E-Book, Deutsch, 336 Seiten
Reihe: Ein Martin-Bora-Roman
Pastor Der Tod der Äbtissin
1. Auflage 2025
ISBN: 978-3-293-31140-4
Verlag: Unionsverlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Kriminalroman. Ein Martin-Bora-Roman (1)
E-Book, Deutsch, 336 Seiten
Reihe: Ein Martin-Bora-Roman
ISBN: 978-3-293-31140-4
Verlag: Unionsverlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Sie sieht aus wie eine riesige Schwalbe, die vom Himmel gefallen ist: Das Gesicht nach unten, die Arme seitwärts ausgestreckt, liegt die Äbtissin im Klostergarten. Erschossen. Ein Mordfall, der im zweiten Kriegsmonat im Jahr 1939 ganz Krakau entsetzt, verehrte doch das Volk die Frau wegen ihrer prophetischen Fähigkeiten wie eine Heilige.
Der junge Wehrmachtsoffizier Martin Bora ist überrascht und völlig unvorbereitet, als er beauftragt wird, den Mordfall aufzuklären. Und das im Sinne der deutschen Besatzer – die Äbtissin darf nicht zur Märtyrerin für den Widerstand werden. In einem explosiven Polen, wo aufsässige Bauern und deren Vieh niedergemetzelt werden, gerät Bora bald selbst in das Labyrinth teuflischer Machenschaften.
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1
Krakau, Polen. Freitag, 13. Oktober 1939 Die polnischen Wörter, die mit einer Schablone auf das Schild gemalt waren, besagten: »Pass gut auf«, und was in hebräischer Schrift darunterstand, bedeutete vermutlich das Gleiche. Bunte Bilder, die die Buchstaben des Alphabets illustrierten, hingen um das Schild herum an der Wand. Für den Buchstaben L zeigte das entsprechende Bild ein kleines Mädchen, das einen Puppenwagen schob. Plötzlich ein stechender, strenger Geruch nach zerfetztem Fleisch, der Bora so unerwartet in die Nase stieg, dass er sich von der Wand abwandte und auf die Mitte des Raumes zuging, wo ein Sanitäter mit Handschuhen und Mundschutz stand. Hinter diesem Mann strömten durch drei weit geöffnete Fenster das Licht der Nachmittagssonne und eine lauwarme nachmittägliche Brise in das Klassenzimmer. Auf sechs Pulten, die an den Schmalseiten zusammengeschoben waren, lagen auf Wachstüchern die Toten in ihren Uniformen. An den Pulträndern war durch die Ritzen zwischen den Unterlagen Blut auf den Boden getropft. In den größeren Lachen gerann das Blut schon, und das Licht der Fenster spiegelte sich darin. Bora starrte darauf, bevor er näher herantrat und dem Sanitäter zunickte. Er betrachtete jeden der Körper und nannte jedes Mal leise, mit ruhiger, beherrschter und angestrengt gedämpfter Stimme einen Namen. Der Sanitäter hielt einen Block in der Hand und notierte sich die Namen. Als Bora von der dritten Leiche aufblickte, sah er an der Wand den Farbdruck mit dem kleinen Mädchen, das einen Puppenwagen schiebt. Darunter stand: Lale. Dorotka ma lale. »Wir dachten, Sie könnten sie am ehesten identifizieren, Herr Hauptmann, denn Sie haben doch im Wagen hinter ihnen gesessen.« Bora wandte sich dem Sanitäter zu, ohne etwas zu sagen. Einen Augenblick lang ließ er seinen Blick an der schmutzigen Schürze des Sanitäters auf und ab wandern, als überlege er, was sie beide hier eigentlich verloren hatten. Und tatsächlich: Was hatten sie – tot oder lebendig – in einer jüdischen Tagesschule in der Jakuba-Straße in Krakau verloren? Er spürte, wie ihm der Schweiß unter den Armen und am Rückgrat entlang hinunterrann. Bora sagte: »Ja, das stimmt.« Major Retz wartete unten im Wehrmachtsauto. Er rauchte eine Zigarre, und weil er alle Fenster hochgekurbelt hatte, war die Luft im Auto völlig verqualmt. Als Bora die Tür öffnete, um einzusteigen, schwebte ihm eine bläuliche Wolke entgegen, die beißend nach Tabak roch. Er setzte sich auf den Fahrersitz. Retz sagte: »Also, das waren natürlich die Leutnants Klaus und Wilhelm und der arme Hans Smitt. Hätten sie ihre Erkennungsmarken getragen, hätten Sie nicht dort hingehen und sie anschauen müssen. Waren sie übel zugerichtet?« Bora ließ den Motor an und wich Retz’ Blick im Rückspiegel aus. »Von der Taille abwärts hat es sie in Stücke gerissen.« Er ließ sein Fenster herunter, und als der Wagen anfuhr, begann der Rauch abzuziehen. Sie fuhren die menschenleere Straße hinunter auf einen Platz; Bora folgte den Wegweisern, die man während der letzten paar Tage in aller Eile über die polnischen Namen von Straßen und Brücken angebracht hatte. Retz ließ ein paar belanglose Bemerkungen fallen, und Bora antwortete einsilbig. Das üppige klare Nachmittagslicht warf von den Bäumen und den hohen Häuserblocks, die die Straße säumten, lange Schatten. Der Himmel über ihnen war von den nach Osten fliegenden Flugzeugen mit dünnen Kondensstreifen überzogen, die an die feinen Linien eines leeren Notenblatts erinnerten. »Das ist doch keine Art zu sterben, oder? So, von einer Mine in die Luft gejagt.« Bora schwieg. Retz kurbelte geräuschvoll das Fenster herunter, warf den Zigarrenstummel hinaus und wechselte das Thema. »Wie gefällt es Ihnen beim Nachrichtendienst?« Dieses Mal sah Bora auf und blickte in den Rückspiegel. Aber Retz schaute nicht in seine Richtung. Er hatte sein arrogantes, grobes Gesicht abgewandt, und Bora hörte das Rascheln eines großen Blatts Papier, das aufgefaltet wurde. »Ich glaube, es gefällt mir.« Ihre Blicke trafen sich. »Ja. Man hat mir gesagt, Sie seien ein Wissenschaftler-Typ.« Bora glaubte, Retz habe irgendetwas wie »wissbegierig« äußern wollen, aber er hatte klar und deutlich »Wissenschaftler« gesagt. Diese Einschätzung seiner Person verunsicherte ihn seltsamerweise. Nach erneutem Papierrascheln wurde eine nachlässig zusammengefaltete Straßenkarte aus dem Fond auf den Vordersitz geworfen. »Unser Quartier soll sich in der Nähe des Wawel-Hügels, also in der Altstadt, befinden. Ich hatte gehofft, wir wären näher beim Hauptquartier untergebracht, Bora, aber das haben wir davon, dass wir länger auf dem Schlachtfeld bleiben als das Gros. Hoffentlich verfügt die Wohnung über sanitäre Einrichtungen und solche Sachen. Fahren Sie zum Büro, ich möchte wissen, wo genau die uns unterbringen werden.« 14. Oktober Das deutsche Hauptquartier an der Rakowicka-Straße blickte auf einen sorgfältig angelegten Garten. Hinter dem Tor, jenseits der Straße mit den Trambahnschienen, erhob sich die graue Dominikanerkirche. Tauben flogen flügelschlagend auf ihr Dach, allein und paarweise. Bora hörte, was Oberst Hofer ihm erklärte. Die ganze Zeit dachte er, dass sein Kommandant im Gegensatz zu Richard Retz ein introvertierter und griesgrämiger Mann war. Da Hofers Hände schwitzten, hatte er feuchtigkeitsabsorbierendes Talkumpuder in seinen Handschuhen, und deshalb waren seine Handflächen bestäubt wie Fische, die man vor dem Braten in Mehl gewälzt hat. Der Oberst war von unbestimmbarem Alter (Bora war jung genug, um das Alter jeder Person falsch einzuschätzen, die älter war als er selbst, aber noch keine weißen Haare hatte) und hatte eine kleine, fast feminine Nase mit breiten Nasenflügeln, einen weichen Mund und eng stehende Zähne. Er setzte nur dann eine Brille auf, wenn er etwas lesen musste, aber sein Silberblick vermittelte den Eindruck, dass er sie eigentlich auch für einfachere Aufgaben gebraucht hätte, zum Beispiel dann, wenn er seine Gesprächspartner ansehen musste. Nachdem Hofer Bora am Vormittag ausführlich über all seine Aufgaben informiert hatte, nahm er ihn beim Fenster zur Seite und sagte eine Zeit lang überhaupt nichts. Er blickte starr über die Blumenbeete hinweg auf die Straße und vergaß Boras Nähe. Schließlich richtete er seine von Ringen untermalten wässrigen Augen auf den jüngeren Mann. Seine Augen wirken müde, dachte Bora, wie bei jemandem, der nicht schläft oder schlecht schläft – etwas, was während der letzten stürmischen Wochen auf sie alle zutraf. Nur dass man das den jungen Offizieren nicht ansah oder sie sich wahrscheinlich nicht einmal wirklich müde fühlten. Leicht neidisch kam Hofer zu einem ähnlichen Schluss. Bora stand mit frischer, untadeliger Haltung neben ihm, geschult, seinen Diensteifer nicht herauszukehren, aber doch, wie seine bisherigen Leistungen bewiesen, von großer Einsatzfreude erfüllt. Hofer konnte über diese Begeisterung, diese Lernbegierde nur den Kopf schütteln, doch man lebte in Zeiten, in denen man zu solchen Übertreibungen ermuntern und nicht davon abraten musste. Er sagte: »Hauptmann Bora, was wissen Sie über das Phänomen der Stigmata?« Bora ließ sich nicht anmerken, dass ihn diese Frage überraschte. »Nicht sehr viel.« Er versuchte, nicht zurückzustarren. »Es sind Wundmale wie die, die Christus am Kreuz erlitt. Der heilige Franz von Assisi hatte sie und ein paar andere Mystiker.« Hofer wandte seinen Blick wieder der Straße zu. »Richtig! Und wissen Sie, wie Franziskus und die anderen sie bekamen?« Er ließ Bora nicht die Zeit zu antworten. »Es passierte in der Ekstase. Es war Ekstase.« Er nickte vor sich hin und kratzte mit dem Fingernagel einen kleinen getrockneten Farbspritzer von der Fensterscheibe. »Es war Ekstase.« Hofer wandte sich vom Fenster ab und ging in sein Büro. Bora blieb zurück, um auf die Dächer der Altstadtkirchen zu blicken, die sich wie Vorderdecke ferner Schiffe links hinter den fantasielosen neuen Häuserblocks erhoben. Unmittelbar vor ihm flogen immer noch Tauben zur Dominikanerkirche und zurück und suchten nach der sonnenbeschienenen Seite des Dachs. Bora dachte zurück an Spanien, an die Zeit nur sechs Monate zuvor, an das wilde, blendende spanische Licht. Warum hatte Hofer die Stigmata überhaupt erwähnt? Wie war er bloß darauf gekommen? Erst nach der Abendessenszeit, als der Oberst wieder vor seinen Schreibtisch trat, fiel ihm die Frage wieder ein. Bora hatte sich inzwischen mit der Topografie von Südostpolen vertraut gemacht und stand jetzt auf, einen roten Stift in der Hand. Hofer nahm ihm den Stift ab und legte ihn auf den Schreibtisch. »Genug Karten gelesen für heute, Bora. Morgen gehen Sie auf Patrouille. Ihr Dolmetscher ist Johannes Herwig, ein von hier stammender Deutscher, und er wird Ihnen alles Weitere im Gelände sagen. Ein guter Mann, der Hannes – wir kennen uns schon seit ein paar Jahren. Kommen Sie jetzt! Ich möchte, dass Sie mit mir ins Zentrum fahren.« »Ich hole Ihren Wagen, Herr Oberst.« »Nein, nehmen wir Ihren. Ich möchte, dass Sie fahren.« Das Wartezimmer...