E-Book, Deutsch, 240 Seiten
ISBN: 978-3-86787-406-9
Verlag: Bruno Books, Salzgeber Buchverlage GmbH
Format: EPUB
Kopierschutz: Adobe DRM (»Systemvoraussetzungen)
Chris Parker wurde 1976 in Montgomery, Alabama (USA) geboren und wanderte mit seiner Familie im Alter von vier Jahren nach Deutschland aus. Nach einem Auslandspraktikum als Jugendarbeiter in den USA studierte er hierzulande Sozialpädagogik und Germanistik. Heute lebt er als Übersetzer und freischaffender Schriftsteller in seiner Wahlheimat Bonn, wo er seinen Debütroman 'Die Erlösung' schrieb.
Autoren/Hrsg.
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1. Kapitel »Weil sie den richtigen Weg verlassen haben, irren sie jetzt herum« 2. Petrus 2, 15 Der nachtschwarz lackierte Mercedes fuhr durch die vor Hitze brütenden Straßen von Memphis, umgeben von abertausend anderen Kraftfahrzeugen. Aus den Augenwinkeln betrachtete Jeremiah Jessop seine Mutter, die neben ihm auf dem Fahrersitz des Wagens saß. Kurz erwiderte sie seinen Blick, dann strich sie sich die wenigen strohblonden Strähnen, die nicht fest in ihrem Dutt saßen, aus dem Gesicht und fixierte ihre Augen, ebenso königsblau getönt wie die ihres Sohnes, wieder auf die Straße. In der morgendlichen Rushhour konnte man in Memphis schneller sterben als in den Stromschnellen des Mississippis – was hauptsächlich daran lag, dass niemand so dumm war, sich in die Stromschnellen des Mississippis hineinzuwagen, die Autofahrer hingegen ganz erpicht darauf schienen, ihre Airbags auszuprobieren, ohne zu wissen, dass diese aufgrund der Finanzkrise in immer weniger Autos vorhanden waren. Jeremiah wandte den Blick wieder nach vorn auf die Straße. Er fragte sich, wo sein Vater wohl gerade steckte … Samuel war heute nicht aufgetaucht, um ihn gemeinsam mit seiner Mutter zu dem Camp zu bringen, welches ihn die nächsten acht Wochen lang beherbergen würde. »Dort kann Ihrem Sohn geholfen werden, Cornelia«, hatte der Pastor zu seiner Mutter gesagt, »die Menschen dort können mithilfe des Glaubens wieder zu Gott zurückfinden und die Seele von der Sünde befreien.« Jeremiah war der festen Überzeugung, dass ihm die Rettung seiner Seele gelingen würde. Es musste einfach sein! Für seine Mutter, um sie lachen zu sehen; für seinen Vater, der zwar nicht immer für ihn da sein konnte, aber stolz auf ihn sein würde. Alles würde sich bald ändern! Auf einmal zog ein Werbeplakat am Straßenrand Jeremiahs Aufmerksamkeit auf sich: Die Flasche Whisky, die darauf abgebildet war, machte ihm mit einem Schlag seine trockene Kehle bewusst. Selbst nach fünf Monaten strikter Abstinenz genügte ein bloßes Bild, um ihn in Versuchung zu führen … Doch an seine vergangene Alkoholsucht wollte er nicht denken. Auch das würde sich bald ändern. Alles würde sich bald ändern! Unauffällig blickte er wieder zu seiner Mutter, während sie auf die Autobahn fuhren, die zu dieser Zeit des Jahres stank wie ein Straßenköter. Seine Mutter rückte ihren nur locker übergeworfenen distelgrauen Regenmantel zurecht und bedeckte so ihre schneeweiße Bluse und den beigefarbenen knielangen Rock. Keine Laufmasche zog sich durch ihre sandfarbene Strumpfhose, und die goldene Kreuzkette um ihren Hals fügte sich perfekt in das Farbschema ein. Alles passte so gut zusammen, dass es langweilig wirkte. Die Kreuzkette war erst vor zehn Jahren hinzugekommen, als sie sich und ihren Sohn hatte taufen lassen. Sie waren damit von Atheisten zu katholischen Christen geworden, auch wenn er diesen Wandel im Gegensatz zu seiner Mutter nie verinnerlicht hatte. »Ich bin sehr froh, dass du in dieses Camp fährst, Jeremiah«, sagte seine Mutter auf einmal. »Danke, Mama«, erwiderte er ehrlich. Er war ihr dankbar – für so vieles. Dafür, dass sie ihn immer noch liebte, dass sie die Hoffnung noch nicht ganz aufgegeben hatte und dass sie ihm helfen wollte. Sie lächelte: »Jeremiah. Der Dank gilt Gott, der dich wieder zurück auf den rechten Pfad geführt hat. Ich weiß, dass es sehr schwierig für dich gewesen ist. Es war für dich nicht so leicht, die richtigen Entscheidungen zu treffen wie für andere Kinder. Es ist verständlich, dass du dich der Sünde zugewandt hast. Aber glaube mir: Gott wird dir vergeben, wenn du dich veränderst und die Liebe zu einer Frau gefunden hast, und er wird dich als seinen Sohn anerkennen.« Amen, fügte Jeremiah in seinem Kopf hinzu, hing aber dennoch an den Lippen seiner Mutter und lauschte jedem Wort. »Die Menschen dort werden dir helfen können. Dort wird es Kinder geben, die genauso kämpfen wie du. Ich weiß, dass du es schaffen wirst. Du bist ein starker Junge!« Prickelnde Wärme breitete sich in seiner Magengegend aus, als seine Mutter ihm den Kopf zuwandte und ihn direkt anlächelte. Jeremiah grinste glücklich zurück. Er musste es ihr sagen. Damals hatte er ihr nicht gesagt, dass er Männer attraktiv fand, doch das war ein Fehler gewesen. Er musste ihr sagen, wie viel es ihm bedeutete. Alles mussten sie teilen, dann könnten sie ihre Probleme auch lösen. »Alles für dich, Mama.« Sie lächelte gütig und sah wieder auf die Straße, legte ihm aber kurz die Hand auf die Schulter. »Alles zuerst für den Herrn, Jeremiah.« Er zuckte zusammen, aber nicht wegen ihrer Worten, sondern weil ihre Finger genau auf einem der blauen Flecken lagen, die seinen Arm zierten. Ein kleines Abschiedsgeschenk von den Arschlöchern seiner Schule. Jeremiah hatte sich daran gewöhnt. Wirklich, es gab Schlimmeres als das bisschen Ärger in der Schule; klar, er wurde schon mal in einen Spind geworfen oder herumgeschubst und getreten, aber er kam immer mit ein paar Prellungen davon. Nichts Großes. Die Beleidigungen waren auch nicht besonders einfallsreich, über »Schwuchtel« und »Pussy« ging es meistens nicht hinaus. Aber auch das würde sich bald ändern. Ja, alles würde sich bald ändern! Das Camp lag in Oakland, dem äußersten Vorort der Stadt Memphis. An der letzten Kreuzung davor stand zu ihrer Linken ein rechteckiges, blendend weißes Gebäude am Straßenrand. Jeremiah betrachtete es genau: Keine Fenster, keine Türen, ein ebenso reinweißes, sauberes Flachdach wie die Wände selbst. Unwillkürlich fürchtete er, dass das Camp in diesem Gebäude stattfinden würde. Er stand einige schlimme Sekunden aus, bis seine Mutter nach links abbog und sie es hinter sich ließen. Doch trotz des schlechten Gefühles in seiner Magengegend drehte er sich um und löste den Blick nicht von dem reinen Gebilde, bis es hinter den Bäumen des Waldes verschwand, durch den sie nun fuhren. Hinter dem Wald lag das Camp. Das Erste, was er sah, war nicht der aufragende moderne Kirchturm, die hohen Mauern oder das vergitterte Eisentor. Es waren die Demonstranten. Gut zwanzig Menschen hatten sich auf den restlichen 250 Metern zwischen dem Ende des Waldes und dem Camp versammelt. Sie standen zu beiden Seiten der Straße und hielten jeder ein Schild in die Höhe: LIEBE BRAUCHT KEINE HEILUNG! JESUS LIEBT MICH, WEIL ICH LIEBE. WAS SAGT ER ZU DEINEM HASS? GOTT HAT UNS GESCHAFFEN, SO WIE WIR SIND. GOTT LIEBT UNS, SO WIE WIR SIND. Was wollen die von mir?, fragte sich Jeremiah. Verständnislos blickte er die Frauen und Männer, Mädchen und Jungen an, die sich dort versammelt hatten. Was interessiert es sie überhaupt? Aber ein Plakat hatte seine Aufmerksamkeit geweckt. Es wurde von zwei jungen Frauen getragen, die einander fest in den Armen hielten. Jeremiah würde den Blick aus ihren dunklen Augen niemals vergessen, so eindringlich fixierten sie ihn. Einen Moment lang sahen die Mädchen das Auto bloß an, dann stellten sie sich kurzentschlossen auf die Straße und versperrten dem Mercedes den Weg. Auf ihrem Plakat stand: DU BIST NICHT ALLEIN. Jeremiah schluckte. Seine Mutter, die notgedrungen stehen geblieben war, hupte warnend, doch das Paar wich nicht zur Seite. Weitere Demonstranten folgten ihrem Beispiel und stellten sich vor das nachtschwarze Auto, bis sich schließlich alle zwanzig dort eingefunden hatten. Einige klopften herausfordernd an die Scheiben oder setzten sich sogar auf die Motorhaube. Seine Mutter begann nun, energisch zu hupen. Umgehend erschienen einige Sicherheitskräfte in schwarzen Uniformen und trieben die Demonstranten zurück an den Straßenrand. Es entstand ein kurzes Handgemenge, durch das Jeremiah den Blick auf das Plakat und die Mädchen verlor. Trotzdem blieben sie ihm im Gedächtnis haften, auch noch, als seine Mutter durch das schmiedeeiserne Portal hinein ins Camp fuhr. Und plötzlich fühlte er sich seltsam. Unsicher. Er würde dieses Tor nie wieder als derselbe Mensch durchschreiten, das wusste er. Ein großer Banner prangte über ihnen, gespannt zwischen den Mauern, die das Camp umgaben, auf dem in schwarzen Blockbuchstaben stand: LASST DIE KINDER ZU MIR KOMMEN; HINDERT SIE NICHT DARAN! DENN MENSCHEN WIE IHNEN GEHÖRT DAS REICH GOTTES. »Lukas 18, 16«, murmelte seine Mutter und bekreuzigte sich. Jeremiah schluckte. Und das Gefühl, dass sich nun bald wirklich etwas ändern würde, wurde stärker, als sie auf den staubigen Vorplatz fuhren. Noch einmal blickte Jeremiah in den Rückspiegel, vielleicht, um noch einen letzten Blick auf die zwei jungen Frauen und ihr Schild zu erhaschen. Stattdessen sah er jedoch, dass zwei Uniformierte dem Mercedes folgten, beide so breitschultrig, dass sich Jeremiah zweimal hinter ihnen hätte verstecken können. Hastig wandte er den Blick nach vorn, um nicht noch nervöser zu werden, und spähte über eine weite Wiesenfläche den Hügel vor ihnen hinauf: Dort oben thronte das Camp, daneben konnte man eine kleine Kirche erkennen. Es waren helle, freundliche Gebäude, und die Glocken läuteten in einem schnellen Takt – fast wie zur Begrüßung. Dann bog seine Mutter ab und parkte. Sobald sie den Motor ausgestellt hatte, öffneten die zwei Uniformierten die Autotüren. Seine Mutter stieg aus, als sei es das Normalste der Welt, dass bewaffnete Kraftprotze ihr aus dem Wagen halfen. Jeremiah hingegen vermied es, die beiden Männer anzusehen, während er seinen Koffer von...