E-Book, Deutsch, 498 Seiten
ISBN: 978-3-7554-0795-9
Verlag: BookRix
Format: EPUB
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1
Ihre Verzweiflung hallte ein weiteres Mal den langen, hohen Gang des Heims entlang. Nur eine Frau konnte trotz vollkommener Erschöpfung aus tiefstem Inneren so kräftig und schmerzvoll zugleich schreien. Dabei waren diese Schreie an sich im Heim ›Schwarzwald‹ nichts Ungewöhnliches. Dafür war das Lebensborn-Heim in Nordrach von der SS eingerichtet worden: um Kinder zur Welt zu bringen. Heime des SS-Lebensborn-Vereins im ganzen Reich, von Österreich bis Norwegen, kümmerten sich darum, dass deutsche Frauen uneheliche Kinder arischen Blutes zur Welt bringen konnten, statt sie heimlich abzutreiben. Oder aber dass Kinder aus dem Osten, die wenigstens arisch aussahen, ihren Eltern entrissen und umerzogen, »arisiert« wurden. Die Herrenrasse brauchte mehr Nachwuchs! Dafür war jedes Mittel recht. Und manche Mutter war froh, in einem Heim fern der Heimat Hilfe zu bekommen, um möglichst unentdeckt entbinden zu können. So war es auch in diesem Fall. Doch diese Geburt verlief nicht reibungslos wie sonst bisher alle Geburten in dem Heim. Selbst Gertrud Dörflinger, die Hebamme, die schon unzähligen Kindern auf die Welt geholfen hatte, war überrascht worden. Natürlich hatte sie die komplizierte Steißlage schon vor Wochen festgestellt, war aber überzeugt gewesen, dass sich das Kind mit ihrer Hilfe noch drehen lassen würde. Doch dann hatten bei Irene Hartwig plötzlich die Wehen eingesetzt und die Fruchtblase war geplatzt, viel zu früh, zur falschen Zeit. Sonst wäre Dr. Feger, der Bereitschaftsarzt aus Zell, an diesem Nachmittag im Oktober 1944 sicher im Heim geblieben. Er war der Einzige, der im Ernstfall das Leben von Mutter und Kind mit einem Kaiserschnitt retten konnte. Seine Diagnose hatte die Einschätzung der erfahrenen Geburtshelferin bestätigt, dass bis zur Geburt noch gut zwei oder drei Wochen Zeit waren. Angesichts der gefährlichen Lage des Fötus kam auch eine sonst angezeigte Zangengeburt nicht infrage. Die Hebamme drückte nach dem Nachlassen der letzten Wehe das Hörrohr auf den Bauch der Frau. Marie Heumann, die junge Krankenschwester, die Irene Hartwig die letzten Wochen betreut hatte, saß am Kopfende der Liege und tupfte mit einem kühlen, feuchten Tuch den Schweiß von Irenes rot angelaufenem Gesicht ab. Durch den Druck waren sämtliche Äderchen in den Augen geplatzt und ihre Augäpfel blutrot. Marie hob Irenes Oberkörper sanft an und zog das Kissen zurecht. Dann ließ sie sie langsam zurück auf die Liege sinken. Nur mit Mühe konnte die völlig erschöpfte Frau unter den zitternden Lidern die Augen offenhalten. Auch ihr Kreislauf hielt der Anstrengung kaum noch stand. »Du weißt, was du mir versprochen hast, Marie?«, flüsterte Irene schwach zwischen zwei mörderischen Wehen. Marie nickte ihr zu und warf dann der Hebamme einen fragenden Blick zu. Gertrud Dörflinger legte das Hörrohr weg und schüttelte unmerklich den Kopf. Dann signalisierte sie Marie, Irene gut festzuhalten. Friedgard Lotz, die Oberschwester, trat hinzu und beugte sich zu Irene herunter. Sie war erst vor wenigen Minuten hinzugekommen und hatte das Geschehen zunächst nur beobachtet. Mit einem leisen, aber klaren »Festhalten!« gab sie jetzt das Kommando. Marie und sie hielten jeweils die Schulter und Hand der Frau auf einer Seite fest. Im gleichen Moment versuchte die Hebamme, mit einem kräftigen Druck auf den Bauch den Fötus zu drehen. Irenes Körper bäumte sich auf, sie stieß einen entsetzlichen Schrei aus und Marie und die Oberschwester mussten alle Kraft einsetzen, um Irene festhalten zu können. Dann löste sich plötzlich die Spannung und Irene sackte zusammen. Marie sah Oberschwester Lotz ernst an. Sie erkannte Panik in ihrem Blick, denn Irene Hartwig war nicht irgendeine Schwangere. »Wo verdammt noch mal bleibt dieser Dr. Feger?« Der Ton der Oberschwester ließ keinen Zweifel daran aufkommen, dass sie keine besondere Wertschätzung für den »Dorfgynäkologen« empfand, wie sie den Arzt despektierlich nannte. Für sie war klar, dass ihr mit ihrer über dreißigjährigen Erfahrung kein Arzt etwas vormachen konnte. Jeden Kaiserschnitt würde sie besser machen, wenn man es ihr nur erlauben würde. Aber sie war Oberschwester, keine Ärztin. Ein Makel, der sie ihr Leben lang wohl nicht mehr verwinden würde und deshalb jeden Arzt spüren ließ. »Ich habe den Hausmeister geschickt, ihn in Zell zu suchen und schleunigst herzubringen«, sagte die Hebamme. Rund einhundertachtzig Mütter hatten bisher ihre Kinder unter ihrer Verantwortung zur Welt gebracht und fast alle kerngesund. Ernsthafte Komplikationen hatte es selten gegeben. Zumal die medizinische Versorgung im Vergleich zu den in den Dörfern oft noch üblichen Hausgeburten deutlich besser war. Bei zu erwartenden Problemen war stets der Arzt anwesend gewesen, doch kriegsbedingt gab es keinen festen Heimarzt mehr, sondern nur noch einen Bereitschaftsarzt, der das Heim zusätzlich zu seiner eigenen Praxis betreute. Die medizinische Versorgung war daher nicht mehr so, wie Friedgard Lotz das für die Erfüllung ihrer Pflicht eigentlich erwartete. Die regelmäßigen Beschwerden des Heimverwalters über diesen Zustand in der Zentrale des Lebensborns in München waren allesamt ohne Erfolg geblieben. Der Krieg, mittlerweile im sechsten Jahr, hatte überall im Reich längst zu einer dramatischen medizinischen Unterversorgung geführt. Eine weitere Not der Menschen neben Hunger, Kälte, Armut und einem Leben in ständiger Angst. Sie mussten froh sein, dass sie überhaupt einen Arzt im Heim hatten. In aller Eile war der Hausmeister des Heims, Ludwig Nickel, wenige Minuten zuvor mit seinem Lieferwagen die Einfahrt hinuntergerast. Zum Glück lag trotz der Kälte der Oktobernächte kaum Schnee auf der Straße. Der zu erwartende Winter, hart und schneereich, kündigte sich gerade erst an. In weitläufigen Kurven schlängelte sich die schmale Straße rund acht Kilometer das Tal entlang bis nach Zell. Dort traf es mit dem Harmersbachtal zusammen und mündete bei Biberach in das breite Kinzigtal. In Zell hatte Dr. Feger seine eigene Praxis und wohnte in einer kleinen Wohnung direkt darüber. »Nickelchen«, wie die Lernschwestern und jungen Vorschülerinnen den Hausmeister liebevoll nannten, schickte ein Stoßgebet zum Himmel, dass er Dr. Feger zu Hause oder in der Praxis antreffen würde. Er würde ihn ins Heim fahren und das schnell, sehr schnell! Irene Hartwig war erst vier Wochen zuvor unter äußerst ungewöhnlichen Umständen in dem Heim in Nordrach angekommen. Nickel hatte an diesem Tag damals ein Fräulein Biermann aus Hannover am Bahnhof in Biberach abholen sollen, die das uneheliche Kind eines Gauleiters in sich trug. Doch diese war nicht im angekündigten Zug gewesen. Das Reisen mit der Eisenbahn war schon lange nicht mehr so zuverlässig, wie es noch vor dem Krieg gewesen war. Stattdessen hatte der Schaffner einen Notfall und einer anderen schwangere Frau aus dem Zug geholfen, die sich offenbar unter Schmerzen im Bauch krümmte. Der Hausmeister war dem Schaffner zu Hilfe geeilt und hatte die Frau gestützt. Diese hatte sich zwischen zwei Wehen als Irene Hartwig aus Berlin vorgestellt, während noch ein kleines Mädchen in einem geblümten blauen Kleid mit einem braunen Koffer in der Hand aus dem Zug kletterte. Kaum hatte Nickel das Kind entdeckt, dass die Hand der stöhnenden Frau ergriff, ertönte bereits ein lauter Pfiff, der Bahnbeamte sprang in den Zug und dieser setzte sich in Bewegung. »Tut mir leid! Wir haben Verspätung! Kümmern Sie sich um die Frau!«, hatte er Nickel noch zugerufen, bevor der Zug den Bahnhof verlassen hatte. Nachdem außer ihnen nur noch drei ältere Männer und eine Bäuerin mit einer Gemüsekiste in Händen auf dem kleinen Bahnsteig zurückblieben, hatte Nickel den Entschluss gefasst, die Frau mit dem Kind schnellstens ins Heim zu fahren. Wo, wenn nicht da, konnte ihr geholfen werden. Zumal der Heimarzt Dr. Feger zu dem Zeitpunkt im Heim war und nicht in seiner Praxis in Zell. »Dort vorne ist das Lebensborn-Heim«, hatte Nickel während der Fahrt gesagt und geradeaus durch die Windschutzscheibe gezeigt. Frau Hartwigs Schmerzen waren in dem Moment offenbar gerade erträglicher und sie für eine Ablenkung dankbar. Alma hatte sich auf der Rücksitzbank ducken müssen, um etwas sehen zu können. Herrschaftlich erhob sich das dreigeschossige Gebäude wie ein kleines Schloss über den Ort. Ein mit vielen Gauben versehenes, hohes Dach zierte das beeindruckende, im Stil des Historismus errichtete Haus. Alma rutschte vor Aufregung auf der Bank hin und her, als sie das »Märchenschloss« erblickte. Im Zug hatte sie lange geschlafen, doch jetzt war sie hellwach. Schon der Schreck im Zug, als Irene Hartwig nach dem Umsteigen in Offenburg plötzlich so starke Schmerzen bekommen hatte, hatte sie in Aufregung versetzt. Rot leuchtete der Buntsandstein des Erdgeschosses, der kleinen Pilaster und der Fenstereinfassungen des Hauses in der nachmittäglichen Sonne. Bei den Wandfassaden der oberen Stockwerke hatte sich der Bauherr Anfang des Jahrhunderts für gelben Greppiner Ziegel entschieden, der in dieser Region eher ungewöhnlich war. Irene Hartwig erkannte diese Steine aus Hunderten, denn sie waren...