E-Book, Deutsch, 384 Seiten
ISBN: 978-3-8270-7510-9
Verlag: Berlin Verlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Ann Patchett, 1963 in Los Angeles geboren, lebt als Schriftstellerin und Kritikerin in Nashville, Tennessee. Ihr Roman »Bel Canto«, übersetzt in dreißig Sprachen, wurde mit dem PEN/Faulkner Award und dem Orange Prize ausgezeichnet und war auch in Deutschland ein großer Erfolg. »Familienangelegenheiten« stieg in den USA auf Platz 8 der New-York-Times-Bestsellerliste ein.
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Zwei Das Wichtigse zuerst. Marina machte einen Termin bei einem Epidemiologen in St. Paul, um sich gegen Gelbfieber und Tetanus impfen zu lassen. Sie bekam ein Rezept für ein Medikament zur Malariaprophylaxe, Lariam, und sollte gleich die erste Pille nehmen, dann pro Woche eine weitere und das bis vier Wochen nach ihrer Rückkehr. »Seien Sie vorsichtig damit«, sagte der Arzt. »Das Zeugs kann Ihnen das Gefühl geben, vom Dach springen zu wollen.« Marina machte sich keine Gedanken darüber, vom Dach springen zu wollen. Ihre Sorge galt ihrem Flugticket, ihrem Gepäck, einem englisch-portugiesischen Wörterbuch und der Überlegung, wie viel Pepto-Bismol sie mitnehmen sollte. Von Zeit zu Zeit wanderten ihre Gedanken zum oberen Quadranten ihres linken Armes, der sich seit den beiden Impfungen anfühlte, als wären die Nadeln von den Spritzen abgebrochen und steckten wie zwei heiße Speere in ihrem Oberarmknochen. Sie erlaubte diesen eher praktischen Erwägungen, sich vorübergehend vor ihre Gedanken an Anders, Karen und Dr. Swenson zu schieben, mit denen sie im Moment nicht umzugehen wusste. Und in der dritten Nacht nach ihrer ersten Lariam-Tablette waren ihre Gedanken plötzlich in Indien bei ihrem Vater. Die Vorbereitungen ihrer Reise an den Amazonas hatten zufällig ein Geheimnis gelöst, das so fern für sie war: Was war in ihrer Kindheit falsch gelaufen? Die unerwartete Antwort lautete: Das Problem waren diese Tabletten. Das begriff sie, als sie nachts hochfuhr, aus dem Bett sprang, zitternd und in Schweiß gebadet, und ihr der Traum noch so nahe war, dass sie aus Angst, in ihn zurückzustürzen, die Augen weit aufgerissen hielt. Aber so ließ er sich nicht abschütteln. Er war ihr so bekannt. Es war der Traum, der ihre gesamte Jugend überschattet hatte, allgegenwärtig und dann für Jahre verschwunden, bis sie ihn schließlich vergessen hatte. Und jetzt, dort im Dunkeln neben ihrem klammen Bett, Kissen, Laken und Nachthemd schweißnass, begriff sie plötzlich, dass sie als Kind Lariam genommen hatte. Natürlich, das war es, eine Woche vor Abflug hatte sie mit der verschriebenen Dosierung angefangen und dann bis vier Wochen nach ihrer Rückkehr wöchentlich ihre Tablette genommen. Die Tabletten bedeuteten, dass es Zeit war, ihren Vater zu besuchen, genau wie das Suchen der Pässe tief hinten in der Schreibtischschublade und das Heraufholen der Koffer aus dem Keller. »Indien-Tabletten« hatte ihre Mutter sie genannt. Komm und nimm deine Indien-Tablette. Marina hatte nur äußerst flüchtige Erinnerungen daran, mit beiden Eltern in der Wohnung in Minneapolis gewohnt zu haben, vermochte sie sich aber ohne große Anstrengungen vor Augen zu rufen. Sieh, da steht Vater vor der Tür und schüttelt sich den Schnee aus dem schwarz glänzenden Haar. Da sitzt er am Küchentisch und schreibt etwas auf einen Block, und die Zigarette auf der Untertasse neben ihm verglüht langsam zu Asche. Seine Bücher und Papiere waren so penibel angeordnet, dass wir uns zum Abendessen im Wohnzimmer auf den Boden setzen und vom Couchtisch essen mussten. Und da steht er neben ihrem Bett, zieht ihr die Decke bis ans Kinn und schiebt sie links und rechts unter die Matratze. »Richtig so?«, fragt er sie. Sie nickt mit dem Kopf gegen das Kissen, sonst kann sie nichts bewegen, und sieht in sein schönes Gesicht, das nur Zentimeter von ihrem entfernt ist, bis sie die Augen nicht mehr offen halten kann. Marina vergaß ihren Vater nicht, als er nicht mehr da war, und sie gewöhnte sich auch nicht daran. Sie sehnte sich nach ihm. Ihre Mutter sagte oft, dass Marina die gleiche Intelligenz wie ihr Vater besitze, und das erkläre seinen Stolz darauf, dass sie gerade in den Fächern so gut sei, die sie am meisten interessierten. Zunächst waren das Geografie und Mathematik gewesen, später dann, als sie älter wurde, Infinitesimalrechnung und Differenzialrechnung, Statistik und anorganische Chemie. Ihre Haut war cremefarben im Vergleich mit seiner, aber sehr dunkel, wenn sie ihren Arm neben den ihrer Mutter hielt. Sie hatte die runden schwarzen Augen und die schweren Wimpern ihres Vaters, sein schwarzes Haar und seine knochige Figur. Ihn anzusehen gab ihr das Gefühl körperlicher Geborgenheit, die sie umgeben von all den blassen Verwandten ihrer Mutter nicht verspürte. Wie ein Lama wurde sie von denen betrachtet, das sich in ihren Garten verirrt hatte. Die Kassiererinnen im Supermarkt, die Kinder in der Schule, Ärzte und Busfahrer, alle fragten sie, woher sie kam, und es hatte keinen Sinn zu sagen: Von hier, aus Minneapolis, auch wenn es so war. Stattdessen sagte sie: Aus Indien, und selbst das verstanden die Leute nicht immer (Bist du eine Lakota?, fragte der Mann an der Tankstelle, und Marina hatte Mühe, nicht die Augen zu verdrehen, denn ihre Mutter hatte ihr erklärt, die Augen zu verdrehen sei mit das Unhöflichste überhaupt und auf keinen Fall die richtige Reaktion, selbst auf sehr, sehr dumme Fragen). Das Kind einer weißen Mutter und eines ausländischen Doktoranden zu sein, der seinen Doktortitel, nicht aber seine Familie mit zurück in sein Heimatland nahm, war mittlerweile Teil präsidentieller Geschichte, in Marinas Kindheit und Jugend hatte es jedoch noch kein Beispiel gegeben, das ihre Situation so einfach erklärt hätte. Mit der Zeit sagte sie sich, dass sie im Grunde wirklich aus Indien kam, schließlich war ihr Vater Inder und lebte dort und sie besuchte ihn alle zwei, drei Jahre, wenn sie wieder genug Geld dafür gespart hatten. Ihre Reisen hatten etwas Dramatisches, es waren große Ereignisse, die ausführlich diskutiert und geplant wurden, und während Marina die Monate, Wochen und Tage in ihrem Kalender zählte, sehnte sie sich nicht nur nach ihrem Vater, sondern nach dem ganzen Land, wo sich niemand nach ihr umdrehte und sie anstarrte, es sei denn, um ihre gute Haltung zu bewundern. Doch dann, etwas weniger als eine Woche vor ihrem Aufbruch, begannen die Träume. In den Träumen hält sie die Hand ihres Vaters. Sie gehen die Indira Gandhi Sarani zum Dalhousie Square oder folgen der Bidhan Sarani in Richtung des College, an dem ihr Vater Professor ist. Je weiter sie gehen, desto mehr Leute kommen aus Häusern, Gassen und Durchgängen. Vielleicht ist der Strom wieder ausgefallen, die Straßenbahnen fahren nicht mehr, und die Ventilatoren in den Küchen sind stehen geblieben, so dass die Menschen aus ihren Wohnungen kommen. Es wird enger und enger, und von den Seiten drängen immer noch mehr Leute heran. Zur Hitze des Tages kommt jetzt die Hitze der zahllosen Körper, ihr Schweiß, der scharfe Gewürzduft, der von den Verkaufsständen herüberweht, und der bittere Geruch der Ringelblumengirlanden überall. All das beginnt ihr zu viel zu werden. Marina kann nicht mehr sehen, wohin sie geht, da sind nur noch die Leute, die sich gegen sie drängen, in lila Saris und Dhoti-Punjabis gekleidete Körper, die sie hin und her stoßen. Sie streckt die Hand aus und tätschelt eine Kuh. Sie hört, wie sich die Musik des Schmucks durch die Rufe und Unterhaltungen webt, Armreife und Ketten bis hoch zu den Ellbogen, Fußkettchen mit winzigen Glocken, Ohrringe, die wie Windspiele klingen. Manchmal drängt die Masse so dicht heran, dass sie von den Füßen gehoben und für Augenblicke in der Luft gehalten wird. Wie ein tieffliegender Drachen wird sie von ihrem Vater durch die Körper der Menschen gezogen. Sie spürt, wie ihr ein Schuh heruntergetreten wird, und ruft ihrem Vater zu, er soll stehen bleiben, aber der hört sie in dem lauten Stimmengewirr nicht. Sie sieht den kleinen Schuh zwei Schritte hinter sich in der Menge gelb aufblitzen. Er liegt unberührt auf der festgetretenen Erde, und obwohl sie weiß, sie sollte es nicht, lässt sie die Hand ihres Vaters los. Sie taucht nach dem Schuh, doch die Menge hat ihn längst verschluckt, und so schnell sie sich auch wieder umdreht, ist auch ihr Vater darin verschwunden, und sie ruft ihn: Papi! Papi!, aber das Klingeln der Glocken, das Rufen und Schreien der Bettler nimmt ihrer Stimme alle Kraft. Sie weiß nicht, ob er überhaupt gemerkt hat, dass sie nicht mehr da ist. Vielleicht hat ein anderes Kind seine Hand genommen. Die Kinder in Indien sind sehr schnell. Und dann ist Marina allein im Meer von Kalkutta, vom Menschenstrom getragen und von Hindi umgeben, das sie nicht versteht, wie davongespült, weinend. In dem Moment wacht sie schwitzend auf, ihr ist übel und das schwarze Haar klebt ihr am Kopf. Sie läuft den Flur hinunter ins Schlafzimmer ihrer Mutter und bettelt in Tränen aufgelöst: »Bitte, schick mich nicht weg!« Ihre Mutter nahm sie in den Arm und legte ihr eine kühle Hand auf die Stirn. Sie fragte sie, was sie geträumt hätte, aber Marina sagte nur, sie könne sich nicht erinnern, etwas Schreckliches. Sie konnte sich erinnern, wollte es jedoch nicht aussprechen, weil sie Angst hatte, die Worte könnten die Bilder Wirklichkeit werden lassen. Danach kam der Traum jede Nacht. Sie träumte ihn im Flugzeug nach Kalkutta. Sie träumte ihn in der Wohnung, die ihr Vater für sie und ihre Mutter nicht weit vom College gemietet hatte, damit sie seine zweite Frau und seine zweiten Kinder nicht störten. Sie wurden beim Einsteigen in einen Bus getrennt, sie verlor ihren Vater beim Schwimmen im Meer, an einem übervollen Strand und wachte jedes Mal schreiend auf. Nach so vielen Träumen, die sich so glichen, bekam sie Angst einzuschlafen. Die ganze Zeit über in Indien war sie voller Angst, so dass ihre Eltern am Ende immer sagten, es sei wohl zu viel für sie. Marinas Vater sagte, er wolle versuchen, öfter nach Minnesota zu kommen, aber das war nicht machbar. Wenn sie wieder zu Hause waren, wurden die...