Patzelt | Ungarn verstehen | E-Book | sack.de
E-Book

E-Book, Deutsch, 450 Seiten

Patzelt Ungarn verstehen

E-Book, Deutsch, 450 Seiten

ISBN: 978-3-7844-8465-5
Verlag: Langen-Müller
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark



Glaubt man den deutschen Leitmedien, ist das Urteil über Ungarn schnell gefällt. Aber handelt es sich bei dem von Viktor Orbán regierten Land wirklich um eine Halbdiktatur voller Korruption? Ein knappes Jahr lang begab sich der Politikwissenschaftler Werner J. Patzelt vor Ort auf Spurensuche. Welche geschichtlichen Ereignisse prägten das Land und seine Eliten? Wie funktioniert das politische System und wie sind die Positionen in der hitzigen Debatte um den heutigen Charakter Ungarns begründet? Patzelt schließt die Lücke zwischen bloßen Wahrnehmungen und wirklichem Wissen. Wer sich ein fundiertes Urteil über Ungarn bilden möchte, kommt an diesem Buch nicht vorbei.
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Kapitel 2:
Ungarns Geschichte I. Unterschiedliche Geschichtsbilder Deutschlands und Ungarns
Man versteht ein jedes Land nur von seiner Geschichte her. Für Ungarn gilt das ganz besonders. In dessen Geschichte verorten auch die meisten Ungarn ihr Land sehr bewusst, und zwar nicht nur Akademiker oder Literaten. Kaum eine Familie gibt es, von deren Mitgliedern niemand mehr Verwandte in Gegenden hat, die zwar heute zur Slowakei, zu Rumänien, zu Kroatien oder zu Serbien gehören, die aber einst Teile des großen ungarischen Königreichs waren. Auch kann man die vielen Denkmäler zu Persönlichkeiten oder Ereignissen aus Ungarns Geschichte in den Städten quer übers Land einfach nicht übersehen. Sich auf dem Mobiltelefon immer wieder zu belesen, wer und was da jeweils erinnert wird, gibt schnell ein Gefühl für die ausgedehnten Tiefenschichten unterhalb der ungarischen Gegenwart. Und rasch merkt man, wie verständnislos für vieles bleiben wird, wer sich Ungarns Geschichte nicht erschließt. Wer das aber tut, der erkennt auch rasch die ganz unterschiedlichen Prägungen Ungarns und Deutschlands von der jeweiligen Geschichte her. Angelpunkt des deutschen Selbstverständnisses sind weiterhin die nationalsozialistischen Jahre von 1933 bis 1945. Alles zuvor, selbst die Reichsgründung von 1871, gilt als deren Vorgeschichte oder ist aus anderen Gründen peinlich. Wertvolles oder nicht nazistisch Vergiftetes suchen Deutsche in ihrer Geschichte meist nur in der Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg, für Ostdeutschland gar erst nach der Wiedervereinigung. Viel breiter ist da der geschichtliche Blickwinkel von Ungarn. Mindestens 1100 Jahre umfasst er. Er beginnt mit der »Landnahme« ungarischer Stämme und betont für die Gegenwart den Untergang des Kommunismus, nach dem endlich wieder ein freies Ungarn möglich wäre. Diese lange Geschichte will in Ungarn nicht nur nicht vergehen, sondern soll es auch gar nicht. Sie ist nämlich, anders als in Deutschland, in ihrer Gänze Teil eigener Identität. Ganz anders sind auch die Ereignisse, derer gedacht wird. In Deutschland sind es zuverlässig jene schlimmen Geschehnisse, in denen Deutsche Verbrecher waren. Besonders wichtige Stationen im Ablauf bundesdeutscher Zivilliturgie sind deshalb der Jahrestag der Pogromnacht vom 9. November 1938 sowie der Holocaust-Gedenktag am 27. Januar. Doch sogar geschichtlich schöne Erinnerungen werden oft durch die ausdrücklich gewünschte Betonung ihrer Umstände oder konstruierbaren Zusammenhänge vergällt. Der Mauerfall etwa vollzog sich am gleichen 9. November wie 51 Jahre zuvor die Ausschreitungen der Nazis gegen jüdische Geschäfte und Mitbürger, oder wie 71 Jahre zuvor jene Revolution, der man fälschlich die Schuld an Deutschlands Niederlage im Ersten Weltkrieg zuschrieb. Und zum neuen Nationalfeiertag machte man den Tag der von vielen damals gar nicht gewünschten Wiedervereinigung, dessen Datum – der 3. Oktober – sich aus bloßen Terminzwängen ergab, nicht aber den 23. Mai als den Geburtstag des Grundgesetzes. Dabei diente dieses doch schon jahrzehntelang als heiliger Text bundesdeutscher Zivilreligion. Ungarns Nationalfeiertage erinnern zwar überwiegend auch nicht an Höhepunkte ungarischer Geschichte, doch immerhin an Auflehnungen und heroische Niederlagen. Am 15. März gedenkt man des Beginns der Revolution von 1848/49, an deren Ende ein Terrorsieg der – von russischen Truppen unterstützten – Österreicher stand. Ihm folgend richtete die habsburgische Reichs- und Armeeführung über hundert Aufständische hin, darunter dreizehn Generäle sowie Lajos Graf Batthyány (1807–1848), den gemäßigten Premierminister der ungarischen Revolutionsregierung. Am 23. Oktober wiederum erinnert man an den brutal niedergeschlagenen Volksaufstand gegen die kommunistische Herrschaft von 1956, dem freilich 33 Jahre später – durchaus nicht zufällig am gleichen Tag – die Ausrufung der heutigen ungarischen Republik folgte. Also wird zweier Niederlagen gedacht, die – von jetzt aus gesehen – aber am Ende doch noch in für Ungarn Gutes mündeten. Ganz anders als die Deutschen, denen ihre bis heute fortbestehenden Staatsgründungen vom Januar 1871 und vom Mai 1949 ebenso wenig besondere Feiern wert sind wie die weichenstellenden Revolutionen von 1848 und 1918, begehen die Ungarn auch noch einen für sie rundum schönen Nationalfeiertag. Das ist der 20. August, bei dem zu bester Sommerzeit an die Gründung Ungarns durch König Stephan d. Heiligen (969–1038) erinnert wird. Doch kaum ein erwachsener Ungar verkennt auch jene drei tiefen Einschnitte in der elfhundertjährigen Geschichte des Landes, die allesamt mit Niederlagen sowie mit der Empfindung verbunden sind, Ungarn werde – wie 1956 – immer wieder von westlich gelegenen Ländern alleingelassen. Das ist die mongolische Invasion von 1241, die das hochmittelalterliche Ungarn zerstörte. Das ist die türkische Besetzung von 1526, die einen Keil zwischen West- und Ost-Ungarn trieb und gut anderthalb Jahrhunderte währte. Und das ist, nach dem Ersten Weltkrieg, der 1920 aufgezwungene Friedensvertrag von Trianon. Durch ihn verlor Ungarn, gemeinsam mit Österreich besiegt wie Deutschland, mehr als zwei Drittel seines Gebiets und ein gutes Drittel seiner Bevölkerung an die Nachbarstaaten. Es wurde von einem großen Königreich zu einem kleinen Staat. Schon in jenen Unterschieden dessen, was als nationaler Gedenkanlass gilt, wird deutlich, wie anders sich Ungarn in ihrer Geschichte verorten, und wie unterschiedliche Konsequenzen Ungarn und Deutsche daraus für Gegenwart und Zukunft ziehen. Viele Deutsche nämlich begreifen sich, oft zugleich sünden- und reuestolz, als ein »Tätervolk«, das in historisch einzigartiger Weise andere angegriffen, vertrieben, ausgerottet hat, und das deshalb fortan Besserung zeigen muss – bis hin zum Nachweis jetzt erreichter moralischer Überlegenheit. Ungarn hingegen verstehen sich als ein »Opfervolk«, das – einmal sesshaft geworden – nirgendwo mehr erobernd oder kolonisierend eingefallen sei, sondern das selbst mehrfach erobert und wie ein Kolonialland behandelt wurde. Also wünschen sich die Deutschen Erlösung von ihrer als verbohrt empfundenen Geschichte, die Ungarn hingegen deren Fortsetzung in bleibender Freiheit mit neuem Schwung und Glanz. In Deutschland wirkt deshalb auf viele die Vision anziehend, von einem ethnisch beschreibbaren Volk werde man zu einer multiethnischen Bevölkerung, und der eigene Staat verwandle sich so zu einem Bundesland der Europäischen Union, wie Bayern nur noch ein Land der deutschen Bundesrepublik ist. Hingegen ist es für die meisten Ungarn eine gar nicht weiter begründungsbedürftige Selbstverständlichkeit, dass man als besondere Nation in einem sich selbst regierenden Staat fortbestehen will. Den aber soll die – in einer durchaus leidvollen Geschichte – gut tausend Jahre lang bewahrte und weiterentwickelte ungarische Kultur zusammenhalten. Gar nicht wenige Deutsche sind hingegen nachgerade glücklich bei der Feststellung, in ihrer multikulturellen Migrationsgesellschaft wäre jetzt schon eine »deutsche Kultur« abseits einer halbwegs gemeinsamen Sprache gar nicht mehr fassbar. Leicht ist gegen diesen geschichtlichen und erinnerungspolitischen Hintergrund zu erkennen, warum das heutige Ungarn auf viele Deutsche so sonderbar wirkt. Und nicht minder leicht ist zu verstehen, weshalb – von der Migrationspolitik über die Familienpolitik bis hin zur Kulturpolitik – in Deutschland gerade das auf schroffe Ablehnung trifft, was in Ungarn sehr vielen als höchst plausibel erscheint. Wer als Deutscher das heutige Ungarn begreifen will, muss deshalb den Gedanken zumindest zulassen, dass es auch noch andere Selbstverständlichkeiten als die eigenen geben könnte. Und er wird gut daran tun, sich in ungarische Befindlichkeiten von der ungarischen Geschichte her einzufühlen. II. Von den Anfängen bis zur Osmanenzeit
Die Ungarn scheinen aus dem Gebiet südlich des Ural zu stammen. Hunnen waren sie nicht, sehr wohl aber eines jener vielen Reitervölker, die – wie die Chasaren oder Petschenegen – in der Spätantike die westlichen Teile des eurasischen Steppengürtels nördlich von Kaukasus und Schwarzem Meer durchstreiften und dabei mit dem oströmisch-byzantinischen Reich als dortiger Großmacht in Konflikt gerieten. Die sich selbst als »Magyaren« – d. h. Menschen, Männer, Geschlechter – bezeichnenden Ungarn verdanken ihren in westlichen Sprachen gebräuchlichen Namen anscheinend einer Verwechslung mit anderen jener nomadisierenden Völker, die teils auf der Flucht vor anderen waren, teils selbst andere Völker zur Flucht trieben. Das waren vor allem die in der lateinischen Spätantike lose bekannten Onoguren, ein nördlich des Schwarzen Meeres lebendes Turkvolk. Dieses auch noch mit den Hunnen zusammenbringend und seinen Namen sprachlich verschleifend, wurden aus ihm im Lateinischen die »hungari« und im späteren Deutschen die »Ungarn«. Wieder einmal durch rivalisierende oder nachrückende Stämme von ihren bisherigen Wohnsitzen vertrieben, gelangten sie im 9. Jahrhundert von »Etelköz«, dem Land zwischen dem Nordwesten des Schwarzen Meeres und dem Ostrand der Karpaten, in die Pannonische Tiefebene. Auch diese ist Teil des Eurasischen Steppengürtels, wird von diesem aber durch das Mittelgebirge der Karpaten abgetrennt, das sich sichelförmig von der heutigen Slowakei ins jetzige Rumänien erstreckt. Vom Nordwesten bzw. Norden her durchfließen Donau und Theiß diese Tiefebene, ihren südlichen Teil von West nach Ost die Drau und die Save, und nach Süden hin begrenzt sie das Balkangebirge. In diesem »Karpatenbecken«, südlich und westlich der Donau einst die römische Provinz Pannonien, lebte seit dem 6. Jahrhundert der heterogene Stammesverband der Awaren,...


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