Zylindern und einer Doppeltrommel bestand, »ist der Faksimiletelegraph nach Telefunken-Karolus-Siemens für Duplexbetrieb mit Ringphotozelle, Kerrlichtrelais und Gleichlaufregler.« Einige der Studenten aus höherem Semester hielten die Luft an. Sie wussten, was das bedeutete. Immerhin stand vor ihnen eine Weltneuheit. Die jüngeren glotzten bloß andächtig wie Schafe.
»Mit derartigen Mitteln können wir die Übertragung des Zeichensymbols nach dem Wiederholungsprinzip mit der Grenzgeschwindigkeit verwirklichen, die unser Telegraphiersystem selbst zulässt.« Er lächelte, als er in die Runde schaute und einen Rothaarigen in der letzten Reihe ansah. »Und? Hammerling?« Sein Musterstudent strahlte überlegen und reckte sich gierig um Aufmerksamkeit.
»Ein Zug beliebig vieler Impulse, wie das Morsezeichen D, kann mittels eines rotierenden Tasters einmal während jeder vollen Umdrehung ausgesandt werden, an der Empfangsstelle wird es vollkommen synchron mit dem Geber auf einer Filmtrommel durch ein Lichtrelais mit steiler Kennlinie fotografisch registriert.«
»Nach Art der Undulatorschrift?«, fragte Bärrlein, ein blonder Neunmalklug, und bevor Wilhelm etwas sagen konnte, kicherten die ersten. Bärrlein lief rot an und machte sich klein.
»Als lineare Strich-Punkt-Folge selbstverständlich«, sagte Hammerling schneidend, als wüsste er von dem Prinzip auch schon länger als seit einer Woche.
Wilhelm schlug eine Mappe auf und holte Papiere heraus. »Das sind die jüngsten Versuchsergebnisse.« Andächtiges Schweigen machte das Rascheln hörbar, als er die telegrafischen Kopien ausbreitete. Das Chemigramm eines Telefunkenbandschreibers zeigte das gut erkennbare Foto eines lächelnden Mannes. Zwei Sammel-Phototelegramme legte er nebeneinander. Der Sendestreifen und die Empfangskopie waren nicht auseinanderzuhalten. Die Zeilen von maschinengeschriebenem Text waren identisch. Er ließ die Studenten die Dokumente in Ruhe betrachten.
»Die Textseiten und auch das Bild wurden in jeweils etwa einer Minute übertragen. Im Probebetrieb Berlin-Wien auf Welle 1250 Meter. Das Gerät wurde auch schon eingesetzt auf den Kurzwellenübertragungen Nauen-Rio de Janeiro, Nauen-Rom und Nauen-Moskau.«
»Das ist ein Ding«, entfuhr es Bärrlein und die Gruppe brummte. »Bilder und Text im gleichen Augenblick überall auf der Welt übertragen?«
Darburg nickte. »Das lassen Sie dann mal sacken. Bis nächste Woche.« Es dauerte eine Weile, bis die Studenten den Raum verlassen hatten. Zu beeindruckend war die Demonstration gewesen, die seine Vorlesung gekrönt hatte. Die Technik galoppierte im Sauseschritt und wo würde das alles hinführen? Kürzlich waren mit der Braun’schen Röhre Bewegtbilder per Funk übertragen worden, das sogenannte Fern-Sehen. Bärrlein war noch da und drückte sich in der Tür rum. Seine Leistungen waren mittelmäßig und er hatte schon damit gerechnet, dass der junge Mann dereinst ein Gespräch suchen würde. In der Tat wartete er auf ihn. Wilhelm hatte einen spannenden Ruf als nebenberuflicher Dozent. Seit zwanzig Jahren arbeitete er für Siemens als Fernmeldetechniker und war lange im Orient gewesen. Wie wenige andere vermochte er gekonnt Theorie und Praxis zu verbinden. »Nun, Bärrlein? Haben Sie was auf dem Herzen?«
Erfreut kam der Junge näher. »Ja, Herr Darburg!« Dessen Augen strahlten. Nach einem Sorgengespräch sah das nicht aus. »Ich war bei einer Seancé und musste dabei an Sie denken.« Da der Lehrer überrascht schwieg, fuhr er fort. »Die Teilnehmer haben sich an den Händen gehalten. Als wenn durch die Runde Energie geflossen wäre, konnte das Medium, Madame Albertine, aus dem Wissen der Anwesenden schöpfen und ihre Gedanken lesen.«
Wilhelm öffnete den Mund, aber er kam gar nicht zu einer Entgegnung.
»Es war beeindruckend! Allen Anwesenden wurde gemeinsames Wissen zuteil und Madame Albertine las daraus wie aus einem Buch. Sie war hypnotisch und konzentrierte sich auf die Nervenkraft. Es muss so gewesen sein. Sie war wie ein Körperteil, das auf die Signale des Gehirns reagierte. Das Wissen jedes Einzelnen wurde zu der Intellektualität von allen. Glauben Sie an somnambule Mehrleistung?«
Langsam schob Wilhelm seine Unterlagen in die Mappe und dachte nach. Derartige Fragen wurden schon lange diskutiert, bis jetzt ohne eindeutigen Beweis. Man hatte bei spiritistischen Sitzungen Messungen durchgeführt und kalte Ströme oder Elektrizitätserscheinungen festgestellt. Sogar Funkenflug. Meistens war es Humbug gewesen. Etliche Situationen waren hingegen nicht erklärbar. Halluzinationen und Selbsttäuschungen mögen eine Rolle gespielt haben, jedoch nicht, wenn man Messgeräte eingesetzt hatte.
»Spielen Sie auf die Theorie der kollektiven Archetypen an, das Untergrundwissen, über das wir alle verfügen sollen?«
Bärrlein grinste. »Sie kennen die Arbeit von C. G. Jung?«, staunte er glücklich und Darburg nickte schmunzelnd. »Aber Sie glauben nicht daran?«, bohrte der Jüngling nach, enttäuscht.
»Lassen Sie uns das in der kommenden Woche klären. Ich habe eine Verabredung«, mit diesen Worten klemmte er sich den Faksimiletelegraphen unter den Arm, den er sicher verschließen musste. »Ich war im Orient«, schob er versöhnlich hinterher. »Seither glaube ich an mehr Dinge, als die meisten im Leben gesehen haben.« Nein, er war nicht von Hexen-Hokuspokus überzeugt. Aber er wollte Bärrlein seine Motivation nicht nehmen. Wenn es das Vertrauen auf menschlichen Kriechstrom war, der ihn zum Lernen animierte, dann bitte schön. Der Student strahlte ihn an und öffnete bereitwillig die Tür. Es war bekannt, dass Herr Darburg sich nicht gerne helfen ließ, deshalb hielt er sich zurück.
Zügigen Schrittes verließ Wilhelm die Friedrich-Wilhelms-Universität durch den Hauptausgang und trat auf die Straße Unter den Linden. Quer über den Gendarmenmarkt, am Kupfergraben entlang und seitlich des Schlosses rüber zum Nikolaiviertel, dann würde er bald zu Hause sein. Und musste sich trotzdem eilen, denn am Nachmittag wollte er mit Gertrude flanieren gehen. Erst vor wenigen Wochen hatten sie sich kennengelernt. Seine Hübsche, zudem deutlich jünger, fünfzehn Jahre, um genau zu sein. Mitte Zwanzig. Die Schneiderin und er, der alte, ewige Junggeselle. Aber sie mochten sich und das war die Hauptsache. Beide kamen über die Runden, wenn sie gemeinsam spazieren gingen, machten sie groß was her. Dank ihrer Künste war er heutzutage gut gekleidet wie nie zuvor. Er lief die Rathausstraße weiter bis zur Poststraße und erst dann betrat er das Nikolaiviertel. Am Spreeufer entlang wäre der Weg kürzer gewesen, aber über die Poststraße und durch die Hinterhöfe würde er seinem Hauswirt entgehen, der für gewöhnlich schon in der Mittagsstunde den Kneipenbesuch begann. Danach war mit ihm nicht mehr gut umzugehen. Erst recht nicht, wenn man mit der Miete im Rückstand war. Und das war er. Mal wieder. Gestern hatte der Mann ihn erwischt und bedroht. Wut schüttelte ihn, bei dem Gedanken an dessen Respektlosigkeiten.
Heute hatte er Glück. Unbemerkt kam er an. Mit einem unguten Gefühl langte er in den Briefkasten und fand ein blütenweißes Kuvert. Neugierig hob er es hoch. Verschlossen. Das war nie und nimmer eine Mahnung von Walterscheidt, dem Hauswirt. Er sah sich kurz um, dann schob er ihn in die Innentasche seiner Weste und stieg bis unters Dach. Die Wohnung hatte er kaum betreten, da öffnete er vorsichtig den edlen Umschlag. Leider riss er ein und so würde er ihn nicht erneut verwenden können.
Auf geprägtem Papier standen unterhalb des goldenen Signets ›Theodor Simon, Textilfabrikant. Potsdam‹ maschinengeschriebene Zeilen: Sehr geehrter Herr Darburg. Ihre Anwesenheit wird erbeten für den 6. Juni, 16 Uhr. Bitte suchen Sie meine Geschäftsräume auf: Simon’sche Seidenfabrik. Wielandstraße.
Der 6. Juni – das war heute! So kurzfristig? Sollte er Getrude jetzt etwa einen Korb geben? Andererseits: Er war ohne feste Beschäftigung. Und diese Einladung ... versprach sie nicht eine Tätigkeit, die sich lohnte? Was mochte eine Seidenfabrik von ihm wollen? Eine Anbindung an die telegrafischen Netze? Oder die...