E-Book, Deutsch, 224 Seiten
ISBN: 978-3-944359-10-6
Verlag: Schruf & Stipetic
Format: EPUB
Kopierschutz: 0 - No protection
Jurica Pavi?i?, 1965 in Split geboren, ist Autor, Journalist, Film- und Literaturkritiker. Seine Romane und Erzählungen sind kritische Zeitzeugnisse des gesellschaftlichen und politischen Wandels in Kroatien seit dem Krieg in den 1990ern. Die Verfilmung 'Die Zeugen' seines Romandebüts erhielt 2004 den Friedenspreis der Berlinale. Der Roman 'Blut und Wasser' wurde 2021 mit den beiden wichtigsten französischen Krimipreisen ausgezeichnet.
Weitere Infos & Material
E I N S
1. Lange danach sagt Susanna: Alles wäre anders gekommen, wenn wir da nicht hingegangen wären. Dann wäre dein Leben ganz anders verlaufen, und meins vielleicht auch. Das sagt Susanna an einem Samstag, als sie Bruna besucht. Es ist Frühling, und draußen, irgendwo bei den Bahngleisen, rauschen in den Pappeln und Silberweiden die Blätter. Susanna sitzt am Fenster, warmes Licht fällt durch die Gitterstäbe und beleuchtet ihr Profil. Sie hat durchs Fenster zu den Bäumen geschaut und das unvermittelt und ganz beiläufig gesagt. Bruna hat darauf nichts erwidert. Am Nachmittag ist Susanna wieder weg und Bruna macht sich in der Küche an die Arbeit. Sie kippt geschälte Kartoffeln in einen Bottich mit Wasser und schneidet sie dann für die Fritteuse zurecht. Während das Messer in ihrer Hand automatisch seine Arbeit verrichtet, denkt Bruna über die Worte ihrer Freundin nach. Natürlich hat Susanna recht. Aber wie das häufig so ist, wenn jemand recht hat, bringt die Erkenntnis weder Susanna noch Bruna irgendwie weiter. Es stimmt, wenn sie an jenem Tag nicht zu Zoranas Geburtstagsfeier gegangen wären, wäre es anders gekommen. Wenn Susanna an jenem Tag nicht angerufen und ihr vorgeschlagen hätte, zu der Feier zu gehen, hätte sie Frane nicht getroffen. Wäre sie wie geplant zu Hause geblieben und hätte sich auf dem Sofa in eine Decke gekuschelt, hätte sie niemals Anka Saric kennengelernt. Hätte sie an diesem Tag Aspirin genommen und sich Spiderman angeschaut, wären sie und Frau Saric lediglich zwei von hunderttausend Individuen geblieben, die in der gleichen Stadt lebten, jede in ihrer eigenen Bienenwabe. Hätten sie sich getroffen, dann nur zufällig, im Vorbeigehen, im Bus oder in der Schlange im Supermarkt. Brunas Blick wäre über Frau Saric breite Hüften geglitten, das kurzgeschnittene Haar und das eckige Gesicht. Dieses Bild wäre durch Brunas Sehnerv geschlüpft und hätte sich im Geflecht ihres Gehirns verloren, in der unendlich großen Datenbank bedeutungsloser Bilder. Bruna und Anka wären aneinander vorbeigegangen, ohne sich wahrzunehmen, und wären wieder in der anonymen Menge versunken. Aber so war es nicht. Weil an diesem Tag im Januar 2006 Susanna anrief und Bruna zu einer Geburtstagsfeier einlud. Bruna kuschelte sich nicht in eine Decke und schaute nicht Spiderman. Stattdessen nahm sie eine Paracetamol, zog einen warmen Rolli an und ging zu Zoranas Party. Deshalb ist sie jetzt hier. In der Küche, wo sie für das Abendessen Kartoffeln zu Pommes frites schneidet. Seit fast elf Jahren sitzt sie in der Haftanstalt von Pozega. 2. Bruna sitzt eine elfjährige Haftstrafe ab. Nach Paragraf 91 Absatz 10 des kroatischen Strafgesetzbuchs. Wegen Tötung in einem besonders schweren Fall und aus niederen Beweggründen. Seit viertausend Tagen beschränkt sich Brunas Universum auf diese winzige Welt aus Betongängen, Zellen, Speisesälen und Lagerräumen in der Nähe einer pannonischen Stadt. In diesem Mikrokosmos dreht sich Bruna Tag um Tag im Hamsterrad. Das wird sie noch vier Wochen und fünf Tage tun. Danach ist sie frei auf Bewährung nach Paragraf 59. Als sie hier einzog, war Bruna sechsundzwanzig. Wenn sie das Gefängnis verlässt, wird sie achtunddreißig sein. Das Alter, in dem die Midlife-Crisis kommt, in dem sich Männer Sportwagen kaufen und Frauen zum Yoga oder Pilates rennen. Sie ist in dem Alter, wo Männer beginnen, ihre Frauen zu betrügen, und Frauen sich fragen, ob es ein Fehler war, sich an den egozentrischen Esel auf dem Sofa zu binden, der einen Bauch ansetzt. Bruna wird diese Probleme nicht haben, wenn sie hier herauskommt. Sie war mal verheiratet, ist es aber nicht mehr. Und sie ist fest davon überzeugt, dass sie es auch nie wieder sein wird. Im Gefängnis arbeitet Bruna als Köchin. Morgens steht sie lange vor den anderen Häftlingen auf. Ihr Wecker klingelt um halb fünf, während über der pannonischen Ebene noch Dunkelheit liegt. Sie öffnet die Augen und sieht als Erstes auf die gelb gewordenen Latten des Bettes über ihr mit den obszönen Zeichnungen, Namen und zweideutigen Weisheiten, dem Stream of consciousness ehemaliger Insassinen. Dann steht Bruna auf. Sie wäscht sich mit kaltem Wasser und bindet die Haare mit einem Gummiband zusammen. Im gesprungenen Spiegel des Gefängniswaschraums sieht sie ihr schmales Gesicht, dünnes, aschefarbenes Haar, zwei Reihen Zähne, die weißer sein könnten, und eingefallene Wangen. Irgendwo weit dahinter erkennt Bruna ein Selbst, das einmal schön war. Noch immer sieht sie die großen bleigrauen Augen. Sieht das schmale, gleichmäßige Gesicht und Wangen, die früher Farbe hatten. Sie sieht eine Brünette mit langen Haaren, nach der sich viele umdrehten, wenn sie ein Café betrat. Heute würde sich niemand nach ihr umdrehen. Denn das Leben im Neonlicht hat ihren Teint zerstört, im kalten, hellen Licht ist ihre Haut großporig und faltig. Das eintönige Essen hat ihre Haare ausgedünnt, und beim Zahnarzt wird nur der Karies behandelt. Schade, denkt sie manchmal. Schade, aber nicht zu ändern. Wenn sie Gesicht und Oberkörper gewaschen hat, verlässt Bruna den Zellentrakt und geht in Begleitung einer Wärterin einen langen von Neonlicht beleuchteten Gang entlang zur Küche. Sie öffnet die Tür und ein Schwall von Gerüchen schlägt ihr entgegen – Reinigungsmittel und Reste des Frittiergeruchs vom vorigen Abend. Sie macht Licht und vor ihr liegt in grellem Neon ihr Arbeitsplatz: die Gefängnisküche. Es gibt drei Köchinnen. Da ist zunächst Mejra, eine Romni von der ungarischen Grenze, die ihren Stiefvater erstochen hat, völlig zu Recht, wie Bruna findet. Mejra ist vor Bruna ins Gefängnis gekommen und wird hier bleiben, wenn Bruna entlassen wird. Die andere ist Vlatka. Eine Mittfünfzigerin aus Zagreb, die arrogant und aristokratisch aussieht. Vlatka wurde wegen mehrfachen Immobilienbetrugs verurteilt. Sie ist als Letzte gekommen, vorletztes Jahr. Dem Alter nach ist Vlatka die Älteste, doch in der Gefängnischronologie ist sie die Jüngste. Vor Bruna, Mejra und Vlatka liegt ein neuer Tag mit drei Mahlzeiten für die hungrigen Bewohnerinnen der Haftanstalt. Als Erstes macht Bruna Feuer. Dann setzt sie einen großen Kessel mit Wasser auf, und wenn es kocht, schüttet sie Tee hinein. Der Tee ist immer der gleiche: Hagebutte, industriell hergestellt, rubinrot, süßlich riechend, wie alles hier im Gefängnis, von den Wänden bis zur Haut. Als Nächstes holt Bruna den Dosenöffner, glänzend und lang wie ein Fleischermesser, und öffnet eine Dose mit billiger Pfirsichmarmelade. Dann geht sie hinunter in den Hoftrakt, wo schon die Papiersäcke voller Brot warten. Sie sind schwer: In jedem sind zwanzig Laibe, in der Nacht in der Stadtbäckerei gebacken. Bruna und Mejra tragen die Säcke in die Küche und schneiden das Papier auf. Sie zählen die Laibe und legen die fürs Frühstück zur Seite. Dann holt Bruna das elektrische Messer und schneidet sie in gleichmäßige Scheiben. Diese dürfen nicht zu dick sein, weil sonst das Brot nicht reicht. Aber auch nicht zu dünn, weil es sonst bröselt, wenn die Frauen es in die Milch bröckeln. Sie murren, wenn das Brot schlecht geschnitten ist. Genau richtig geschnittene Scheiben sind ein Zeichen, dass es ein guter Tag wird. Das will Bruna ihnen nicht nehmen. Wenn das Frühstück fertig ist, geht Mejra hinaus, um eine zu rauchen, und Bruna macht sich an ihre Lieblingsarbeit. Sie beginnt mit dem Mysterium des Kochens, mit seinen immer gleichen Handlungen, die für Uneingeweihte keinen Sinn ergeben. Bruna schneidet Zwiebeln in kleine Würfel, Karotten in Scheiben. Sie schält Kartoffeln, putzt Gemüse – Erbsen, Bohnen, Lauch oder Wirsing. Heute ist es Lauch, der wie weiße und grüne Seide glänzt. Sie stellt einen Topf auf den Herd, erhitzt Öl, gibt Zwiebeln hinein, gießt Wasser hinzu und kurz darauf steigt Dampf aus dem Topf und verbreitet einen intensiven und würzigen Duft. Bruna setzt sich und lässt die Hitze das Ihre tun. Sie starrt auf eine weiße Wand, an die Stelle, wo die Abwasserleitung aufsteigt und an der Decke abknickt. Während das Essen kocht, denkt sie daran, wie sie hierher gekommen ist. Sie denkt an den Tag im Januar, als Susanna angerufen und ihr gesagt hat, dass bei Zorana eine Geburtstagsfete steigt. Und sie denkt, dass Susanna recht hat. Alles wäre anders, wenn es diesen Tag nicht gegeben hätte. 3. In diesem Januar 2006 rollte von Süden eine Kältewelle heran. Am Abend zogen sich über Split dichte Regenwolken zusammen. Bruna und ihre Mutter saßen in Decken gewickelt auf dem Sofa und schauten eine türkische Soap. Gegen sieben, als die blauäugige Schönheit gerade den Wesir verführte, klingelte das Telefon. Es war Susanna. Eine Stunde später stand Bruna vor dem Haus und wartete auf ihre Freundin. Sie hatte Aspirin und Hustensaft dabei und trug einen dicken Mantel und einen Schal. Sie hatte einen Schuhkarton mit selbstgebackenen Mandelkeksen in der Hand. Es war der neunte Januar, acht Uhr abends, und vor Bruna lagen Zoranas Geburtstagsfeier und – wie sie dachte – ein ganzes langes Leben. Damals war Bruna...