Pfordten | Menschenwürde | E-Book | sack.de
E-Book

E-Book, Deutsch, Band 2856, 128 Seiten

Reihe: Beck'sche Reihe

Pfordten Menschenwürde

E-Book, Deutsch, Band 2856, 128 Seiten

Reihe: Beck'sche Reihe

ISBN: 978-3-406-79696-8
Verlag: Verlag C. H. Beck GmbH & Co. KG
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark



Die Menschenwürde ist der zentrale Wert unserer Ethik und unseres Rechts. Zuletzt ins Bewusstsein getreten und im Recht verankert, hat sie sich mittlerweile vor alle Menschenrechte geschoben. Doch wieso taucht die Einsicht in die Menschenwürde erst so spät auf? Und warum hat sie diese besondere Stellung? Was ist überhaupt die Menschenwürde? Und wodurch wird sie verletzt? Schließlich: Welche Folgerungen ergeben sich aus ihr für Anwendungen in Moral und Recht? Die brillante Einführung des Rechtsphilosophen Dietmar von der Pfordten wendet sich an alle diejenigen, die Menschenwürde als oberstes Gebot von Ethik, Recht und Staat besser verstehen wollen.
Pfordten Menschenwürde jetzt bestellen!

Autoren/Hrsg.


Weitere Infos & Material


III. Auffassungen der Menschenwürde
Trotz des gefestigten Begriffsverständnisses und der klaren rechtlichen Regelung der Menschenwürde im Sinne der großen, kleinen, mittleren und ökonomischen Würde finden sich vor allem in der Philosophie die unterschiedlichsten Vorschläge zu einer Interpretation des Begriffs der Menschenwürde. Manche versuchen, den Begriff zu reduzieren, nicht selten weil er zu ihrer reduktiven oder utilitaristischen bzw. konsequentialistischen Ethikvorstellung nicht passt. Die folgenden Interpretationen der Menschenwürde sind nach abnehmender Stärke bzw. zunehmend reduktivem Charakter geordnet. 1. Selbstbestimmung über die eigenen Belange
Ausgangspunkt der stärksten Interpretation ist der große Begriff der Menschenwürde, wie er seit zweitausend Jahren vor allem von Cicero, den christlichen Denkern und Kant entwickelt und durch die Charta und Allgemeine Menschenrechtserklärung der Vereinten Nationen sowie Art. 1 des deutschen Grundgesetzes und die EU-Charta statuiert ist, also der Begriff einer inneren, im Kern unveränderlichen, notwendigen und allgemeinen Eigenschaft des Menschen. Diese Eigenschaft wurde vor allem seit Kant von metaphysischen und religiösen Fundamenten gelöst und als Selbstbestimmung bzw. Autonomie des Menschen konkretisiert. Die weiterführende Frage lautet dann: Wie ist diese Menschenwürde als Selbstbestimmung genauer zu verstehen? Einige neuere Autoren haben versucht, die innere Eigenschaft der großen Menschenwürde mit Hilfe des Begriffs der Freiheit zu konkretisieren, etwa als Willensfreiheit (Tiedemann, Menschenwürde als Rechtsbegriff, S. 253ff.) oder als innere Freiheit (Goos, Innere Freiheit, S. 95ff.). Die Interpretation als Freiheit ist sicherlich so weit zutreffend, als sich die Begriffe der Selbstbestimmung und der Freiheit in ihrer Bedeutung überlappen. Das ist allerdings nur teilweise der Fall. Worin liegt die Differenz? Der Begriff der Selbstbestimmung kann sich erstens auf die Entscheidungsfreiheit beschränken und hat zweitens auch eine praktisch-normative Bedeutung. Selbstbestimmung ist immer gegen Fremdbestimmung gerichtet, geschehe diese Fremdbestimmung durch andere, einen selbst oder einen Teil von einem selbst, etwa den eigenen Körper, z.B. im Fall der Folter. Der Begriff der Freiheit kann diese praktisch-normative Bedeutung des Begriffs der Selbstbestimmung annehmen und wird dann synonym mit dem Begriff der Selbstbestimmung. Der Begriff der Freiheit kann aber auch rein deskriptiv-theoretisch verstanden werden. Die normative Dimension ist also nicht notwendig für ihn. Was ist der Grund für diese Bedeutungsdifferenz zwischen den Begriffen der Freiheit und der Selbstbestimmung? Der Begriff der Freiheit verweist – wie bereits Kant festgestellt hat – auf ein sehr grundlegendes Phänomen bzw. Faktum. Dieses Phänomen ist ohne Zweifel eine metaphysisch-ontologische Grundlage der Selbstbestimmung des Menschen und damit der großen Menschenwürde. Aber als metaphysisch-ontologische Grundlage umfasst das Faktum der Freiheit nicht die praktisch-normative Dimension der Selbstbestimmung. Das bedeutet: Der Begriff der Selbstbestimmung und damit der großen Menschenwürde setzt zwar die Freiheit als Faktum zumindest in der minimalen Form der Entscheidungsfreiheit voraus. Er verknüpft dieses Faktum aber bereits mit einer Bewertung bzw. Verpflichtung. Diese normative Dimension wird ausgeblendet, wenn man die Menschenwürde als Willensfreiheit oder innere Freiheit charakterisiert. Der Versuch, den Begriff der Menschenwürde durch den Begriff der Freiheit zu explizieren, geht also vom Begriff der Selbstbestimmung quasi einen Begründungschritt zurück, statt einen Schritt vorwärts zu gehen. Er formuliert die faktische Grundlage der Selbstbestimmung, konkretisiert die Selbstbestimmung aber nicht. Im Übrigen kann der Versuch, die Menschenwürde als Freiheit zu verstehen, auch nicht erklären, warum man den Menschenwürdebegriff noch benötigt, sofern man bereits den Freiheitsbegriff einsetzen kann. Es hat also methodisch keinen Sinn, den Begriff der Selbstbestimmung durch den metaphysisch-ontologisch grundlegenderen, gerade deshalb aber auch problematischeren und anspruchsvolleren Begriff der Freiheit zu definieren. Man wird vielmehr menschliche Eigenschaften aufsuchen müssen, welche auch normativ bedeutsam sind. Der Schlüssel zu einem besseren Verständnis des Begriffs der Selbstbestimmung liegt somit in seiner zusätzlichen, praktisch-normativen Dimension. Man muss fragen: Wie kommt es zu dieser Dimension? Oder anders ausgedrückt: Welche Eigenschaften des Menschen sind zugleich tatsächlich bestehend und normativ signifikant? Mit dieser Formulierung der Frage gewinnt man Anschluss an eine ethische Diskussion, die seit mehreren Jahrhunderten geführt wird; genauer, seitdem sich in der Neuzeit der normative Individualismus als Grundlage der Ethik durchzusetzen begonnen hat, also die Auffassung, dass letztlich nur Individuen (Menschen, Tiere etc.) ethisch bedeutsame Wesen sind, nicht aber Kollektive wie die Sippe, die Rasse, die Nation, der Staat oder die Gesellschaft, was ein normativer Kollektivismus annimmt (vgl. von der Pfordten, Normative Ethik, S. 28; ders./Kähler, Normativer Individualismus in Ethik, Politik und Recht). Sind letztlich nur Individuen ethisch bedeutsam, dann stellt sich die Frage, welche Eigenschaft dieser Individuen normativ-ethisch relevant ist. Dazu gibt es eine unübersehbare Vielzahl von Vorschlägen: Streben nach Selbsterhaltung (Hobbes), faktische Einwilligung (Locke), Wille, Willkür (Rousseau, Kant), Lust und Leid bzw. Nutzenbefriedigung (Bentham, Mill, Utilitarismus), Rechte (Nozick, Dworkin), Bedürfnisse (Marx, Apel), Freiheiten (v. Hayek), Interessen (Patzig, Hoerster, Höffe), Präferenzen (Arrow, Gauthier), Wohlergehen (Griffin, Raz), Fähigkeiten (Sen, Nussbaum), fiktive Zustimmung bzw. Rechtfertigung (Rawls, Scanlon, Habermas, Koller). Zur Lösung sollte man sich Folgendes vor Augen halten: Will man die Individuen wirklich als solche ernst nehmen, so darf man ihnen keine bestimmte Eigenschaft von außen zuschreiben, sondern muss sie grundsätzlich selbst entscheiden lassen, welcher Aspekt ihrer Individualität im Rahmen ethischer Konflikte ausschlaggebend sein soll. Eine solche Selbstentscheidung ist aber natürlich im Rahmen einer abstrakten ethischen Theorie nicht für konkrete Konflikte und konkrete Individuen möglich. Dann muss man zumindest Eigenschaften suchen, durch welche die Selbstentscheidung der Individuen möglichst ernst genommen wird. Das führt zur Unhaltbarkeit der Reduktion der normativen Eigenschaften auf Lust und Leid, also der mangelnden Erklärungskraft des Hedonismus: Es mag sein, dass manche unserer einzelnen Belange motivational auf Lust und Leid rückführbar sind oder zumindest auch Aspekte von Lust und Leid enthalten. Aber wir nehmen als entscheidungsfähige Wesen für uns in Anspruch, körperliche Strebungen bzw. Bedürfnisse der Lustvermehrung und Leidvermeidung noch einmal durch unseren Willen und unsere geistigen Fähigkeiten zu bewerten. Wir setzen etwa ein Tennisspiel trotz verletzungsbedingter Schmerzen fort. Wir helfen anderen, weil wir dazu ethisch und moralisch verpflichtet sind, selbst wenn dies Gefühle der Unlust bei uns erzeugt. Diesem Anspruch auf eine Bewertung körperlicher Strebungen und Bedürfnisse, der ein zentraler Ausdruck unserer Individualität und unseres Selbstverständnisses ist, muss eine Ethik Rechnung tragen. Dabei ist es nicht nur erforderlich, dass die gesuchten Eigenschaften tatsächlich vorhanden sind, sondern auch, dass sie eine normative Dimension aufweisen. Neben der Selbstbestimmung über die entscheidende Eigenschaft ist also weiterhin ihr normativer Charakter wesentlich. Bloß tatsächliche Eigenschaften ohne diesen normativen Charakter können diese praktische Aufgabe nicht ausfüllen. Auch aus diesem Grund können Lust und Leid nicht als letzte Eigenschaften überzeugen, denn sie sind faktische Gefühle ohne eine letztentscheidende normative Dimension. Dies kann man einfach daran sehen, dass man sich zu Lust und Leid noch einmal normativ verhalten kann. Man kann also etwa in einem konkreten Fall die eigene Lust wünschen oder nicht wünschen und dann ist – anders als z.B. bei Bedürfnissen – nur der Wunsch normativ entscheidend. An dieser Stelle können nicht alle erwähnten Vorschläge diskutiert werden. Nur die wesentlichen inneren Eigenschaften, welche sowohl tatsächlich bestehen als auch verpflichtend sind, sollen genannt werden: Strebungen, Bedürfnisse, Wünsche und Ziele des Menschen (vgl. von der Pfordten, Normative Ethik, S. 50ff.). Diese vier Eigenschaften stehen...


Dietmar von der Pfordten ist Professor für Rechts- und Sozialphilosophie an der Georg-August-Universität Göttingen und Direktor der Abteilung für Rechts- und Sozialphilosophie. Bei C.H.Beck liegt von ihm vor: "Rechtsethik" (2011) und "Rechtsphilosophie. Eine Einführung" (C.H.Beck Wissen, 2013).


Ihre Fragen, Wünsche oder Anmerkungen
Vorname*
Nachname*
Ihre E-Mail-Adresse*
Kundennr.
Ihre Nachricht*
Lediglich mit * gekennzeichnete Felder sind Pflichtfelder.
Wenn Sie die im Kontaktformular eingegebenen Daten durch Klick auf den nachfolgenden Button übersenden, erklären Sie sich damit einverstanden, dass wir Ihr Angaben für die Beantwortung Ihrer Anfrage verwenden. Selbstverständlich werden Ihre Daten vertraulich behandelt und nicht an Dritte weitergegeben. Sie können der Verwendung Ihrer Daten jederzeit widersprechen. Das Datenhandling bei Sack Fachmedien erklären wir Ihnen in unserer Datenschutzerklärung.