Roman
E-Book, Deutsch, 288 Seiten
ISBN: 978-3-938539-81-1
Verlag: mairisch Verlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 0 - No protection
Zwölf Jahre später: Ein Restaurant in Hamburg. Es herrscht Hochbetrieb in Ku¨che und Service. Im Speiseraum sitzt auch der bekannte Kunstkritiker Gerd Möninghaus. Dem kommt einer der anderen Gäste seltsam bekannt vor. Zu spät fällt Möninghaus ein: War das etwa Glander? Als kurze Zeit später bislang unbekannte Skizzen des verschollenen Ku¨nstlers in der Redaktion auftauchen, beginnt der engagierte Journalist zu recherchieren. Seine Suche fu¨hrt ihn von Hamburg nach New York, nach St. Moritz, an den Bodensee und ins Allgäu – und er macht dabei eine u¨berraschende Entdeckung.
Stevan Paul geht in seinem ersten Roman »Der große Glander« der Frage nach, was Essen zur Kunst macht. Er erzählt von der Liebe, vom Heimkommen und von der Freiheit, sich immer wieder selbst neu erfinden zu können. Herausgekommen ist ein leidenschaftliches Plädoyer fu¨r die Sorgfalt und das Authentische, eine Liebeserklärung ans Kochen – und ein großer Spaß.
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1
»Oh, Frau Möninghaus, guten A-ha-bend! Frau Möninghaus, unseren Haus-Apéro, den müüüssen Sie probieren«, Gerd Möninghaus äffte den Kellner nach, der eben mit der Bestellung verschwunden war. Silke Möninghaus studierte derweil teilnahmslos die Stuhlbeine am Nachbartisch. »Frau Möööninghaus, auch einen Apéro für Ihren Gatten?«, flötete Gerd Möninghaus, der sich noch nicht so richtig an die seltene Rolle als Begleiter seiner Frau gewöhnt hatte. »Gerd. Ich hatte mich auf diesen Abend gefreut.« Möninghaus rückte sich gerade und fand die eigene Stimme wieder: »Ist doch wahr, dieses alberne Getue ist unerträglich«, er blickte mürrisch hinauf zu den funkelnden Kronleuchtern, studierte die Gobelinstickereien auf den schweren Wandbehängen: »Gott, da kriegt man ja schon vom Hinsehen eine Hausstauballergie, das ist ja alles uralt hier.« »Ja, Gerd. Mit alten Sachen kennst du dich ja aus. Aber der Küchenchef, der ist neu und darum sitzen wir hier, weil meine Leserinnen das interessiert, und der Verlag bezahlt auch dein Essen, also verwöhne die Welt mit deinem schönsten Lächeln, sie ist gut zu dir.« Der Kellner erschien und servierte den Aperitif: »So, da haben wir unseren Mandarinen-Espuma, Frau Möninghaus, mit Wodka und Wakame-Algen, getoppt mit Osietra-Kaviar Malossol und Mandarinenfruchtfleisch. Sehr zum Wohlsein.« Silke Möninghaus ergriff ihr Cocktailglas, prostete ihrem Mann mit einem breiten Grinsen zu, beugte sich dann nach vorn und flüsterte: »Und überhaupt, da kannst du mal nachfühlen, wie mir das immer geht, wenn ich ständig den großen Kunstexperten Gerd Möninghaus zu seinen furzlangweiligen, achsowichtigen Vernissagen begleiten muss. Da gibt es dann warmen Sekt, immer diese nervig laute Disko-Bums-Mucke und pro Gast ein halbes Räucherlachs-Canapé mit versalzenem Discounterlachs auf fitzelig dünnen Papierservietten serviert, deren erste Lage sich immer schon mit der Mayonnaise vermählt hat. Papierservietten muss ich essen, wenn ich dich begleite, Gerd, Papierservietten!« Silke Möninghaus nickte abschließend, sie lächelte jetzt nicht mehr, hob das Glas zum Mund, und Kaviarperlen und Algenhäutchen verschwanden zwischen ihren signalrot geschminkten Lippen. »Wir könnten uns ja heute Abend auch mal unterhalten, über deine Tochter zum Beispiel.« »Und was macht die so?«, fragte Möninghaus müde. Zu seiner Überraschung kramte seine Frau jetzt die aktuelle Ausgabe des Frauenmagazins hervor, dessen Chefredakteurin sie war, blätterte energisch im Heft und wurde im Reiseteil der Zeitschrift fündig. Sie reichte ihm das aufgeschlagene Heft, ihr roter Fingernagel markierte ein kleines Bild am Ende eines Beitrags über Das junge Ibiza – die schönsten Wohlfühlresorts. Gerd Möninghaus studierte das Foto lange, las die Bildunterschrift mehrmals: Relaxte Chillout-Sounds serviert DJane Mika zum Sundowner an der Strandbar. Auf dem Foto war eine junge Frau hinter einem Tresen mit zwei Plattenspielern zu sehen, sie trug einen übergroßen Kopfhörer und blickte ernst auf das Mischpult zwischen den Plattentellern, unter ihrem rechten Arm klemmte eine Schallplattenhülle. Er ging mit dem Gesicht ganz nah heran an das Bild, kniff die Augen zusammen, entzifferte die Schrift auf dem Albumcover: Facing the sun, stand da. Er blickte hoch und sah fragend seine Frau an: »Aber Michaela heißt doch Michaela.« Gerd Möninghaus leerte das Cocktailglas mit einem Zug, schauderte, strich sich beiläufig über die Lippen. »Und warum sind denn bitte ihre Haare blau?« Aber sie war es, eindeutig. Seine Tochter. Michaela Möninghaus. Eigentlich Hotelfachfrau in Ausbildung, im Luxusresort Aguas de Ibiza. Jetzt aber wohl DJane an der Strandbar, Möninghaus beugte sich abermals hinab zu Foto und Artikel, einer der schönsten Sunsetbars Ibizas. Mit blauen Haaren. »Konntest du das nicht verhindern?« »Ich dachte, wenn ich nichts sage, merkt’s vielleicht keiner in der Redaktion, schlafende Hunde soll man ja … und so war’s dann auch, Glück gehabt.« Silke Möninghaus lachte kurz und künstlich, griff zum leeren Cocktailglas, blickte sich dann suchend nach dem Kellner um. »Was haben wir nur falsch gemacht?«, fragte Gerd Möninghaus die geleerten Gläser vor sich. Dann bemerkte er erstmals den Mann, der ihnen schräg gegenüber an einem Zweiertisch saß und, offensichtlich alleine, bereits beim Hauptgang angekommen war. Der Mann war von riesenhafter Gestalt, im Stehen sicher über zwei Meter groß, schätzte Möninghaus, klein und zerbrechlich wirkte im Vergleich der gedeckte Tisch, an dem der Riese saß, das Weinglas in seiner Hand wirkte wie Puppenhaus-Zubehör. Konzentriert schnupperte der Riese am Wein, ließ ihn fachmännisch und elegant im bauchigen Glas kreisen, senkte nochmals die imposante Nase hinein, nahm einen Schluck, kaute mit geschlossenen Augen, sog Luft durch die Lippen, schluckte und nickte dann anerkennend. Der Mann trug eine sandfarbene Cordhose und ein marineblaues Hemd unter einem dunklen Sakko. Eine legere Eleganz, die in auffälligem Missverhältnis zum dichten, nachlässig gepflegten Bart des Riesen stand, auch seiner Frisur hatte der Mann nur wenig Aufmerksamkeit gewidmet, vielleicht ließ sich das dicke, dichte schwarzgraue Haar einfach nicht besser bändigen. Wie ein Wilder, der sich fein angezogen hatte, für einen Ausflug unter die Menschen, dachte Möninghaus, der plötzlich von einem Gefühl der Vertrautheit zu diesem Mann ergriffen wurde. Merkwürdig bekannt schien ihm das Gesicht des Riesen, die wachen blauen Augen unter dichten Augenbrauen, die markante Nase, Möninghaus versuchte sich zu erinnern, ob und wo er diesem Mann schon einmal begegnet war. »Und, was macht die Arbeit? So als König ohne Königreich?« Seine Frau unterbrach die ergebnislose Gedankenrecherche. Sie sprachen nie über ihre Arbeit, der Fakt, dass sie beide im selben Verlagshaus angestellt waren, hatte den Radius möglicher Gesprächsthemen zwischen den Eheleuten schon früh derartig eingeengt, dass sie beschlossen hatten, nur noch in Notfällen ihre Gedanken zu Verlagspolitik, Kollegen und Mitarbeitern auszutauschen. Ein solcher Notfall war in den vergangenen Wochen eingetreten. »Der hat wirklich alle entlassen, alle. Wir waren zwölf Redakteure. Nur Wolfgang und ich sind noch übrig. Nächste Woche ist Umzug, Wolfgang und ich teilen uns dann ein winziges Zimmer, in diesem Nebengebäude in der Köhlerstraße, da, wo die Kundenzeitschriften gemacht werden. Für jede Scheißbesprechung mit dem feinen Herrn Chefredakteur darf ich dann zehn Minuten ins Verlagsgebäude rüberwackeln.« Möninghaus machte eine Pause. »Mir tut’s so leid um die Kollegen. Die finden doch nichts mehr, die gehen doch alle stramm auf die Sechzig zu!« »Was hat denn Braunauer dazu gesagt?« »Das ist die Zukunft, hat er gesagt. So geht Zeitschriftenmachen heute, hat er gesagt. Kleine Redaktion, zwei Leute, Chefredakteur, Grafiker, den Rest kaufen wir über Freie ein. Das hat er gesagt. Und dann einfach alle rausgeschmissen. Muss die erst mal ein Vermögen an Abfindungen gekostet haben. Die Kollegen haben wohl alle ordentlich Geld bekommen. Aber zur Frühpension reicht’s halt auch nicht. Die werden das Geld noch brauchen. Die waren ja alle ihr ganzes Berufsleben lang Redakteure eines Kunstmagazins. Die überleben doch keine fünf Minuten auf dem freien Markt. Braunauer hat zwar allen ganz generös angeboten, weiter frei für uns zu schreiben, was die jetzt aber natürlich erst mal nicht machen, die sind beleidigt und das zu Recht.« Möninghaus starrte auf eine einzelne, schwarz glänzende Kaviarperle, die sich zwischen dem Tischtuch und seiner Serviette versteckt hatte. »Ich habe keine Leute, ich habe keine Ahnung, wie ich das nächste Heft fertig kriegen soll. Wie bitte? Ja, danke, Weißwein, prima, nehm ich.« Die Weingläser wurden gefüllt, junge Mädchen servierten die Vorspeise, auf das Kommando des Kellners im Hintergrund wurden die silbernen Cloches gelüftet, und sofort waberte dichter weißer Nebel über den Tisch, der intensiv nach Fichtennadeln roch und sich hartnäckig über den Tellern hielt. Nur langsam schälte sich ein Bastkörbchen aus dem Nebel, darin ein Fichtenzweig, auf dem zwei butterschwitzende Garnelen lagen. »Großartig!«, rief Silke Möninghaus und zückte ihr Handy. »Das sind unsere norwegischen Garnelen in Meersalzbutter aus dem Fichtenrauch«, erklärte der Kellner und wünschte: »Guten Genuss!« Gerd Möninghaus versteckte sein aufkommendes Gelächter hinter vorgehaltener Hand, auch, weil sich seine Frau schon konzentriert Notizen machte. Guten Genuss. Er kicherte leise. Kommt man nicht drauf. Er war froh, seiner Frau nicht mehr erzählen zu müssen, was Braunauer ihm am Ende des Gesprächs, schon an der Tür, noch mit auf den Weg gegeben hatte, unangenehm nah war er dabei an ihn herangetreten, hatte die Stimme gesenkt, als verrate er ein Geheimnis: »Wissen Sie, Herr Möninghaus, mit der Kunst ist das im Verlagsgeschäft genau wie im richtigen Leben, Kunst muss man sich leisten können. Und den Fakt, dass Sie und der Herr Lechner hier überhaupt noch an einem Kunstmagazin arbeiten dürfen, haben Sie anderen, wesentlich erfolgreicheren Formaten unseres Hauses zu verdanken. Außerdem glaubt der Vorstand noch, und die Betonung liegt auf noch, Herr Möninghaus, an die Notwendigkeit eines Kunstmagazins im Verlags-Portfolio. Ja, wenn’s nach mir ginge … Überzeugen Sie mich, Herr Möninghaus. Rechtfertigen Sie das in Sie gesetzte Vertrauen. Große Geschichten, Herr Möninghaus. Emotionen. Rock ’n’ Roll! Schaffen Sie das, Herr Möninghaus?« Ohne eine Antwort abzuwarten, hatte der Chefredakteur ihn aus dem Zimmer geschoben. »Das hier ist übrigens auch Kunst«, sagte Silke Möninghaus und holte...