Hoffnungsgeschichten vom frommen Jeck
E-Book, Deutsch, 208 Seiten
ISBN: 978-3-451-82238-4
Verlag: Verlag Herder
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Autoren/Hrsg.
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Vorwort
Liebe Leserin, lieber Leser, Religionen sind zu schonen, sie sind für Moral gemacht. Ich finde ihn großartig, den Grönemeyer! Er singt diesen Vers im Lied Stück vom Himmel, ein wunderschöner Song. Obwohl: Was er da singt, ist völlig falsch. Religionen sind nicht für Moral gemacht. Das möchte ich Ihnen gerne erklären, denn allzu viele sehen das so wie Herbert Grönemeyer. Und damit kommen Sie, liebe Leserin, lieber Leser, auch gleich zu dem, was ich Ihnen in diesem Buch erzählen möchte: Wofür sind Religionen gemacht? Sie sind gemacht für Sie. Nicht gegen Sie. Wenn Religionen im Kern für die Aufrechterhaltung der Moral im privaten Bereich jedes Menschen und im öffentlichen Bereich der Gesellschaften zuständig wären, ihre Botschaft also vor allem aus Sätzen bestünde, die mit »Du sollst« beginnen, wenn diese Gebote und Gesetze zu ihrer Durchsetzung auch noch mit Verdammnis und Höllenstrafen, dem teilweisen oder kompletten Liebesentzug der Götter verbunden wären, dann würde der Glaube der Menschen zu einer psychischen Krankheit, pathologisch, und in den Gesellschaften würde er zum Feind von Freiheit und Selbstbestimmung. Dann kommandiert da oben einer (oder mehrere), und die unten müssen kuschen und Angst haben. Denn niemand liegt moralisch immer hundertprozentig richtig. Fehler in Gewissensentscheidungen oder unbefragte Gewissen, Vergehen gegen das Gute, Schlimmes und Böses kommen vor. Wir hätten unter so einem Himmel nichts zu lachen. Bitte erwarten Sie kein Buch von mir, in dem es nichts zu lachen gibt! Weil ich religiös bin, lache ich gerne und bringe auch immer wieder andere Menschen zum Lachen. Wie kommt Grönemeyer dann auf diesen Vers? Na ja. Vielleicht hat er wie sehr viele Menschen aus dem Religionsunterricht die Geschichte besonders gut in Erinnerung, in der Gott dem Mose auf steinernen Tafeln die Zehn Gebote gibt. Die beginnen ja klassischerweise alle mit »Du sollst«. Eventuell hat er auch den Satz, mit dem Gott die Zehn Gebote einleitet, vergessen. Oder man hat dem kleinen Grönemeyer diesen wichtigen Satz gar nicht mitgeteilt, nur die Gebote, nur »Du sollst«. Noch heute gibt es Internetseiten der beiden großen Kirchen, darauf stehen die Zehn Gebote ohne diesen einen, eminent bedeutsamen Satz am Anfang, ohne den die Gebote nur wie der Macht- und Moralanspruch eines obersten Befehlshabers rüberkommen. Der Satz lautet: »Ich bin der Herr, dein Gott, der dich aus Ägypten geführt hat, aus dem Hause der Knechtschaft.« Dieser Satz ist ungeheuer wichtig. Denn bevor Gott Gebote aufzählt, Richtlinien für ein gutes Zusammenleben, erinnert er an den wahren Grund seines Sprechens und an das, was ihn mit den Menschen im Volk Israel wirklich verbindet: Er hat sie in die FREIHEIT geführt! Natürlich, Freiheit bedarf der Gestaltung. Dabei kann einiges schiefgehen. Es braucht Orientierung. Es braucht auch Grenzen der persönlichen Freiheit zugunsten der Freiheit und des Wohlergehens aller anderen. Genauso muss es die Garantie persönlicher Freiheit gegenüber den Ansprüchen der anderen sowie der staatlichen und religiösen Institutionen, der wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Mächte geben. Sonst endet Freiheit sehr bald in Kämpfen und Unterdrückung. Deshalb, und nur deshalb enthält Religion auch Orientierung und Moral. Gottes Gebote bewahren vor Bruderkrieg und Tyrannei, sie sind auch Garanten der Freiheit. Denn vor allem ist über Gott dieses zu sagen: Er führte mich heraus in die Weite (Psalm 18)! Wenn ich an Herbert Grönemeyer und seinen Vers, an viele gläubige wie ungläubige Menschen denke, die ich kennenlernte, hat sich in ihnen sehr oft und tief festgesetzt, Religion zuerst mit Ge- und Verboten zu verbinden, mit Moral, und sehr oft mit dem Gegenteil von Freiheit. Sie erinnern sich an den Unterricht vor der Erstkommunion und die Vorbereitung auf die erste Beichte: Da gab es, als Beicht- oder Gewissensspiegel, lange Listen von Sünden, die man begangen haben könnte. Wenn sie bald darauf in die Pubertät kamen, war alles »unkeusch«; das schlechte Gewissen war also für gläubige Jungen und Mädchen fest gepachtet, denn »unkeusche Gedanken« stellten sich sowieso täglich ein, anderes auch noch. Und vor der Ehe … Und in der Ehe … Dass Moral sein muss, ihre Vorzüge hat und ihre Unverzichtbarkeit im Zusammenleben, das schwingt in Grönemeyers Vers ja mächtig mit. Der Mann hat in allen seinen Liedern ein tolles Gespür für das, was die Menschen bewegt, was sie einsam werden lässt und was sie zusammenbringt, was Leben und Liebe vereiteln kann oder gelingen lässt. Die »Ordnungskraft« der Religion, die Grönemeyer anerkennt – »Religionen sind zu schonen …« –, wird ja von vielen geschätzt. Sollte denn jeder Mensch ganz von vorn anfangen, um für sich herauszufinden, was richtig und falsch, gut und böse ist? Erstens erinnerte das an das völlig antiautoritär erzogene Kind, das fragt: »Mama, was soll ich spielen? Oder muss ich wieder machen, was ich will?« Und zweitens: Mein Leben, Ihres auch, wäre viel zu kurz, um das über Jahrtausende in den Lehren der Religionen komprimierte Lebens- und Orientierungswissen, ihren moralischen Kompass, durch eigene Erfahrungen und Reflexionen aufzuholen. Der Schaden in so einem »trial-and-error«-Prozess wäre für mich und für die Mitmenschen immens! Gregor Gysi hat mal den verblüffenden Satz gesagt: »Ich bin zwar Atheist, aber dennoch fürchte ich eine gottlose Welt.« Meint er eine »unmoralische Welt«? Eine, in der die Zehn Gebote, das »Nicht morden sollst du!« und die gegenseitige Verantwortung füreinander, der moralische Kompass nicht mehr gelten? Klar, das wäre eine schlimme Welt. Nur vermute ich, besonders wenn ich an meine atheistischen Freunde denke, eine Welt ohne Religion wäre nicht unbedingt eine Welt ohne Moral. Das beweisen viele Ungläubige Tag für Tag mit ihrem Verhalten, ihrer Solidarität, ihrer gelebten Liebe zu den Nächsten und den Fernen. Oder auch nicht. Noch einmal sei gesagt: Religionen sind nicht für Moral gemacht. Sie, liebe Leserin, lieber Leser, haben bemerkt: Ich habe natürlich nichts gegen Moral, im Gegenteil. Schon gar nichts gegen Religion. Ich habe aber etwas gegen Religionen und deren Organisationen, wenn sie vor allem Moral predigen, wenn sie Angst machen und als oberste Moralwächter ge- und missbraucht werden. Wenn sie die fremde Rede von Gott restlos in moralische Orientierung übersetzen, wie Jürgen Habermas sagte. Nun könnte man sagen, das ist sowieso Vergangenheit. Kinder werden heute in der Kirche nicht mehr mit der Angst vor Höllenstrafen in Beichtstühle getrieben, sie erfahren – hoffentlich überall – eine Einladung zum Gespräch und zur Versöhnung mit sich selbst, mit anderen und mit Gott, einen Schub in ihrer Persönlichkeitsentwicklung, eine realistische, gleichwohl fröhliche Begegnung mit dem Leben, wie es nun mal ist, mit Licht- und mit Schattenseiten. Und was die Sexualität Pubertierender und Erwachsener angeht: Die meisten haben zumindest verstanden, dass für sie Freiheit und Liebe, am besten als Kombination, die wesentliche Richtschnur sind. Wenn sie gläubig sind, wissen sie hoffentlich auch, dass der liebe Gott schon aus Prinzip nichts gegen Freiheit und Liebe hat, dass er ihnen aber auch einen Verstand und ein Gewissen für Verantwortung gegeben hat. Also: Ist die moralische Anstalt Kirche ein Problem von gestern? Ich fürchte: im Gegenteil. Die Zehn Gebote ändern sich natürlich nicht. Sie erfahren allerdings in ihrer Verkündigung und Wahrnehmung schon mal Akzentverschiebungen. In der Friedensbewegung der 1980er-Jahre stand das »Nicht morden sollst du!«, das fünfte Gebot, ganz obenan. Vorher hatte das sechste Gebot, »Nicht ehebrechen sollst du!«, in all seinen Auffächerungen zum Thema Sexualität für allzu lange Zeit Hochkonjunktur. Seit einiger Zeit geht es aber sehr oft um ein anderes Thema. Wir werden zurzeit mit Moral regelrecht zugeschüttet. Junge Leute ziehen – darin mittelalterlichen Untergangspredigern nicht unähnlich – Freitag für Freitag durch die Straßen und verkünden: »Das Ende ist nahe!« Nur noch abzuwenden durch strenge Askese und Umkehr. Es versteht sich von selbst, dass ich die bewundernswerte Energie von Greta Thunberg und ihren Jüngerinnen und Jüngern nicht arrogant kritisieren will. Nein! Ich ziehe meinen Hut davor. Nur, mit dieser Moralinstanz können die Kirchen gar nicht konkurrieren – und sollten es auch nicht! Aber viele ihrer Repräsentanten hängen sich da gerne dran. Ich werde nie ein Bild vergessen, welches in mir ein sublimes Fremdschämen ausgelöst hat: Es war die Zeit der großen Proteste gegen die Castor-Transporte. Ein Magazin druckte zu seiner Reportage ein Foto: Hinter einem langen Zug von Aktivisten lief ganz am Ende eine Person, die wohl fast den Anschluss verpasst hatte. Es war ein evangelischer Pfarrer, Talar und Bäffchen wehten im Wind. In der Hand ein Demoschild: »Pastor gegen Castor«. Nun bitte ich mir zu glauben, dass ich politisches Engagement der Kirchen nicht ablehne, oft ist es notwendig. Aber zu oft habe ich den Eindruck, dass sich hinter dem kirchlichen »Zeichensetzen« bei Mainstream-Themen die verzweifelte Angst verbirgt, nicht ganz vorn mitzuspielen, also wie der Pastor hinterherzulaufen. ...