Roman
E-Book, Deutsch, 256 Seiten
ISBN: 978-3-552-05848-4
Verlag: Zsolnay, Paul
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Weitere Infos & Material
1 Die Greislerin in der Wiesergasse, Frau Johanna Püchl, trat an diesem Morgen gegen halb acht Uhr aus dem Laden auf die Straße. Es war kein schöner Tag. Die Luft war feucht und kühl, der Himmel bewölkt. Das richtige Wetter, um sich einen kleinen Schnaps zu vergönnen. Aber Frau Püchls Slibowitzflasche, die im Kasten stand, war beinahe geleert, und die Greislerin beschloß, den kleinen Rest, der kaum ein »Stamperl« zu füllen vermochte, für die »Zehnerjausen« aufzusparen. Vorsichtshalber versperrte sie die Flasche in den Küchenschrank, denn ihr Ehegatte, der im Lichthof den zerbrochenen Greislerkarren reparierte, stimmte mit ihr in der Wertschätzung eines guten Schnapses völlig überein. Vor acht Uhr kamen nur ein paar Stammkunden: der Friseurgehilfe, dem sie allmorgendlich sein Frühstück, ein Butterbrot mit Schnittlauch und ein Büschel Radieschen, zurechtmachte. Zwei Schulkinder, die um zwölf Heller »saure Zuckerln« kauften. Die Köchin der Frau Inspektor aus dem ersten Stock des Elferhauses, die ein Häuptel Salat und zwei Kilo Erdäpfel bekam, und der Herr aus dem Arbeitsministerium, der seit Jahren täglich einen »feinen Aufschnitt« für sein zweites Frühstück im Geschäft der Frau Püchl erstand. Lebhaft wurde das Geschäft erst nach acht Uhr, und gegen halb neun hatte Frau Püchl alle Hände voll zu tun. Kurz nach neun Uhr erschien die alte Frau Schimek, der die Ecktrafik in der Karl-Denk-Gasse gehörte, zu einem längeren Plausch. Das Gespräch drehte sich um das Mißgeschick, das der Frau Püchl mit einer aus Ungarn bezogenen Sendung Brimsenkäs zugestoßen war. Und in diesem Gespräch wurden sie durch das Erscheinen Stanislaus Dembas unterbrochen, eben jenes Herrn Stanislaus Demba, dessen merkwürdiges Verhalten den beiden Frauen noch wochenlang reichlichen Gesprächsstoff bot. Demba war dreimal an der Tür vorbeigegangen, ehe er sich entschloß, einzutreten, und hatte jedesmal einen scheuen Blick in das Ladeninnere geworfen. Es sah aus, als suche er jemanden. Auch die Art, wie er eintrat, war auffallend: Er drückte die Klinke nicht mit der Hand, sondern mit dem linken Ellbogen nieder, und bemühte sich sodann, mit dem rechten Knie die Tür aufzustoßen, was ihm nach einigen Versuchen auch gelang. Dann schob er sich in den Laden. Er war ein großer, breitschultriger Mensch mit einem kurzen, rötlichen Schnurrbart in einem sonst glattrasierten Gesicht. Er trug seinen hellbraunen Überzieher zu einer Art Wulst gewickelt, in welchem seine Hände staken, wie in einem Muff. Er schien einen langen Weg hinter sich zu haben, seine Stiefel waren schmutzig, seine Hosen bis zu den Knien hinauf mit Straßenkot bespritzt. »Ein Butterbrot, bitte!« verlangte er. Frau Püchl langte nach dem Messer, ließ sich aber vorerst in ihrem Gespräch mit der Trafikantin nicht stören. »Also, schon das hat mir net g’fall’n: Wie das Kistl ankommt, wiegt’s vierasiebz’g Kilo, und i hab’ doch von dem Brimsen fünfasiebz’g Kilo b’stellt. Na, und wie i erst den Deckel aufmach’ – na, also i sag’ Ihna, der Brimsen hat ausg’schaut, daß ma ’n hätt’ glei auf a Sommerfrisch’n schicken können zur Erholung. Alles wach, alles zerlaufen. Was bekommt der Herr?« Stanislaus Demba hatte in seiner Ungeduld mit dem Fuß mehrere Male heftig gegen den Ladentisch gestoßen. »Ein Butterbrot, bitte, aber rasch. Ich habe Eile.« Die Greislerin ließ sich jedoch nicht ohne weiteres von dem wichtigen Gesprächsthema abdrängen. »Entschuldigen, die Frau is vor Ihnen kommen«, sagte sie zu Herrn Demba. »Muß ich sie auch z’erscht bedienen.« Das »z’erscht bedienen« bestand vorerst lediglich darin, daß sie die Fortsetzung der Brimsengeschichte ungekürzt zum besten gab. »Also, i hab’ natürli glei reklamiert, und was glauben S’ antwort’t mir der Mensch! Er hat« – sie holte einen fettbefleckten, zerknitterten Brief aus der Schürzentasche hervor und begann die Stelle zu suchen. – »Aha, da seh’n S’, da steht’s: ›… den Käse ordnungsgemäß verpackt, und habe ich für den geringfügigen Gewichtsverlust, den die Ware während des Transportes erleidet, nicht aufzukommen.‹ Für den ›geringfügigen Gewichtsverlust‹! I hab’ glaubt, mi trifft der Schlag, wie i das les’.« »Das ist halt so die gewöhnliche Redensart bei die Leut’«, meinte die Trafikantin. »Ah, da hat er aber bei mir an die unrechte Tür g’läut’t. Glaub’n S’, i lass’ mir das g’fall’n? Da wär i ja der Trottel umasunst!« »Die Leut’ haben halt ka Bildung net g’lernt!« »Das kann ja nur a Verbrecher sein, der si so äußern tut!« rief Frau Püchl im höchsten Zorn. Hier wurde sie zum drittenmal von Herrn Stanislaus Demba unterbrochen, der nicht gewillt schien, noch länger auf sein Butterbrot zu warten. »Also vielleicht«, sagte er mit einer Mischung von Nervosität, Hohn und mühsam unterdrückter Wut, »wenn sich Ihr gerechter Zorn ein bißchen gelegt haben wird, vielleicht bekomm’ ich dann doch endlich mein Butterbrot.« »Bin eh scho dabei«, sagte die Greislerin. »Nur a bisserl Geduld. Der Herr hat’s aber eilig!« »Jawohl«, sagte Stanislaus Demba kurz. »Bleiben S’ net noch, Frau Schimek?« rief Frau Püchl der fortgehenden Trafikantin nach. »I muß hinüberschau’n in mein G’schäft, i komm’ nachher eh wieder auf an Sprung.« »Der Herr ist wahrscheinlich wo fix ang’stellt; in einem Büro oder in einer Kanzlei?« fragte die Greislerin ihren neuen Kunden. »I mein’ nur, weil’s der Herr so eilig hat.« »Jedenfalls hab’ ich meine Zeit nicht gestohlen«, antwortete Demba grob. »Bin eh scho fertig.« Frau Püchl schob ihm über den Ladentisch das Butterbrot zu. »Vierundzwanzig Heller.« Herr Demba machte eine hastige Bewegung nach dem Butterbrot. Aber er nahm es nicht. Er fuhr sich mit der Zunge ein paarmal langsam über die Lippen, runzelte die Stirn und sah aus, als seien ihm plötzlich ernste Bedenken gegen den Genuß von Butterbrot aufgestiegen. »Soll ich’s vielleicht zerschneiden?« fragte die Greislerin. »Ja, natürlich, zerschneiden Sie’s. Selbstverständlich. Oder glauben Sie, daß ich das Brot auf einmal in den Mund stecken werde?« Die Frau schnitt das Brot in schmale Stücke und legte es vor den Kunden hin. Demba ließ das Brot liegen. Er trommelte mit der Fußspitze gegen den Boden und schnalzte mit der Zunge, wie jemand, der ungeduldig auf ein Ereignis wartet, das sich nicht einstellen will. Seine Augen blickten unter dem horngefaßten Zwicker wie hilfesuchend im Laden umher. »Bekommt der Herr sonst noch was?« fragte Frau Püchl. »Wie? Ja. Haben Sie vielleicht Krakauer?« »Krakauer net. A Extrawurst wär’ da, a Preßwurst, dürre Wurst, Salami.« »Also Extrawurst.« »Wieviel?« »Acht Deka. Oder zehn Deka.« »Zehn Deka. So bitte.« Die Frau schlug die Wurst in ein Papier und legte das Päckchen neben das Butterbrot. »Macht vierundsechzig Heller, beides zusammen.« Demba nahm weder das eine noch das andere. Er hatte plötzlich außerordentlich viel Zeit und zeigte ein überraschendes Interesse für die kleinen Besonderheiten der Inneneinrichtung eines Greislerladens. Er suchte die Etikette einer Essigflasche zu entziffern und wandte sich sodann dem Studium mehrerer Blechplakate zu, die an den Wänden und über dem Ladentisch hingen. »Verkaufsstelle des beliebten Hasenmayerschen Roggenbrots.« – »Chwojkas Seifensand hält rein die Hand«, las er mit großer Aufmerksamkeit, wobei sich seine Lippen lautlos mitbewegten. »Das ist doch das beliebte Hasenmayersche Roggenbrot?« fragte er dann und bückte sich prüfend über das Butterbrot, auf das sich inzwischen zwei Fliegen niedergelassen hatten. »Nein, das ist Brot aus den Heureka-Werken.« »So. Eigentlich habe ich Hasenmayersches Roggenbrot haben wollen.« »Schmeckt eh eins wie ’s andere und billiger is a net«, gab die Greislerin zur Antwort. »Dann ist’s gut.« Dembas Verhalten wurde immer rätselhafter. Jetzt blickte er mit verzerrtem Gesicht zur Ladendecke hinauf und biß sich wütend in die Lippen. »Könnten Sie mir die Sachen da nicht nach Haus schicken?« fragte er plötzlich, während ihm ein kleiner Schweißtropfen die Stirne herunterlief. »Mein Name ist Stanislaus Demba.« »Die Sachen nach Haus schicken? Welche Sachen?« »Die Sachen da.« Herr Demba wies mit den Augen...