E-Book, Deutsch, Band 2745, 129 Seiten
Reihe: Beck'sche Reihe
E-Book, Deutsch, Band 2745, 129 Seiten
Reihe: Beck'sche Reihe
ISBN: 978-3-406-80037-5
Verlag: Verlag C. H. Beck GmbH & Co. KG
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Autoren/Hrsg.
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1. Einleitung
Viele Laien, die das Wort «Lehnswesen» hören, denken an Fernes, Mittelalterliches: an böse Herren und arme Bauern, an Leibeigenschaft und Hörigkeit, Ausbeutung und Gewalt. Sogar manches Schulbuch präsentiert leibeigene Bauern als Basis einer «mittelalterlichen Lehnspyramide». All das ist Unfug! Das Bild der Pyramide führt in die Irre. Mit Bauern haben Lehen wenig zu tun, mit Unfreiheit und Ausbeutung gar nichts; und sie sind auch keine Institution, die mit dem Mittelalter untergegangen wäre. Im Gegenteil: Die letzte Entscheidung in einer Lehnssache hat das Reichsgericht am 5. April 1937 gefällt. Und noch in einem Gesetz der Bundesrepublik Deutschland ist von Lehen die Rede. Das Wort findet sich in jenem Text, den Juristen als EGBGB abkürzen. Offiziell trägt er den volltönenden Namen: «Einführungsgesetz zum Bürgerlichen Gesetzbuche in der Fassung der Bekanntmachung vom 21. September 1994 (BGBL. I S. 2494; 1997 I S. 1061), das zuletzt durch Artikel 2 des Gesetzes vom 24. September 2009 (BGBL. I S. 3145) geändert worden ist». Dieses Einführungsgesetz wurde am 18. August des Jahres 1896 ausgefertigt. Es war eine reife Frucht der Reichsgründung von 1871: Es regelte, unter welchen Bedingungen das Bürgerliche Gesetzbuch, das ein reichsweit einheitliches Privatrecht schuf, am 1. Januar des Jahres 1900 in Kraft treten sollte. Dafür war unter anderem zu klären, in welchen Rechtsgebieten die Bundesstaaten des Deutschen Reichs fortan noch eigene Regelungen beibehalten durften. Das Einführungsgesetz ließ eine ganze Reihe solcher Ausnahmen und Abweichungen zu. Auch sein Artikel 59 stand in diesem Zusammenhang. Er bestimmte: «Unberührt bleiben die landesgesetzlichen Vorschriften über Familienfideikommisse und Lehen, mit Einschluss der allodifizierten Lehen, sowie über Stammgüter.» Heute müssen nur noch Juristen diesen Artikel des EGBGB kennen. In unserem Alltag spielen Lehen keine Rolle mehr. Im Jahr 1896 aber, als der Gesetzestext geschaffen wurde, gab es sie in Deutschland noch. Sie galten als ein Gegenstand des Privatrechts, das bis dato in den Ländern je unterschiedlich gehandhabt worden war. Bei der Einführung des BGB bestand deshalb Regelungsbedarf. Das hat Konsequenzen für uns auch dann, wenn wir nach Lehen im Mittelalter fragen wollen. So seltsam es klingen mag – wir müssen dazu erst einmal in das 19. Jahrhundert schauen! Damals entwickelte sich die Historie zu einer Wissenschaft. Im Zuge dessen wurden grundlegende Modelle ausgearbeitet, Begriffe etabliert, Bilder entworfen, die noch unser heutiges Wissen vom Mittelalter zutiefst prägen. In dieser Phase der Verwissenschaftlichung des Fachs Geschichte waren Lehen Teil der Rechtswelt, auch in vielen Regionen Deutschlands. In der preußischen Provinz Westfalen etwa wurde der Lehnsverband erst mit einem Gesetz vom 3. Mai 1876 aufgehoben. Die Historiker des 19. Jahrhunderts, die Standardwerke zum Lehnswesen schufen, konnten deshalb kaum umhin, Phänomene und Kategorien ihres gegenwärtigen Lehnrechts in die Geschichte hineinzuprojizieren. Paul von Roth beispielsweise, Professor in Kiel, schrieb 1858 ein Buch über das damals gültige Mecklenburgische Lehnrecht. Darin konstatierte er, zu den gemeinrechtlichen Quellen dieses Rechts gehöre das langobardische Lehnrecht. Das war erstmals im ausgehenden 11. Jahrhundert niedergeschrieben worden! Roth selbst hatte im Übrigen schon 1850 ein Buch über die Frühgeschichte des Lehnswesens bis zum 10. Jahrhundert publiziert, das die weitere Geschichtswissenschaft tief beeinflussen sollte. So darf man sagen: Im Wissen um das Lehnrecht ihrer eigenen Zeit entwarfen Roth und seine Kollegen ihr Bild von Lehen im Mittelalter. Die Forschung des 20. Jahrhunderts hat an diesem Bild zwar kontinuierlich weitergearbeitet und es an etlichen Stellen retouchiert; verworfen aber hat sie es nicht. Bis Mitte der 1980er Jahre schienen wesentliche Fragen geklärt. Wer sich schnell und verlässlich informieren wollte, der konnte zu einer konzisen Überblicksdarstellung greifen: «Was ist das Lehnswesen?» hieß das Büchlein aus der Feder des Belgiers François-Louis Ganshof, mit dem Generationen von Geschichtsstudenten weltweit ausgebildet wurden. Das französische Original war bereits 1944 erschienen. Bald lagen Übersetzungen in die wichtigsten europäischen Sprachen vor. Die deutsche Fassung erlebte 1983 ihre sechste (und vorerst letzte) Auflage. Seitdem ist eine interessante Kontroverse entbrannt. Was Mitte der 1980er Jahre noch als sicheres Handbuchwissen über das Lehnswesen gelten durfte, steht heute zur Disposition. Weltweit streiten Historiker über Grundsätzliches: Wann und wie sind Lehen entstanden? Welche Funktionen haben sie im Mittelalter erfüllt? Wie lässt sich ihre Bedeutung erklären? Und gab es im Mittelalter überhaupt ein Lehnswesen? Die Positionen klaffen weit auseinander: Die einen sehen im Lehnswesen eine Institution des 8. Jahrhunderts, entstanden in einer Zeit der Unsicherheit und Gewalt im Gebiet des heutigen Frankreichs und Belgiens, hervorgebracht von einer Kriegergesellschaft im Umbruch. Andere halten das Lehnswesen für ein System, das oberitalienische Juristen des ausgehenden 11. und früheren 12. Jahrhunderts ersonnen hätten – kein Ergebnis des Handelns fränkischer Krieger also, sondern eine Kopfgeburt juristischen Ordnungsstrebens. Noch radikalere Kritiker nehmen an, das Lehnswesen sei eine Schöpfung von Juristen erst des 16. Jahrhunderts, die die früheren Systematisierungsansätze ihrer Kollegen des 12. Jahrhunderts konsequent zu Ende geführt hätten – kein Phänomen des Mittelalters also, sondern ein juristisches Ordnungsraster der Neuzeit. In dem Gelehrtenstreit steht weit mehr zur Debatte als nur Quisquilien der Chronologie: Von der Datierung ins 8., 12. oder 16. Jahrhundert hängt ab, wie man den Charakter von Lehen, ihre Funktion, ihre Bedeutung und ihre historische Wirksamkeit einzuschätzen hat. Ausgefochten ist der Grundsatzstreit noch nicht. In diesem Buch muss ich daher anders argumentieren als Ganshof in seinem Klassiker. Ich komme nicht umhin, die Forschungsarbeit von Historikern, auch gegenläufige Meinungen und Thesen darzulegen. Deshalb erzähle ich zwei Geschichten parallel: Die eine handelt vom Mittelalter. Sie schildert, wie Menschen damals in verschiedenen Regionen Europas im Laufe der Jahrhunderte mit Hilfe bestimmter Besitztransaktionen ihr Zusammenleben in je eigener Weise organisierten – und wie daraus allmählich etwas hervorging, das in der Volkssprache in Deutschland seit dem Hochmittelalter als «lehn», in den Ländern der Romania meist als «feudum» bezeichnet wurde, ohne dass damit aber überall stets dasselbe gemeint gewesen wäre. Die andere Geschichte handelt von der Erforschung des Mittelalters. Sie schildert, wie Historiker seit dem 19. Jahrhundert über ein Modell diskutierten, mit dem sie den Zusammenhang zwischen einer sehr spezifischen Form von Besitztransaktion und einer sehr spezifischen sozialen Beziehung idealtypisch zu erfassen suchten. Das ist das wissenschaftliche Modell des Lehnswesens. Wir müssen also Lehen als historisches Phänomen einerseits und wissenschaftliche Modelle des Lehnswesens andererseits auseinanderhalten. Historiker neigen bisweilen dazu, ihre Modelle mit der historischen Wirklichkeit zu verwechseln. Das stiftet Verwirrung! Auch die aktuelle Diskussion über das Lehnswesen beruht zumindest teilweise auf einer solchen Verwechslung von Modell und Wirklichkeit. Ein Modell behauptet jedoch gerade nicht, menschliches Zusammenleben in seiner ganzen Komplexität zu beschreiben. Ein Modell vereinfacht. Trotzdem kann es nützlich und hilfreich sein. Denn eben dadurch, dass es vereinfacht, macht es bestimmte Phänomene überhaupt erst sichtbar; und auf diese Weise erlaubt es dann auch seinerseits wieder historische Erkenntnisse. Die zweite Geschichte, die dieses Buch erzählt, die Geschichte über die Erforschung des Mittelalters, hat eine tiefe Zäsur Mitte der 1990er Jahre: Seitdem ist es nicht mehr sicher, ob das Modell des Lehnswesens Historikern überhaupt von Nutzen sein kann. Das Modell, das bis dahin in historischen Handbüchern und Lexika präsent war, sieht nun im Kern etwa folgendermaßen aus (s. Schautafel, Umschlaginnenseite): Es besteht aus zwei Komponenten, nämlich einer personalen und einer dinglichen. Die personale Komponente heißt «Vasallität», die dingliche «Lehen». In unserem Modell ist die Vasallität ein Vertrag zwischen zwei Freien, das heißt zwischen zwei rechtsfähigen Personen, einem Herrn und einem Vasallen. Der Vertrag impliziert gegenseitige Verpflichtungen beider Parteien: Der Vasall ist seinem Herrn gegenüber zu Treue verpflichtet, und er schuldet ihm Dienste, in der Regel Rat und Hilfe. Das kann konkret...