E-Book, Deutsch, 366 Seiten
ISBN: 978-3-944359-91-5
Verlag: Schruf & Stipetic
Format: EPUB
Kopierschutz: 0 - No protection
Jurica Pavicic, 1965 in Split geboren, ist einer der renommiertesten und engagiertesten Autoren Kroatiens und wurde auch für seine Arbeit als Film- und Literaturkritiker mehrfach ausgezeichnet. Pavicic schrieb als Erster unverhohlen kritisch über den Krieg in den 1990er Jahren in Kroatien. Die Verfilmung 'Die Zeugen' seines ersten Romans über eine Soldateska in Split erhielt 2004 den Friedenspreis der Berlinale.
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Teil 2
I N E S machte die ganze Nacht kein Auge zu. Sie wälzte sich im Bett herum und schaute auf die vertrauten Relikte ihrer Kindheit in ihrem Zimmer: Puppen, Poster, Spielzeug und ihr Poesiealbum. Alles weckte Erinnerungen. Doch in diesem Moment waren Erinnerungen für Ines vermintes Gelände. Denn es gab keinen Winkel ihrer Erinnerung, in dem nicht auch er gewesen wäre. Ihr Bruder Mario. Zunächst hatte Ines’ Verstand sich mit Leugnen gewehrt. Ein Teil ihres Gehirns hatte die Informationen aus dem Fernsehen aufgenommen und verarbeitet. Doch ein anderer Teil reagierte mit scharfem, kämpferischem Leugnen. Es konnte nicht sein. Da musste ein Fehler vorliegen. Bald würde sich alles von selbst auflösen. Das Problem würde verschwinden. Sie würde aufwachen und alles wäre weg, so, wie nach dem Aufwachen ein Albtraum verschwand. So dachte sie, und dieser tröstende Gedanke beruhigte sie für einen Moment. Doch es hielt nicht lange an. Sogleich kehrte das Bild vom Vorabend zurück, klar und unzweifelhaft. Sie hatte im Fernsehen den Riemen von Marios Tasche gesehen. Sie hatte seine Trainingsjacke gesehen. Das waren Tatsachen, die sie nicht einfach umdeuten oder ignorieren konnte. Dann wurde sie von einer neuen Welle des Leugnens erfasst, gegen die sie wehrlos war. Nicht er. Nicht Mario. Egal wie er war, so war er nicht, so sah sie ihn nicht. Sie wühlte sich durch achtzehn Jahre gemeinsamen Lebens und versuchte, sich auch nur eines Anzeichens zu erinnern, dass Mario so etwas in sich trug. Sie dachte an fast zwei Jahrzehnte gemeinsamer Erinnerungen und wurde dann von schlechtem Gewissen überwältigt. Sie machte sich Vorwürfe, dass sie überhaupt auf den Gedanken gekommen war, dass es um Mario ging. Was, wenn sie es nicht richtig gesehen und die falschen Schlüsse gezogen hatte. Was, wenn das alles nur ein Irrtum war, ein großer, nachvollziehbarer Fehler. Wie sollte sie dann Mario und ihrer Mutter am nächsten Morgen unter die Augen treten. Wie sollte sie ihnen erklären, dass sie überhaupt auf den Gedanken gekommen war, das wäre er gewesen, ihr Bruder? Die Welle des schlechten Gewissens wiegte sie für kurze Zeit in Sicherheit. Dann erschien wieder das gleiche Bild, wie ein kalter, schmerzender Schnitt. Die Fernsehnachrichten, Polizei, der Riemen der Tasche und die schmutzige Trainingsjacke. Eine Trainingsjacke, zu der es eine passende Hose gab, eine Hose, die jetzt in Marios Kleiderschrank lag. Sie lag in Marios Zimmer, das nur eine dünne Wand von ihrem trennte. Verwirrende Gedanken drehten sich im Kreis und ließen Ines nicht einschlafen. Um sechs setzte die Morgendämmerung ein. Vogelgezwitscher drang durch das Fenster und das Scheppern der Müllabfuhr. Irgendwann hatte sie Schritte im Flur gehört. Ihre Mutter war mitten in der Nacht aufgestanden, und Ines vermutete, dass es wegen dem war, was sie in den Nachrichten gesehen hatten. Bis zum Ende von Großvaters Fest hatte Katja kein einziges Wort gesagt. Sie hatte schweigend und mit düsterem Gesicht am Rand gestanden und gewartet, dass die Gesellschaft auseinanderging, dass alle sich umarmten und die letzten Abschiedsworte riefen. Katja hatte beim Abschied geschwiegen, als sie sich ins Auto setzten und während der anderthalbstündigen Fahrt nach Split. Die Fahrt war die reinste Qual gewesen. Sie fuhren durch die dunkle, bergige Landschaft, durch Dörfer, in denen nur vereinzelt Straßenlaternen flackerten. Ines hielt die Hände am Lenkrad, bediente den Schalthebel, den Scheibenwischer, drückte auf Kupplung, Bremse und Gas. Und die ganze Zeit bekam sie einen Gedanken nicht aus dem Kopf. Es war dieses Auto. Das war das Auto, in das Mario mit seiner FC Barcelona-Tasche und der BRASIL-Trainingsjacke eingestiegen war. Das Auto, das er total schmutzig abgestellt hatte. In dieses Auto hatte sich das ermordete Mädchen gesetzt. In diesem Auto waren sie nach Kasteli gefahren. Jetzt berührte Ines dieses Auto, spürte mit den Fingern das Lenkrad, Griffe und Knöpfe. Sie spürte Ekel, als könnte das Auto einen Ausschlag übertragen. Irgendwann hatte Ines in den Rückspiegel geschaut und das Gesicht ihrer Mutter gesehen. Katja schaute nicht auf Mario. Sie musterte Ines, als wollte sie aus deren Verhalten die Antworten ablesen. Sie will wissen, ob ich es kapiert habe, dachte Ines. Ob ich es gesehen habe. Ob ich weiß, was ich gesehen habe. Oder nicht. Oder ob sie die einzige Hüterin von Marios Geheimnis ist. Und mitten in der Nacht war Katja dann aufgestanden und durch die Wohnung gelaufen, erst in Marios Zimmer, dann ins Bad. Zuerst hatte Ines das monotone, leise Summen der Waschmaschine gehört, später schleuderte die Maschine und das Gerüttel schnitt durch die nächtliche Stille. Ihre Mutter hatte mitten in der Nacht Wäsche gewaschen und Ines wusste genau, welche Wäsche. Sie stand auf, legte sich eine Strickjacke um und ging in die Küche. Katja saß am Küchentisch, und auf dem Wäscheständer hingen alle Kleidungsstücke, die Mario an jenem Tag getragen hatte: Unterhemd, Unterhose, Socken, Jacke, Turnschuhe. Doch etwas fehlte. Die BRASIL-Trainingshose fehlte. Ines schaute sich um und sah in einer Ecke eine prall gefüllte schwarze Mülltüte. Aus der Tüte ragte ein rot-blaues Stück Leinen. Die Farben waren gut zu erkennen. Katja schaute sie misstrauisch an, wie ein Dieb, der auf frischer Tat ertappt worden war. »Was ist?«, fragte sie. »Wieso bist du schon auf?« »Und du? Was machst du da?«, erwiderte Ines. »Leg dich wieder hin«, sagte Katja. »Es ist früh.« »Ich wollte etwas trinken.« »Dann trink.« Ines schenkte sich ein Glas Wasser ein und trank zwei Schlucke. Die ganze Zeit wurde sie von ihrer Mutter misstrauisch beäugt. Ines ging zurück in ihr Zimmer, aber sie legte sich nicht mehr hin. Sie zog sich an und lauschte. Man hörte Katja, die in der Küche herumlief. Schließlich ging die Wohnungstür auf und wieder zu und der Aufzug rauschte. Ines verließ ihr Zimmer. Die Küche war leer. Marios Wäsche trocknete auf dem Ständer, aber die Mülltüte war weg. Ohne Licht zu machen, ging Ines auf den Balkon und sah hinunter. So früh am Morgen war niemand vor dem Haus. Auf den Parkplätzen standen dicht gedrängt die Autos der Bewohner, um den Abfallcontainer herum lagen zerbrochene Flaschen, man hörte Katzen jaulen und in der Ferne Verkehrsgeräusche. Ines wartete darauf, dass Katja auftauchte. Und so war es auch. Katja kam mit der schwarzen Mülltüte in der Hand aus dem Hauseingang. Sie schaute sich prüfend um. Dann holte sie Schwung, um die Tüte in den Container zu werfen, hielt dann aber inne. Der Container war voll. In zehn oder zwanzig Minuten würde der Müllwagen kommen und die Müllmänner würden den Inhalt des Containers auskippen. Schließlich entfernte sich Katja vom Container und ging wieder aufs Gebäude zu. Ines zog sich vom Balkon zurück. Man hörte den Aufzug. Ines zog sich in ihr Zimmer zurück. Gleich darauf hörte sie, wie Katja die Wohnung betrat und kurz darauf erneut verließ. Als sie verschwunden war, trat Ines in den Flur. Am Schlüsselbrett fehlte ein Schlüsselbund. Katja hatte die Kellerschlüssel mitgenommen. Ines saß angezogen in ihrem Zimmer auf dem Bett und wartete, dass die Uhr sieben zeigte. Als der Wecker klingelte, ging sie ins Bad und wusch sich das Gesicht. Sie schaute in den Spiegel. Sie sah erschöpft aus und hatte Augenringe. In den vergangenen zwölf Stunden war sie gefühlt um zwölf Jahre gealtert. Sie ging in die Küche, wo alles harmlos und normal erschien. Marios Wäsche auf dem Ständer. Kaffeewasser auf dem Herd. Auf dem Tisch Zwieback und Butter. Katja, die an der Anrichte Petersilie hackte. »Hier ist dein Kaffee«, sagte sie und stellte eine Tasse und Würfelzucker vor Ines. Ines nahm Zucker und musterte ihre Mutter. Katja saß ihr nun gegenüber und bestrich Zwieback mit Butter. Sie benahm sich, als wäre alles ganz normal. Doch sie drehte den Kopf so, dass sich ihre Blicke nicht begegnen konnten. Ines wartete. Sag was, dachte sie. Sag, was du denkst und was wir tun sollen. Sag wenigstens, dass du es gesehen hast, denn du hast es gesehen. Doch Katja schwieg. Dann unterbrach sie das Schweigen und sagte: »Warum trinkst du nicht? Dein Kaffee wird kalt.« Ines schaute kurz auf und schlürfte dann den Schaum vom Kaffee. Der Kaffee war stark und gut. Katja hatte schon immer guten Kaffee gekocht. »Ich geh los«, sagte Ines, nahm noch einen Bissen Zwieback und stand auf. Sie zog ihre Schuhe an, dann ihre Jacke. Und die ganze Zeit, während sie sich fertig machte, spürte sie den misstrauischen Blick ihrer Mutter. »Tschüss«, sagte Ines und trat in den Flur. Im letzten Moment, bevor sie die Wohnung verließ, machte sie etwas, das sie nicht geplant hatte. Sie streckte die Hand aus und nahm die Kellerschlüssel vom Haken. Sie steckte sie in die Jackentasche und verließ die Wohnung. Im Aufzug drückte sie für alle Fälle nicht auf Keller, sondern auf Erdgeschoss. Während der Aufzug langsam nach unten fuhr, ertastete sie den Schlüsselbund für den Keller. Sie hatte den Eindruck, einen radioaktiven...