Pelny | Warum wir noch hier sind | E-Book | sack.de
E-Book

E-Book, Deutsch, 224 Seiten

Pelny Warum wir noch hier sind

Roman

E-Book, Deutsch, 224 Seiten

ISBN: 978-3-7099-8408-6
Verlag: Haymon Verlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark



VON VERLUST UND DEN MENSCHEN, DIE ZURÜCKBLEIBEN: DIE GESCHICHTE VON EINEM DANACH
TAUSEND WORTE FÜR LEERE
Auf dem Tisch liegt ein Fotoalbum. Darin: Fotos von Etty als Baby. Etty mit vier Jahren im Schwimmbad. Etty mit Elf beim Mini-Golf. Etty mit vierzehn Jahren vor der Haustür, kurz vor ihrem gewaltsamen Tod. Die Gefahr, der Frauen und Mädchen in dieser Welt ausgesetzt sind, ist nun in die unmittelbare Nähe der Erzählerin gerückt. Denn Etty war die Tochter ihrer besten Freundin Heide. Von nun an unterliegt ihre Welt einer zweiten Zählzeit. Da, wo Ettys Leben endete, fängt für sie ein anderes Leben an. Was bleibt, sind diese Fotos, die Erinnerungen und so viele Fragen: Wie weiterleben? Wie jeden Tag aufstehen? Wie sich weiterhin in der Wohnung aufhalten, in der Etty zuhause war? Wie ihr Lachen, ihre frechen Antworten, ihre feinen Gesichtszüge erinnern, ohne zu zerbrechen? Der eigentlich unmögliche Versuch, das Geschehene zu verstehen, wird zum Versuch, zu funktionieren.
IM SCHWEBEZUSTAND, AUFGELADEN MIT LIEBE, UNTERFÜTTERT MIT HILFLOSIGKEIT
Mit beeindruckender Präzision beleuchtet Marlen Pelny die Geschichte eines Femizides aus der Perspektive der Hinterbliebenen und lässt uns dabei überwältigende Emotionen spüren. Sie zeigt, was es bedeutet, zurückzubleiben. Wenn einer Mutter zwei Tage Sonderurlaub zur Trauer zugestanden werden. Wenn Ordner voller Bürokratie abgearbeitet werden müssen – ganz oben auf Geburts- und Sterbeurkunde, mit denen sich nun Ettys ganzes Leben zusammenfassen lässt. Wenn sich die Trauer in pochende Kopfschmerzen verwandelt und man sich ein Leben ohne ihn nicht mehr vorstellen kann. Aber auch: Wie es sich anfühlt, wenn die eigene Stadt, Berlin, wo man sich nicht nur zuhause sondern auch frei gefühlt hat, plötzlich zur Gefahrenzone wird.
"HIN UND WIEDER WERDEN WIR UNSERE KÖPFE AUF DIE WAAGE LEGEN UND SCHAUEN, OB SIE LEICHTER WERDEN, MIT DER ZEIT"
Hier erzählt eine zarte und zugleich kraftvolle Erzählerin so nahbar, dass man sie auf keinen Fall alleine lassen möchte. Klar, aber nicht voyeuristisch, schonungslos, aber nicht brutal wird fein und dicht von Verlust und Trost, von Trauer und Liebe, von einem Danach erzählt. Dieser Roman ist eine sprachlich kraftvolle Auflehnung: gegen Ungerechtigkeit, die tötet. Gegen die Gewalt, der wir täglich begegnen und die wir zu überleben versuchen.
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Wir sitzen auf der Bank. Es ist weit und breit die einzige, die im Schatten steht. Großmutter friert. Ich stecke sie zur Hälfte in meine Jacke hinein. Ich mache mir Sorgen um ihre Gesundheit, aber sie sagt, eine Stunde müsse man mindestens bleiben, wenn man es ernst meine mit dem Vermissen. Sie hat den Wecker gestellt, der bereits seit einer Viertelstunde tickt, und packt die Sachen aus, die sie in der Tasche hat: eine Tüte Bonbons, eine Schachtel Zigaretten, eine Packung Taschentücher. Ich nehme mir eins, hänge die Jacke über Großmutters Schultern, stehe auf und beginne Staub zu wischen, auf Großvaters Grabstein. Dabei fällt mir ein Aufkleber auf. Er gehört zu der Firma, die sich um Großvaters Blumen kümmert. Ich versuche ihn vom Stein abzukratzen, aber Großmutter verbietet es mir. Großvater hat nicht einmal T-Shirts mit Aufschrift getragen und jetzt dieser Sticker auf seinem Grab! Aber Großmutter will nichts davon wissen. Die Dinge sind, wie sie eben sind, sagt sie. Wahrscheinlich kann sie nicht mehr richtig denken. Sie beginnt zu zittern und ihre Lippen bekommen einen Blaustich. Aber ich sage nichts. Ich bin ganz still. So wie Großvater hier. Vielleicht würde er etwas sagen, wenn ich nicht da wäre. Vielleicht würde Großmutter antworten. Vielleicht trauen sie sich nicht, miteinander zu reden in meiner Anwesenheit. Ich probiere selbst, wie sich das Kommunizieren mit einem Toten anfühlt. So, Opa, jetzt machen wir mal ein bisschen Ordnung in deinem Beet, sage ich, damit – ja, warum eigentlich? Du kannst es ja sowieso nicht sehen. Zum Glück hat Großmutter nicht zugehört. Die Dinge sind, wie sie eben sind, sagt sie noch einmal und hat dabei wieder diesen Gesichtsausdruck. Ständig hat sie diesen Gesichtsausdruck! Ich frage mich, wann sie das letzte Mal gelacht hat. Es ist so lange her, dass ihr das noch nicht wehtat. Wenn Großmutter Schmerzen hat, fällt es mir schwer, sie anzusehen. Ihr Gesicht verzieht sich dann zu einer hässlichen Fratze. Und wenn sie weint, passiert das auch. Sie weint bitterlich. Wie jeden Sonntag. Ihre blauen Lippen sind jetzt eine ganz gerade Linie. Ihre Falten bilden eine tiefe Furche zwischen den Augenbrauen und die Tränen rollen wie Regentropfen ihre Wangen hinab. Nie weiß ich, ob sie Schmerzen hat, weil sie weint, oder ob sie weint, weil sie Schmerzen hat. Ich gehe zu ihr und verstecke ihre Fratze in meinen Armen. Sie riecht nach diesem merkwürdigen Parfum, das sie seit ein paar Wochen benutzt, genau genommen seit Großvater unter der Erde ist. Ihren Zuhausegeruch gibt es nicht mehr. Eigentlich war es mein Zuhausegeruch. Wenn sie mich gefragt hätte, hätte ich ihr verboten, ihn gegen den hier einzutauschen. Lange wusste ich nicht, dass auch der Zuhausegeruch ein Parfum gewesen ist. Ein Parfum, vermischt mit Großvaters Zigarettenqualm. Erst als sie es eingetauscht hat und ich aufpassen musste, dass sie dadurch niemand anderes für mich wurde, hab ich auf dem Brett vor ihrem Spiegel die kleinen Fläschchen aufgeschraubt, daran gerochen und eins und eins zusammengezählt. Jetzt riecht Großmutter streng und bitter, nach einem Duft, der versucht, ihr Alter zu übertünchen, und dabei ihre schrumpelige Haut noch schrumpeliger erscheinen lässt. Wenn sie nicht weinen würde, würde ich sie fragen, wer ihr diesen Gestank eigentlich empfohlen hat. Ich bleibe neben ihr sitzen. Es ist ja eh Ordnung in Großvaters Beet. Wegen der Aufkleberfirma. Soll ich ihm eine Zigarette hinlegen?, frage ich. Nee, nee, sagt Großmutter, wenn das jemand sieht! Gib mir lieber mal Feuer! Wir rauchen für ihn, aber nicht mit ihm. Er hatte ja sowieso aufgehört. Wenn auch zu spät. Der letzte Satz klingt bitter. Großmutter faltet ein Taschentuch auseinander und drückt es fest auf ihr Gesicht. Dann putzt sie sich die Nase. Sie ist fertig mit Weinen. Ich hole das Feuerzeug aus der Hosentasche. Ist das deine erste Zigarette?, frage ich. Na ja, antwortet Großmutter, die erste, die ich selber rauche. Sie hält sie so, wie Großvater sie gehalten hat. Und sie pafft auch so, wie Großvater gepafft hat. Sie kann genauso wenig schön rauchen wie er, aber immerhin wird sie daran nicht mehr sterben. Sie spitzt die Lippen, während sie den Rauch auspustet, als wäre er ihr eigentlich zuwider. Und sie zieht auch viel zu hastig. Sie hat sich alles bei Großvater abgeguckt. Am Ende zwirbelt sie das letzte Viertel Zigarette zwischen den Fingern, damit die Glut rausfällt. Ich trete darauf, nehme ihr die Kippe aus der Hand und schmeiße sie in den Eimer, in dem ansonsten nur zerknüllte Taschentücher liegen. In dem Moment klingelt der Wecker. Die Stunde ist um. Jetzt können wir essen gehen. Großmutter bestellt Salzkartoffeln, Spiegeleier, Spinat. Ich drücke ihr daraus einen Matsch auf dem Teller. Der neue Kellner gibt sich Mühe. Er bringt ein Getränk, das es sonst nur beim Chinesen gibt, und ist so nett, dass Großmutter auch nett ist. Er sagt: die Damen. Sie nennt ihn: Martin, mein Junge. Ich muss unbedingt daran denken, vor meiner Heimreise noch ihre Zahnzwischenräume zu reinigen. Wenn ich schon dabei bin, kann ich ihr auch gleich die Nägel schneiden. Und die Haare. Sie wirkt so, als hätte man sie gegossen. Martin, mein Junge fragt, ob wir einen Espresso wollen oder einen Eisbecher. Obwohl Großmutter gerade noch gefroren hat, entscheidet sie sich für den Eisbecher. Es ist ein Pinocchio-Eisbecher mit Smarties-Augen und einer langen Waffel-Nase. Sie schmatzt so lange auf der Waffel herum, bis das Eis geschmolzen ist. Komischerweise fragt sie mich genau in diesem Moment, ob ich denn gar keine Kinder wolle. Ich habe mich schon oft darüber gewundert, dass die Menschen nie in der Einzahl fragen, ob man kein Kind möchte, als würde ein weiterer Mensch nicht ausreichen. Wenn man sich schon dafür entscheidet, schwanger zu sein, jahrelang nicht schlafen zu können, seine Pläne über Bord zu werfen (falls man vor der Geburt welche hatte, die nichts mit einem Kind zu tun hatten), sich mit Freundinnen und Partnern plötzlich über die richtigen Windeln und die Autonomiephase zu unterhalten, dem Babykörper beim Wachsen und dem eigenen beim Altern zuzusehen, ununterbrochen auf Spielplätzen abzuhängen und auf dem Nachhauseweg einen Streit vor dem Eiscafé auszutragen, wenn man sich also schon dafür entscheidet, das unbedingt haben zu wollen, warum dann gleich mehrmals? Immer, wenn ich das Wort Kind höre, muss ich zwangsläufig an Etty denken. Keine Ahnung, ob ich jetzt noch hier sitzen würde, wenn Etty mein Kind gewesen wäre. Ich finde das irgendwie narzisstisch, die Sache mit den Kindern, sage ich. Wie meinst du das – narzisstisch?, fragt Großmutter. Na ja, man muss sich schon ziemlich toll finden, wenn man sich nochmal im Kleinformat erzeugt. Und dann muss man dieses Wesen auch noch rund um die Uhr in seiner Nähe ertragen. Ich weiß nicht, ob ich dafür geschaffen bin. Ach, du und deine komischen Gedanken, sagt Großmutter. Ich bestelle mir einen Grappa, trinke ihn auf ex und bringe Großmutter nach Hause, wie sie es nie nennt. Sie nennt es den Turm, seitdem ich ihr die Einrichtung verboten habe. Mit dem Turm hat sie immerhin insofern recht, als dass das Haus, in dem sie wohnt, wirklich hoch ist. Es hat dreizehn Stockwerke und ist auch nicht besonders breit. Früher nannte man so etwas Punkthochhaus, zu der Zeit, in der Großmutter im Leben nicht in so etwas gezogen wäre, weil sie ja ein eigenes Haus hatte, mit einem Garten und einem Mann, der den Rasen mähte. Seitdem Großmutter sich damit abgefunden hat, dass sie hier wohnen bleibt, schwingt sie ihren Stock, wenn sie sich der Haustür nähert. Es regt mich auf, aber ich sage nichts. Wenn sie einen Sturz provozieren will, bitte schön. Es ist nur so ärgerlich, weil sie mich nicht fragt, ob ich, wenn sie fallen würde, überhaupt Lust hätte, sie aufzuheben. Der Fahrstuhl bringt uns in den siebten Stock. An Großmutters Wohnung ist ein Balkon, aber die Tür klemmt, sodass sie ihn nie benutzt. Ich glaube, auch aus dem Fenster sieht sie äußerst selten. Dabei war der Ausblick auf die Saale der Grund, dass wir uns für diese Wohnung entschieden haben. So hässlich ist Halle gar nicht, stimmt’s?, hat Großmutter damals gesagt. Und ich habe gefragt, ob sie etwa denke, dass ich Halle hässlich fände. Na, warum sonst bist du denn hier weggegangen, war ihre Antwort. Ich wusste schon in dem Moment, in dem ich mir eine Erklärung abrang, dass sie sie niemals verstehen wird. Ich ruckle so lange an der Tür herum, bis sie sich endlich löst und frische Luft ins Zimmer strömt. Großmutter sagt wie immer: Uh, das ist aber kalt! Wenigstens einmal in der Woche muss das aber sein, sage ich. Sie antwortet nicht, sondern zieht sich die Jacke wieder an, während ich auf die Suche nach...


MARLEN PELNY plakatierte deutsche Städte mit Lyrik und veröffentlichte die Gedichtbände "Auftakt" (2007) und "Wir müssen nur noch die Tiere erschlagen" (2013). Ihre Worte bringt sie nicht nur auf Wände und Papier, sondern mit ihrer Band Zuckerklub auch zum Klingen. Ihre klare Poesie durchströmt auch ihr Romandebüt "Liebe / Liebe" (2021), für das die Autorin mit dem Klopstock-Förderpreis 2022 ausgezeichnet wurde. In ihrem zweiten Roman "Warum wir noch hier sind" erzählt sie in ihrem eigenen, eindringlichen Stil von Verbundenheit.


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