E-Book, Deutsch, Band 1, 720 Seiten
Reihe: Bristol Keats
E-Book, Deutsch, Band 1, 720 Seiten
Reihe: Bristol Keats
ISBN: 978-3-7363-2418-3
Verlag: LYX.digital
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Die Liebe des Elfenkönigs hat immer einen Preis ...
Nach dem Tod ihrer Eltern schafft es Bristol Keats nur mit Mühe, sich und ihre Schwestern über Wasser zu halten. Als eine angebliche Tante überraschend Hilfe verspricht, erfährt sie, dass alles, was sie über ihre Familie zu wissen glaubte, eine Lüge war, und dass ihr Vater womöglich noch am Leben ist. Um ihn zu finden, muss Bristol ins Land des Elfenkönigs Tyghan reisen. Dieser braucht ihre verborgene magische Gabe, um eine finstere Bedrohung von den Reichen Elfheims abzuwenden. Bristol taucht in eine Welt der Magie, Intrigen und Verführung am Hof der Tuatha De Danann ein und kann sich schon bald der Anziehungskraft des geheimnisvollen Elfenkönigs nicht mehr entziehen. Was Bristol nicht weiß: Tyghan ist ebenso entschlossen wie sie, ihren Vater zu finden - sei es tot oder lebendig ...
»Mary Pearson ist die neue Königin von Faerie.« STEPHANIE GARBER
Das New-Adult-Debüt von TIKTOK-Star und NEW-YORK-TIMES-Bestseller-Autorin Mary E. Pearson
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1
Am Ende der Oak Leaf Lane erwachte der Morgen fünfzehn Minuten zu früh. Den meisten Bewohnern fiel es nicht auf, wie es so oft der Fall ist, wenn solche Dinge sich ereignen. Aber etwas Ahnungsvolles schwebte in der Luft, lauernd wie ein hungrig kreisender Bussard. Wildgräser erzitterten; Tautropfen tänzelten zu Boden. Die Erde erbebte leicht, als ein leises Wispern über die Torfhügel strich, Gänsescharen aufschreckte und hoch in den Himmel fliegen ließ. Irgendetwas würde geschehen.
Auch Bristol Keats schlief tief und fest und bemerkte nicht, wie sich das frühe Morgenlicht langfingrig wie ein Dieb seinen Weg durch die Vorhänge stahl. Nichts und niemand würde sie aus ihrem Bett kriegen können, bevor sie eine anständige Mütze voll Schlaf bekommen hatte. Ihr Kissen war feucht von ihrem Speichel, und ein Arm hing schlaff über die Bettkante. Sie hatte bis spätnachts gearbeitet. Ihr Trinkgeld stapelte sich in einem befriedigenden Häuflein auf dem Nachttisch … ein schwankendes Monument, das von ihrer Durchhaltekraft kündete.
Erst spät am Morgen regte sie sich stöhnend. Sie erhob sich widerwillig aus dem zerwühlten Bett und bugsierte ihre Beine in die enge Jeans. An Freitagabenden war im Ort viel los, aber die heute beginnenden Festivaltage würden noch viel lohnender sein. Gut so, denn der Stapel aus Mahnungen wurde immer höher. Ganz oben lag die Rechnung vom Elektrizitätswerk, die vierzig Tage überfällig war. Sehr bald würde man ihnen den Strom abdrehen. Aber wenn Bristol die heutigen Trinkgelder mit denen aus letzter Woche zusammenlegte, sollte es reichen. Vermutlich würde sogar noch ein bisschen für den Einkauf im Supermarkt übrig bleiben.
Noch verschlafen schnupperte sie an ihren Haaren, in denen wie erwartet der Fettgeruch von Pizza hing. Hastig raffte sie alles zu einem unordentlichen Pferdeschwanz zusammen wie an jedem normalen Tag. Sie ahnte nicht, wie außergewöhnlich dieser werden sollte, denn noch sah man nichts davon. Doch als sie sich notdürftig das Gesicht wusch und die Zähne putzte, wandte sich ihr Kopf wie von selbst zur Seite, dorthin, wo eine seltsam samtige Wärme in der Luft zu liegen schien. Das Gefühl war so vage, dass sie es kaum benennen konnte. Unbewusst schmiegte sie sich dagegen wie ein Katze, die den gekrümmten Rücken an einem Türrahmen reibt.
Eine Tür. Ja. Genau dagegen lehnte sie sich.
Aber das wusste sie in diesem Moment noch nicht.
Bristol zog die Vorhänge zurück und musste ihre Augen vor der Sonne abschirmen, die schon gleißend über die Bäume hinwegstrahlte und allzu überschwänglich den Tag einläutete. Es war jetzt ein Jahr her, seit sie ins Zuhause ihrer Familie zurückgekehrt war. Dabei kam ihr diese Zeit sehr viel länger vor, hätte man doch ein ganzes Leben in die zurückliegenden Wochen und Monate packen können. Das Jahr beulte sich wie ein übervoller Reisekoffer, der sich nicht mehr schließen lässt.
Zuhause. Noch immer kam ihr das Wort nur zögernd über die Lippen. Es wirkte so fremdartig und neu, dass sie nur ab und zu probeweise damit herumspielte. Sie hatte Angst, sich daran zu gewöhnen, es vielleicht lieben zu lernen. Schnell fort. Schnell weiter. Diese Worte hatten sich in sie eingegraben wie der Dreck unter ihren Fingernägeln.
Bristol wandte sich vom Fenster ab und durchwühlte den Korb mit frischer Wäsche, der auf dem Boden stand. Sie kramte ein schwarzes ärmelloses Shirt hervor und zog es über. Ihre Oberweite würde die Falten schon glatt ziehen.
»Bri!«
Harpers Rufen schallte den schmalen Treppenflur herauf, und ihre Stimme klang eher wie die eines Zwei-Meter-Türstehers als die einer zierlichen Vierzehnjährigen, die auf einen Wachstumsschub hoffte. Was Bristols kleiner Schwester an Körpergröße fehlte, machte sie durch pure Lautstärke wett.
»Schon gut, ich bin wach«, rief Bristol zurück. Sie ließ sich auf den Bauch plumpsen und suchte unter dem Bett nach ihrem fehlenden Schuh. Eigentlich war sie sicher, dass sie beide Sneaker neben dem Bettpfosten abgestreift hatte, aber bei der späten Uhrzeit gestern war sie zu erschöpft zum Denken gewesen.
»Bri!«
Sie unterbrach ihre Schuhjagd. Das klang nicht wie der übliche Weckruf. Vielleicht hatte ihre Schwester eine Spinne in der Küchenspüle entdeckt? Abgesehen davon, dass Bristol die Rechnungen bezahlte und das Unkraut im Vorgarten wegmähte, wann immer sie Zeit fand, war sie auch die Spinnenjägerin des Haushalts. Mit Pech war es aber auch schlimmer, und statt eines fiesen Mörderinsekts wartete ein weiteres geplatztes Wasserrohr auf sie. Verdammte alte Bruchbude. Bristol presste einen Moment die Faust gegen ihre Stirn. Nur das nicht, dachte sie mit aller Kraft. In ihrem Kopf schien ein fragiles Gleichgewicht ins Schwanken zu geraten und neigte sich in Richtung drohender Katastrophe. Noch eine Rechnung vom Klempner konnten sie sich nicht leisten.
Wummernde Schritte jagten die Treppe hinauf. Bristol erhob sich vom Boden und bereitete sich innerlich auf das Schlimmste vor, als die Zimmertür aufflog. Die Wangen ihrer Schwester glühten rosenrot, und die Brille saß ihr schief auf der Nase. Bristols Magen zog sich zusammen. Wie jung Harper noch wirkte, wie eilig und dramatisch alles für sie war. Der Altersunterschied zwischen ihnen betrug sieben Jahre, aber manchmal kam es ihr wie ein Jahrhundert vor.
Harper hielt einen Brief in der Hand. »Wir haben noch einen bekommen!«
Hastig zog Bristol sie ins Zimmer und schloss die Tür. »Ist Cat schon weg?«
Sie stieß einen erleichterten Seufzer aus, als Harper nickte. Wenigstens eine Sache, die heute nicht schiefging. Sonst hätte sie fürchten müssen, dass Cat sich wegen eines simplen Briefs in eine ihrer Tiraden hineinsteigerte. Eigentlich war Cat die Älteste von ihnen – mit einem Abstand von zehn Monaten, um genau zu sein –, aber normalerweise hielten die Leute immer Bristol für die Ältere. Angeblich lag es an ihrer reservierten Ausstrahlung. Sie musste zugeben, dass sie berechnender war und erst alle Möglichkeiten abwägte, bevor sie etwas offenbarte, während Cat spontan reagierte. Ihre Schwester wurde von ihren Gefühlen mitgerissen und hielt sich nie zurück. Eigentlich liebte Bristol sie für ihre Leidenschaftlichkeit, nur führte das eben auch zu langen, dramatischen Wutanfällen. Heute hatte sie keine Zeit für schrille Vorhaltungen. Das letzte Mal war Cat sogar in Tränen ausgebrochen, als Bristol verkündet hatte, dass sie das College ganz aufgeben und sich einen Vollzeitjob suchen würde. Eine volle Stunde hatte Cat sie angeschrien. Bist du verrückt geworden? Dad hat gutes Geld dafür bezahlt. Er würde wollen, dass du durchhältst! Leider wusste Cat immer ganz genau, welche Knöpfe sie drücken musste, und der Hinweis auf ihren Vater war einer davon.
Bristol nahm Harper den Umschlag aus der Hand, wobei sie betont gelangweilt mit den Schultern zuckte und den Brief dann unentschlossen zwischen den Fingern drehte wie lästige Werbepost. Heutzutage tat sie vieles aus Rücksicht auf Harper. Aber wenn sie dabei zu offensichtlich wurde, streckte ihre kleine Schwester das Kinn vor und verkündete: »Du bist nicht meine Mutter!« Und dann würde Bristol schnauben, und sie beide würden anfangen zu lachen, weil ihr Leben so absurd war. Seltsamerweise half es zu lachen, als würde dadurch alles weniger real.
Wenigstens hatte Harper den Brief zu ihr gebracht und nicht zu Cat, die darin nur eine beleidigende Form von Junkmail sah. Bei den letzten beiden Malen hatte sie aufgequiekt wie eine verwundete Maus und verkündet, das sei doch alles Betrügerei und man müsse die Briefe verbrennen. Bristol hatte gemeint, der Abfalleimer würde wohl ausreichen.
»Willst du ihn denn nicht öffnen?«, fragte Harper.
Bristol strich mit dem Daumen über den Umschlag. Er war aus dem gleichen dicken, edlen Papier wie bei den letzten Malen und ein Absender stand wieder nicht darauf. Aber die Handschrift wirkte anders, so ausladend und kühn, dass sie geradezu nach Aufmerksamkeit schrie. Wie immer war der Umschlag mit einem roten Wachssiegel verschlossen – ein weiterer Trick, um Neugier zu wecken. In den vielen Jahren, die Bristol mit ihrer Familie über Märkte und Feste getingelt war, hatte sie schon viel zu viele Glücksräder und Letzte-Chance-Angebote gesehen. Trotzdem öffnete sie den Umschlag und ließ das zerkrümelnde Wachs auf den Boden rieseln. Sie zog den Brief hervor und verdrehte dabei die Augen, um Harper zu zeigen, dass sie auf eine so billige Bauernfängerei nicht hereinfiel. Aber innerlich begann ihr Herz dennoch schneller zu klopfen. Ein dritter Brief. Die geben wirklich nicht auf.
Der Fluchtinstinkt, den sie von ihren Eltern das ganze Leben lang eingeimpft bekommen hatte, hämmerte gegen ihre Rippen, als würden die beiden ihr eine letzte Warnung zurufen. Harper drängte sich dichter an sie, um mitzulesen.
Meine liebe Bristol Keats,
deine Großtante Jasmin hat mit Enttäuschung festgestellt, dass du ihre letzte Einladung zum Tee nicht annehmen konntest. Daher schlägt sie einen weiteren Treffpunkt vor, der näher an Bowskeep liegt. Sie bittet um dein Erscheinen zum heutigen Nachmittagstee um vier Uhr im Gasthaus Willoughby an der Skycrest Lane. Neben den vielen angenehmen Erinnerungen an deinen Vater, die sie mit dir teilen möchte, hat sie ein Geschenk für dich – ein Kunstwerk von großem Seltenheitswert, ähnlich wie jenes, das dein Vater vor nicht allzu langer Zeit erstanden hat. Gewiss...