Was Jesus wirklich lehrte
E-Book, Deutsch, 224 Seiten
ISBN: 978-3-641-25952-5
Verlag: Gütersloher Verlagshaus
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Autoren/Hrsg.
Weitere Infos & Material
1. Die Jesusüberlieferung im Neuen Testament Was war es denn nun, was Jesus wirklich lehrte? Diese Frage zu stellen setzt Zweierlei voraus. Zum einen: Die Jesusbotschaft ist tatsächlich von Belang. Wie gleich deutlich werden wird, wird diese Einschätzung keineswegs von allen Menschen, die der Bibel und dem Christentum verbunden sind, geteilt. Zum anderen: Trotz aller Probleme ist es möglich, das, was Jesus von Nazaret einmal gelehrt hat, wieder freizulegen. Es gilt dann allerdings, der Tatsache ins Auge zu sehen, dass dabei etwas zum Vorschein kommen könnte, das das gesamte »Koordinatensystem« des Christentums, wie wir es kennen, ins Wanken bringt beziehungsweise grundlegend verändern müsste. Zunächst also: Spielt das, was Jesus lehrte, denn überhaupt eine Rolle? Besteht die Bedeutung Jesu, jedenfalls für das Christentum, nicht in etwas völlig anderem? Viele bekannte und einflussreiche Personen vertreten genau diese Position. Drei Beispiele: Der bedeutende Theologe Rudolf Bultmann (1884–1976) beginnt seine »Theologie des Neuen Testaments« mit dem Satz: »Die Verkündigung Jesu gehört zu den Voraussetzungen der Theologie des NT und ist nicht ein Teil dieser selbst.«4 Für die von den Autoren des Neuen Testaments vertretene Theologie sei die Jesusbotschaft ohne Belang, sei »nicht ein Teil dieser selbst«. Entscheidend sei vielmehr die christliche Predigt (das »Kerygma«) von der Kreuzigung und Auferstehung Jesu Christi. – In der Tat: Die Botschaft Jesu ist im Neuen Testament von untergeordneter Bedeutung. In den Briefen des Paulus und anderer spielt sie gar keine Rolle, und sogar in den Evangelien geht es nicht in erster Linie darum zu erzählen, was Jesus lehrte, sondern vor allem darum, die Bedeutung seiner Person für seine Anhänger zu klären und zu erhellen. Als eine evangelisch-lutherische Kirchengemeinde im Jahr 2003 in einer Eingabe an die bayerische Landessynode vorschlug, in das apostolische Glaubensbekenntnis zwischen die Worte »geboren von der Jungfrau Maria« und »gelitten unter Pontius Pilatus« den Passus »gelebt als menschgewordene Liebe des Vaters« einzufügen, wies Wolfgang Stegemann, seinerzeit Professor für Neues Testament an der Augustana-Hochschule in Neuendettelsau und Vorsitzender des Grundfragen-Ausschusses der Synode, dieses Ansinnen mit der Erklärung zurück, die Kirche gründe sich nicht auf den irdischen Jesus, sondern auf den auferstandenen Christus. Stegemann zufolge bleibt uns der »›wirkliche‹ Jesus, jener Mann aus Nazareth, der vor nunmehr 2000 Jahren auf den Hügeln Galiläas gewandert ist, auf immer entzogen«, er sei lediglich »eine Chimäre der Wissenschaft«5. – Tatsächlich übergeht jenes Glaubensbekenntnis das Leben Jesu praktisch völlig beziehungsweise reduziert es ganz auf sein Leiden. Das Wort »gelitten« ist nämlich, entgegen der üblichen Sprechweise, nicht mit dem folgenden »unter Pontius Pilatus« zu verbinden, sondern steht für sich allein: »Geboren von der Jungfrau Maria. Gelitten. Unter Pontius Pilatus gekreuzigt, gestorben und begraben.« Einzig bedeutsam am Leben Jesu zwischen Geburt und Tod wäre demnach allein die Tatsache, dass er »gelitten« hat, also seine Passion.6 Und von der Botschaft Jesu ist in diesem Grundbekenntnis der Kirche gleich gar nicht die Rede (und wäre es auch durch den gewünschten Einschub nicht). Anlässlich der Feiern zum 500-jährigen Reformationsjubiläum im Jahr 2017 veröffentlichte der Rat der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD) unter dem Titel »Für uns gestorben« einen sogenannten Grundlagentext. Heinrich Bedford-Strohm, Ratsvorsitzender der EKD, eröffnet sein Geleitwort dazu mit den Sätzen: »Das Kreuz steht für das Christentum. Es ist Symbol für alles, was christlicher Glaube und christliche Kirche bedeuten.« Für ihn handelt es sich bei der Sühnopfervorstellung, also bei der Deutung von Tod und Auferstehung Jesu als das alles entscheidende Heilsgeschehen, wie sie in diesem Grundlagentext entfaltet wird, um »den Kerngehalt evangelischen Glaubens«. – Dem entspricht denn auch das biblisch-kirchliche Verständnis des Abendmahls. Nach den sogenannten Einsetzungsworten, die das Brot auf den gebrochenen und getöteten Leib Jesu und den Wein auf sein zur Vergebung der Sünden vergossenes Blut beziehen, bringt die Gemeinde die Bedeutung der Mahlfeier mit folgender liturgischer Formel zum Ausdruck: »Deinen Tod, o Herr, verkünden wir, und deine Auferstehung preisen wir, bis du kommst in Herrlichkeit.« Der Tod wird eben deshalb »verkündet«, weil die Kreuzigung Jesu hier als Sühnopfer, also als ein letztlich heilvolles Geschehen gedeutet wird. Die Tischgemeinschaften Jesu, die einen völlig anderen Sinn hatten, kommen dabei überhaupt nicht in den Blick.7 Allerdings ist die Botschaft Jesu, wie im ersten Beispiel ja schon festgestellt wurde, bereits im Neuen Testament in den Hintergrund getreten. Und dies gilt nicht nur für das Neue Testament als Ganzes, sondern im Besonderen auch für die darin enthaltene Jesusüberlieferung selbst. Auch dann nämlich, wenn in den neutestamentlichen Texten unmittelbar von Jesus die Rede ist oder dieser selbst zu Wort kommt, lässt sich oftmals ganz eindeutig erkennen, dass spätere, nicht auf Jesus selbst zurückgehende Vorstellungen nachträglich mit ihm in Verbindung gebracht worden sind. Und was besonders problematisch ist: Dies betrifft nicht nur die Erzählungen über Jesus, sondern auch all die Worte, die hier von ihm selbst gesprochen werden. Es ist heute unumstritten, dass bei Weitem nicht alle Worte, die Jesus in den Evangelien sagt, auch tatsächlich auf ihn selbst zurückgehen. Sehr viele, ja die allermeisten sind ihm vielmehr erst nachträglich in den Mund gelegt worden. Ist es aber angesichts dessen überhaupt noch möglich, die ipsissima vox, die ureigene Stimme Jesu, in den Texten des Neuen Testaments zu vernehmen? Die Textkritik Ich meine, dass das trotz aller Schwierigkeiten durchaus gelingen kann. Äußerst hilfreich ist in diesem Zusammenhang die historisch-wissenschaftliche Betrachtungsweise der biblischen Überlieferung. Ich möchte sie in der Weise darstellen, dass sie auch für Menschen, die nicht »vom Fach« sind, grundsätzlich verstanden und nachvollzogen werden kann. Dafür muss ich ein wenig ausholen, doch lohnt es sich meines Erachtens, diesen möglicherweise etwas mühsamen Weg mitzugehen. Nur so wird man die Folgerungen, die ich daraus ziehe, beurteilen und sich eine Meinung dazu bilden können. Sollten Sie jedoch erst einmal vor allem am Ergebnis interessiert sein, können Sie diesen Teil natürlich, jedenfalls zunächst, auch übergehen und gleich zum nächsten Abschnitt weiterblättern. Zunächst erinnere ich noch einmal an den Text der Bibel selbst. Ganz kurz habe ich ja schon darauf aufmerksam gemacht, dass es sich bei der Bibel, die wir zur Hand nehmen, keineswegs um die Übersetzung eines konkret vorliegenden »Urtextes« handelt. Ein solches Buch gibt es nicht. Jeder Bibeltext, der einer Übersetzung zugrunde liegt, auch wenn er in der hebräischen, aramäischen oder griechischen »Ursprache« abgefasst ist, ist selbst schon das Ergebnis intensiver wissenschaftlicher Arbeit. Denn kein einziger biblischer Text liegt uns im Original vor. Wir haben beispielsweise keine Ausgabe etwa des Markusevangeliums, von der wir sagen können, dass sie sozusagen »vom Autor« ist. Wir verfügen ausschließlich über Abschriften und Abschriften von Abschriften. Diese sind nicht nur unterschiedlich alt, sondern auch von sehr unterschiedlicher Qualität, je nachdem, wie sorgfältig die Schreiber der Texte waren oder welche Interessen sie beim Abschreiben leiteten. Keine einzige Handschrift zum Beispiel des Markusevangeliums gleicht darum einer anderen. Sie weichen im Wortlaut zum Teil erheblich voneinander ab, und man kann einem »Urtext« durch die kritische Analyse der unterschiedlichen Handschriften immer nur möglichst nahekommen. Dabei spielt das Alter dieser Handschriften eine ganz entscheidende Rolle. Die griechische Handschrift, die Martin Luther für seine Übersetzung des Neuen Testaments benutzte, stammt zum Beispiel erst aus dem 12. Jahrhundert, ist also ein sehr »spät« abgeschriebener Text. Inzwischen stehen uns sehr viel ältere zur Verfügung. So besteht inzwischen kein Zweifel mehr, dass größere Abschnitte oder einzelne Verse der als kanonisch, das heißt als verbindlich erklärten Heiligen Schrift nicht von Anfang an Teil der in ihnen enthaltenen Schriften waren, sondern erst in späterer Zeit in sie eingefügt worden sind. Meist wird in den Bibelübersetzungen auch darauf hingewiesen. Drei Beispiele: An den Text des Markusevangeliums sind erst im 2. Jahrhundert n.Chr. die Erzählungen von den Erscheinungen des Auferstandenen sowie seiner Himmelfahrt angehängt worden (Kapitel 16, Vers 9–20) – vielleicht, um den ursprünglichen Abschluss des Evangeliums (»Und sie sagten niemandem etwas, denn sie fürchteten sich«, Kapitel 16, Vers 8b) abzumildern oder um das Markusevangelium an die anderen Evangelien anzugleichen. Auch die bekannte Erzählung von Jesus und der Ehebrecherin in Johannes 7,53–8,11 ist in den ältesten Handschriften dieses Evangeliums nicht enthalten, ihm also erst in späterer Zeit eingefügt worden. Gleiches gilt für den Abschluss des Vaterunsers, wie es das Matthäusevangelium in Kapitel 6, Vers 9–13 überliefert: Der zweite Teil des 13. Verses (»Denn dein ist das Reich und die Kraft und die Herrlichkeit in Ewigkeit. Amen«) fehlt in den ältesten...