E-Book, Deutsch, 240 Seiten
ISBN: 978-3-8031-4332-7
Verlag: Verlag Klaus Wagenbach
Format: EPUB
Kopierschutz: 0 - No protection
Dies ist der Roman von Ricetto und seinen Freunden, die, von Eltern, Gott und der Welt verlassen, durch die Eingeweide des römischen Großstadtuniversums streunen.
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DER FERROBEDÒ
Und unterm Denkmal von Mazzini Volkstümliches Lied Es war ein sehr heißer Tag im Juli. Riccetto der Lockenkopf sollte mit zur Ersten Heiligen Kommunion und zur Firmung gehen und war schon um fünf aufgestanden, doch als er in seiner langen grauen Hose und dem weißen Hemd die Via Donna Olimpia runterging, sah er nicht gerade wie ein Erstkommunikant oder ein Soldat Jesu aus, sondern eher wie eins von den Jüngelchen, die aufgedonnert am Lungotevere rumschlendern und aufs Abschleppen aus sind. Mit anderen gleichaltrigen Jungs, alle in Weiß, ging er runter zur Kirche der Divina Provvidenza, wo Don Pizzuto ihm um neun die Kommunion verabreichte und der Bischof ihn um elf firmte. Riccetto aber hatte es eilig und wollte abhauen: von Monteverde bis runter zum Bahnhof von Trastevere war nichts anderes zu hören als ständiger, monotoner Autolärm. An den Steigungen und in den Kurven hörte man Hupen und das Aufheulen von Motoren, was den schon am frühen Morgen von der Sonne ausgebrannten Vorort mit ohrenbetäubendem Dröhnen erfüllte. Kaum hatte der Bischof seine kurze Predigt beendet, führten Don Pizzuto und zwei, drei junge Diakone die Knaben für die Erinnerungsfotos in den Innenhof des Jugendheims: der Bischof schritt zwischen ihnen her und segnete ihre Angehörigen, die niederknieten, als er vorbeiging. Riccetto spürte, wie er, mitten unter all den anderen, auf heißen Kohlen saß, und beschloß, sie einfach im Stich zu lassen. Er ging durch die leere Kirche, stieß aber an der Türe auf seinen Firmpaten, der ihn anredete: »He du, wo gehst’n hin?« – »Nach Haus«, sagte Riccetto, »hab Hunger.« – »Dann komm doch mit zu mir, oder? Alter Hurenbolzen«, rief der Firmpate ihm nach, »das Mittagessen is fertig.« Doch Riccetto scherte sich nicht um ihn und rannte über den Asphalt davon, der unter der Sonne brodelte. Ganz Rom war ein einziges Gedröhne, nur oberhalb, da herrschte Stille, aber die war geladen wie eine Mine. Riccetto ging sich umziehen. Der Weg von Monteverde Vecchio bis zur Kaserne der Grenadiere war kurz, man mußte nur über die Wiese gehen und dann die Abkürzung zwischen den Häusern nehmen, an denen in der Umgebung vom Viale dei Quattro Venti gebaut wurde: Lawinen von Unrat und Abfällen, Häuser, die, noch nicht einmal fertig, schon wie Ruinen aussahen, riesige Schlammlöcher, Müllhalden. Die Via Abate Ugone war zwei Schritt weit entfernt. Die aus den ruhigen, kleinen, asphaltierten Straßen von Monteverde Vecchio kommende Menschenmenge strömte auf die Hochhäuser zu: schon konnte man die Lastwagen sehen, endlose Schlangen, Kleinlaster darunter, Motorräder und gepanzerte Fahrzeuge. Riccetto mischte sich unter die Menge und stürzte mit ihr auf die Lagerschuppen zu. Der Ferrobedò war wie ein riesiger Hof, eingezäuntes Weideland in einer Senke, und hatte die Größe eines Platzes oder eines Viehmarkts. In der Abzäunung öffneten sich Tore: auf der einen Seite standen kleine, ganz gleich aussehende Holzbarakken, auf der anderen die Lagerschuppen. Riccetto durchquerte, von der Menschenmenge umtost, den ganzen Ferrobedò und kam zu einer dieser Baracken. Aber da standen vier Deutsche, die keinen durchließen. Neben der Türe lag ein kleiner umgestürzter Tisch: Riccetto hievte ihn sich auf die Schultern und lief wieder zum Ausgang. Kaum war er draußen, stieß er auf einen älteren Jungen, der ihn fragte: »Was machste’n da?« – »Ich bring ihn nach Haus bring ich ihn«, antwortete Riccetto. – »Komm doch mit mir, du Blödmann, schnappenwer uns bessern Kram.« »Bin gleich da«, sagte Riccetto und warf den Tisch weg, den sich ein anderer im Vorübergehen schnappte. Mit dem Älteren ging er wieder zurück in den Ferrobedò und drängte sich in die Lagerschuppen: dort rafften sie Unmengen Schnur zusammen. Dann sagte der Ältere: »Komm jetz und schaff die Nägel weg.« – So machte Riccetto, mal mit Schnur, mal mit Nägeln, mal mit anderem Kram, insgesamt fünf Touren in die Via Donna Olimpia. Obwohl die Sonne gleich nach der Mittagszeit die Steine fast platzen ließ, war der Ferrobedò noch immer brechend voll von Menschen, die um die Wette mit den Lastwagen, die runter nach Trastevere, zur Porta Portese, zum Schlachthof und nach San Paolo fuhren, die glühendheiße Luft zum Dröhnen brachten. Als die beiden zum fünften Mal zurückkamen, sahen sie am Zaun zwischen zwei Baracken ein Pferd samt Karren. Sie schlichen sich heran, um zu sehen, ob sich was machen ließ. Riccetto nämlich hatte inzwischen in einer der Baracken ein Waffenlager entdeckt, sich ein Maschinengewehr übergehängt und zwei Pistolen in den Gürtel gesteckt. So bis an die Zähne bewaffnet, schwang er sich auf den Rücken des Pferdes. Aber dann kam ein Deutscher und jagte sie davon. Während Riccetto mit Säcken voller Schnur zwischen der Via Donna Olimpia und den Lagerschuppen hin und her trabte, hing Marcello mit den anderen Jungs im Pfarrheim des ›Buon Pastore‹ rum. Im Wasserbecken planschte, grölend und kreischend, eine Unmenge von Kindern. Andere spielten Ball auf den verdreckten Wiesen ringsum. »Wo is’n Riccetto?« fragte Agnolo. »Der is mit zur Kommunion gegang’ isser«, rief Marcello. »Seelenwichser!« sagte Agnolo. »Jetzt isser sicher bei seim Firmpaten zum Mittagessen«, sagte Marcello. Oben am Planschbecken beim ›Buon Pastore‹ hatte man noch keine Ahnung. Die Sonne knallte auf die Vororte von Madonna del Riposo, Casaletto und, weit hinten, Primavalle. Als sie vom Schwimmen zurückkamen, gingen sie über die Wiese, wo ein Lager mit Deutschen war. Sie schlichen näher, um es zu beobachten, aber ein Motorrad mit Beiwagen kam heran, und der Deutsche im Beiwagen brüllte zu den Jungs rüber: »Raus da, Seuchengebiet!« – Gleich daneben lag das Militär-Krankenhaus. »Sollnwer uns deshalb etwa ein’ runterwichsen?« rief Marcello. Inzwischen hatte das Motorrad seine Geschwindigkeit verringert, der Deutsche sprang aus dem Beiwagen und scheuerte ihm so ein Ding, daß Marcello auf die andere Seite flog. Mit dick angeschwollenen Lippen schoß er herum wie eine Schlange, und während er, immer noch maulend, mit seinen Freunden die Böschung runtersprang, machte er mit dem Mund einen Furz hinter dem Deutschen her: dann ergriffen sie schreiend und lachend rasch die Flucht, bis sie direkt bei der großen Kaserne ankamen. Dort trafen sie noch ein paar andere Freunde. – »Was macht’n ihr hier?« fragten die, völlig verdreckt und heruntergekommen. »Wieso?« gab Agnolo zurück, »was solln wir’n tun?« – »Geht mal zum Ferrobedò, wenner was sehn wollt.« – Die Jungs flitzten gleich hin und steuerten, kaum angekommen, durch das Gedränge direkt auf die Autowerkstatt los. »Baunwer doch den Motor aus«, rief Agnolo. Aber Marcello ging aus der Werkstatt raus und stand mitten in dem Tumult allein, direkt vor dem Teerloch. Er war drauf und dran, hineinzufallen und unterzugehen wie’n Indianer im Treibsand, als er von einem Schrei zurückgehalten wurde: »Eh, Marcè, paß auf, eh Marcè!« Das war dieser Hurenarsch von Riccetto, mit’n paar Freunden. Und so zog er mit ihnen los. Sie drangen in einen Lagerschuppen und sackten ein, was sie an Staucherfettbüchsen, an Keilriemen und Eisenzeug fanden. Marcello schleppte einen Zentner von dem Kram nach Hause und warf es in einen kleinen Hof, wo es seine Mutter nicht sofort entdecken konnte. Seit früh morgens war er nicht mehr zu Hause gewesen: seine Mutter empfing ihn mit Prügeln. »Wo warst du, du gemeiner Lump?« schrie sie, während sie auf ihn eindrosch. – »Ich bin baden gegang’ bin ich«, sagte Marcello, während er versuchte, die Schläge abzuwehren. Er war leicht gekrümmt und dürr wie eine Heuschrecke. Dann aber kam der ältere Bruder nach Haus und sah im kleinen Hof den abgestellten Krempel. »Du Blödarsch«, schrie er Marcello an, »klaut einfach das Zeug da, dieser Wichser.« – Also ging Marcello mit seinem Bruder wieder runter zum Ferrobedò, aber diesmal schleppten sie von einem Waggon Autoplanen weg. Es ging schon auf Abend zu, und die Sonne wurde noch heißer. Der Ferrobedò war längst voller als ein Markt, und bewegen konnte man sich überhaupt nicht mehr. Hin und wieder rief einer: »Haut ab, die Deutschen kommen«, damit die anderen verschwanden und er alles alleine klauen konnte. Tags drauf gingen Riccetto und Marcello, auf den Geschmack gekommen, zur Caciara runter, wo der Großmarkt war. Aber der war zu. Überall liefen unzählig viele Leute rum und Deutsche, die hin und her gingen und in die Luft schossen. Doch mehr noch als die Deutschen gingen einem die Polizisten vom Italienischen Afrika-Korps, die Apais, auf den Sack. Die Menschenmenge wurde immer größer, stemmte sich gegen die Gittertore, lärmte, brüllte und fluchte auf teufelkommraus. Der Angriff ging los, und selbst die Stinklappen von Italienern ließen die Sache einfach laufen. Die Straßen um den Großmarkt herum waren schwarz von Menschen, der Markt selbst verlassen wie ein Friedhof, unter einer Sonne, die ihn zerbröselte: kaum wurden die Tore geöffnet, füllte er sich im Handumdrehen. Auf dem Großmarkt gab es gar nichts, nicht mal’n Kohlstrunk. Die Menschenmenge begann, die Magazine abzuklappern, unter den Schutzdächern und um die Verkaufstände rumzugehen, weil sie sich einfach nicht damit abfinden wollte, mit leeren Händen dazustehen. Schließlich entdeckte eine Gruppe von älteren Jungs einen Keller, der aussah, als wäre er vollgestapelt: durch die Gitter an den Fenstern konnte man einen Haufen Verdecke, kleine Rohre, Wachsplanen, Zeltbahnen und, in den Regalen, Käse erkennen. Die Nachricht verbreitete sich in Windeseile: fünf-, sechshundert Leute drängten...