E-Book, Deutsch, 460 Seiten
Perry Die Stille des Bösen
1. Auflage 2021
ISBN: 978-3-03792-185-2
Verlag: Atrium Verlag AG
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Thriller
E-Book, Deutsch, 460 Seiten
ISBN: 978-3-03792-185-2
Verlag: Atrium Verlag AG
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Kyle Perry arbeitet in verschiedenen Highschools, Jugendeinrichtungen und Entzugskliniken als Therapeut und Sozialarbeiter und lebt in Hobart, Tasmanien. Er ist mit dem tasmanischen Busch und dem Meer aufgewachsen, und die Natur spielt eine wichtige Rolle in seinem Leben und Schreiben. Sein Debütroman ?Die Stille des Bösen? stand u. a. auf der Shortlist für das Dymocks Book of the Year, das Indie's Debut Fiction Book of the Year und die Best First Novel bei den International Thriller Writers Awards.
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Kapitel eins
Murphy
Murphy seufzte. »Das Thema ist erledigt.« Er saß oben ohne an dem wackeligen Esstisch und sprach mit erhobener Stimme gegen den dröhnenden Jon-Bellion-Song aus dem Bluetooth-Lautsprecher in der Ecke an. »Camping ist für dich.«
»Ich kann zu Hause helfen«, sagte seine sechzehnjährige Tochter Jasmine im Schmeichelton. Sie stand gegen den Tisch gelehnt, ihre dicke schwarz-weiße Katze Myrte wand sich in ihren Armen. »Ich kann Rasen mähen. Ich kann Fenster putzen …«
»Du gehst zur Schule. « Murphy nahm ein Klümpchen von dem süßen, klebrigen Marihuana, das den ganzen Tisch übersäte, und legte es auf die elektronische Waage.
Die Küche war baufällig, die Schranktüren waren lose, die Armaturen undicht, die Tapete und der braune Linoleumfußboden lösten sich vom Untergrund. Katzensichere Zimmerpflanzen bedeckten so gut wie alle Stellflächen – oben, wo die Katzen nicht hinkamen, zog sich Teufelsefeu über die Schränke. Den hatte Jasmine angeschleppt, ihr neuester Versuch, die Luft von Zigarettenrauch und Dope zu befreien.
»Ich kann …«
, sagte Murphy wieder.
Jasmine, klein und zierlich wie ihre verstorbene Mutter, trug heftigen Lidschatten und einen dunklen Lidstrich um die leuchtend hellblauen Augen. Die Haare hatte sie zu einem Pferdeschwanz zurückgebunden. Eigentlich waren sie rot, auch das ein Erbe ihrer Mutter, aber Jasmine hatte sie rabenschwarz gefärbt.
Murphy dagegen war groß, trug einen wilden Vollbart und hatte die Figur eines Holzfällers: keltische Tattoos auf breiter Brust, muskelbepackte Arme, kräftige Beine. Er trug nur die zerknitterten Calvin-Klein-Boxershorts, in denen er geschlafen hatte.
Die Katze maunzte und befreite sich mit einem Sprung aus Jasmines Armen. Myrte, benannt nach der Maulenden Myrte aus , machte ein paar Schritte, ließ sich auf die Seite plumpsen und schlief offensichtlich sofort ein.
»Hör mal, Dad, ich glaube, du checkst nicht ganz, was ich dir hier anbiete …«
»Ich checke ganz genau, was du mir hier anbietest, Süße.«
»Aber wir gehen , Dad!«
»Es wird dich nicht umbringen.«
»Das kannst du nicht wissen …«
»Sie hierbleiben und ihr Zimmer aufräumen, Bro«, meldete sich Jasmines Onkel Butch zu Wort. Er war ebenfalls in der Küche und machte Frühstück, bewegte sich im Takt der Musik, einen Joint in der einen, eine Bratpfanne mit Speck in der anderen Hand. Er trug seine Standarduniform, ein dunkelblaues Muskelshirt und dazu verdreckte Sportshorts.
»Tu das nicht!«, warnte Murphy ihn, ganz auf seine Aufgabe fokussiert. Er gab noch etwas Gras auf die Waage, bis exakt eine Unze erreicht war.
Die Ähnlichkeit zwischen Butch und seinem jüngeren Bruder Murphy war offensichtlich, nur dass Butch entschieden runder war. Außerdem trug er Dolche und einen mexikanischen Zuckerschädel auf den Nacken tätowiert. Butch hatte seinen Spitznamen in der Schule wegen seiner Größe kassiert, dabei waren sie beide gleich groß, nämlich genau eins neunzig. Niemand nannte sie bei ihren Vornamen, es sei denn, er war auf Streit aus.
»Darf ich zu Hause bleiben, Onkel Butch?« Mit federleichtem Schritt tänzelte Jasmine zu ihm rüber. »Bitte? Darf ich?«
»Logo, Jaz«, sagte Butch und zog an seinem Joint. »Pa-pa-partytime bei den Mu-mu-murphys.«
»Deine Lehrerin hat mich angerufen, um sicherzustellen, dass du kommst«, sagte Murphy. Mit routinierten Handgriffen füllte er die Unze Dope in ein Plastiktütchen und verschweißte es mit einem Vakuumiergerät. »Du hast dieses Jahr schon zu oft blaugemacht. Also du zur Schule gehen, und du mit ins Klassencamp fahren, und .«
»Tja, Jaz, wenn das sagt …«, meinte Butch.
»Das ist der einzige Grund, warum er mich zwingt«, sagte Jasmine angewidert. »Er will ihr an die Wäsche.«
Murphy wandte sich wieder seiner Arbeit zu, nahm das versiegelte Tütchen und klatschte einen Aufkleber drauf – einen der »THE CAPTAIN«-Sticker, die sie online en gros bei The Mad Hueys bezogen –, der das Päckchen als bestes Buschgras in Nordtasmanien kennzeichnete. Auch wenn es riskant war, weil ihre Ware damit identifizierbar wurde, hatte es den Zusatznutzen, dass sie Sergeant Doble damit direkt vor der Nase rumtanzten – Sergeant Doble, ihr größter Kontrahent und Kotzbrocken, der permanent versuchte, auf der Straße möglichst viel von ihrem Stoff sicherzustellen.
»Wie kommst du drauf, dass ich ihr nicht schon längst an die Wäsche gegangen bin?«, fragte Murphy.
»Eklig! Dad!«
»Heee, Murphy, ich war Erster!«, sagte Butch und zwinkerte Jasmine zu.
»Und glaub ja nicht, dass ich dich vom Haken lasse, wenn du den Bus verpasst«, fuhr Murphy mit lauter Stimme fort. »Dann fahr ich dich.« Ein strahlendes Lächeln blitzte auf und entblößte seine schiefen Zähne. »In Unterhosen. Ich springe sogar raus und geb dir vor deinen ganzen niedlichen kleinen Klassenkameradinnen einen dicken fetten Abschiedsschmatz.«
»Du bist so widerlich. Bitte, Dad, ist doch egal, wenn du denen sagst, dass ich krank bin oder so …«
Murphy musterte sie stumm. Das blasse Gesicht, die leicht aufeinandergepressten Lippen; sie stand auf Zehenspitzen, als würde sie jeden Moment zum Fenster rausfliegen. »Jasmine«, sagte er schließlich. »Es ist nur für eine Nacht. Mir passiert schon nichts. Ich bin noch hier, wenn du wiederkommst.«
»Dad, ich habe keine …«
»Ich gehe nirgendwohin, Süße. Versprochen.«
Jasmines Niedergeschlagenheit verwandelte sich in kühle Resignation. »Schön.« Sie fischte sich eins der Tütchen aus der Schachtel, zwischen zwei Finger geklemmt. »Dann nehm ich das hier mit.«
Er nahm ihr den Stoff wieder ab. »Netter Versuch.«
»Heuchler. Onkel Butch hat gesagt, du hättest Dope mit ins Schulcamp genommen.«
»Pssst!«, machte Butch übertrieben laut.
»Wenn ich dich auch nur mit einem Gras erwische, hast du Hausarrest, bis du achtunddreißig bist.« Murphy starrte Butch finster an. »Dein Onkel sollte die Klappe halten.«
»Ich hab vielleicht ein bisschen übertrieben, Jaz«, sagte Butch. »Soweit ich mich erinnere, hat er nicht permanent geraucht: Manchmal hingen seine Lippen auch an einer der Lindsay-Schwestern, und nicht nur an ihren …«
, kreischte Jasmine. »Bin schon weg.«
Sie setzte sich den Campingrucksack auf. Dann hob sie Myrte hoch, drückte ihr Gesicht ins Fell und sang ein paar Zeilen aus von James Blunt. Myrte maulte, Jasmine drückte sie ein letztes Mal und ließ sie runter.
»Nur, damit du’s weißt, Dad, ich glaube nicht, dass Miss Ellis dein Typ ist. « Jasmine knallte die Tür hinter sich zu. Aber nicht vor Wut, sondern weil Knallen die einzige Möglichkeit war, die störrische Tür ganz zuzukriegen.
»Das hat sie von dir, Schwachkopf!« Murphy wog bereits die nächste Portion ab.
»Was? Die langen Finger?«, sagte Butch. »Ich hab selbst kaum mitbekommen, wie das Tütchen in ihrem Ärmel verschwand.«
»Nein, ich meinte ihre – ?«
»Ach, nichts.« Butchs Grinsen wurde immer breiter.
»Scheiße!« Murphy rannte Richtung Tür, warf dabei den Stuhl um, sprang über die fauchende Katze und stolperte auf die Straße hinaus. Der allgegenwärtige Fallwind trug ihm den unverwechselbaren Stadtgeruch von Limestone Creek aus Diesel, Rauch und Eukalyptus in die Nase.
Am Ende der Straße sah er Jasmine gerade noch in den Bus steigen. Bis dorthin waren es gut fünfzig Meter – sie musste den ganzen Weg gerannt sein. Sie hüpfte die Stufen hoch und verschwand.
Murphy legte einen Sprint Richtung Bus hin, über zerbrochene Pflastersteine, neben ihm sprang ein Jack Russell am Zaun hoch und fing wild an zu kläffen.
Der Bus fuhr an. Unter dem Spott einer Elster in einem Eukalyptusbaum kam Murphy zum Stehen, ihm taten vom harten Pflaster die nackten Füße weh.
Auf der anderen Straßenseite sah er zwei junge Frauen in identischen Adidas-Jogginganzügen. Sie kicherten. Peggie und Darcy, sie wohnten zusammen ein Stück die Straße runter. Er kannte sie, natürlich. Er kannte fast alle in der Gegend. Sie hatten die Handys gezückt und ihre Kameras auf ihn gerichtet.
In dem Moment wurde ihm klar, dass er immer noch in Unterhosen war.
Er raste nach Hause zurück.
Die Tür war zu.
Er drückte dagegen.
Abgeschlossen.
»Butch, sei kein Arschloch.« Er drosch mit der Faust gegen die Tür und warf Peggie und Darcy einen Schulterblick zu. Sie winkten.
Das Fenster neben der Haustür ging auf, und Butch steckte den Kopf raus. »Hallo, Leute!«, rief er. »Murph ist ausgesperrt und hat nur seine Unterhosen an!«
»Ich schlag dir die Eier zu Brei!«
» Hey, hallo, Ladys, wie geht’s? Murphy sieht aus, als wär ihm kalt, oder?«
Peggie und Darcy lachten, ein Kookaburra stimmte ein, der Jack Russell bellte.
»Du bist tot, Butch«, sagte Murphy. Er ging seitlich am Haus entlang und kletterte über den abgeblätterten weißen Zaun.
Der Garten war ein Dschungel aus Unkraut, hohem Gras und wuchernden Büschen. In einer Ecke stand ein Hühnergehege, in einer anderen ein Schuppen und in der Mitte eine rostige Wäschespinne. Einen...