E-Book, Deutsch, 256 Seiten
Padura Handel der Gefühle
1. Auflage 2015
ISBN: 978-3-293-30487-1
Verlag: Unionsverlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Kriminalroman. Havanna-Quartett »Frühling«
E-Book, Deutsch, 256 Seiten
ISBN: 978-3-293-30487-1
Verlag: Unionsverlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Ein trockener, heißer Frühlingssturm fegt durch die Straßen Havannas, als Teniente Mario Conde der schönen Karina bei einer Autopanne hilft. Karina ist Jazzfan und spielt noch dazu selbst Saxofon – Mario Conde verliebt sich augenblicklich. Doch da wird er mit einer heiklen Untersuchung beauftragt: Eine junge Chemielehrerin an seiner ehemaligen Schule ist ermordet in ihrer Wohnung aufgefunden worden, in der auch Spuren von Marihuana entdeckt werden. Mario Conde muss feststellen, dass nicht nur beim Parteikader, sondern auch im Bildungswesen die Kriminalität alltäglich geworden ist, dass Vetternwirtschaft, Drogenhandel und Betrug blühen.
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Die zwei Duralginas lagen ihm schwer im Magen wie ein Schuldgefühl. El Conde hatte die Tabletten mit einer riesigen Tasse schwarzen Kaffees hinuntergespült, nachdem er festgestellt hatte, dass die letzten Reste der noch vorhandenen Milch geronnen waren. Glücklicherweise hatte er im Schrank zwei saubere Hemden entdeckt, und er konnte sich den Luxus leisten, sich eins auszusuchen. Er entschied sich für das rostbraun-weiß gestreifte mit den langen Ärmeln, die er bis zu den Ellbogen hochkrempelte. Die Jeans, die er unter dem Bett hervorzog, hatte nach der letzten Wäsche erst rund vierzehn Kampftage hinter sich und konnte noch vierzehn weitere vertragen. Er steckte die Pistole in den Hosenbund, wobei er feststellte, dass er abgenommen hatte. Sorgen machte er sich deswegen jedoch keine: Er hatte weder Hunger noch Krebs. Außer einem Brennen im Magen war alles in Ordnung. Die Ringe unter den Augen waren nicht besonders dunkel, der beginnende Haarausfall schien nur langsam voranzuschreiten, seine Leber hielt immer noch tapfer stand, und die Kopfschmerzen ließen bereits nach. Heute war schon Donnerstag, morgen Freitag. Als er dem Wind und der Sonne entgegentrat, war er beinahe versucht, ein altes Liebeslied zu vergewaltigen: Tausend Jahre werden vergehn und noch viel mehr / ich weiß nicht, ob es Liebe gibt in der Ewigkeit / doch dort wird es sein wie hier … Um viertel nach acht betrat er die Eingangshalle der Kripozentrale, begrüßte mehrere Kollegen, las sehnsüchtig die neuen Pensionsregelungen für das Jahr 1989 auf dem schwarzen Brett und rauchte die fünfte Zigarette des Tages, während er auf den Lift wartete, um sich bei dem Dienst habenden Offizier zu melden. Er hegte die wunderschöne Hoffnung, man möge ihm noch keinen neuen Fall übertragen, denn er wollte sich ganz auf einen einzigen Gedanken konzentrieren. Ja, in den letzten Tagen hatte er sogar wieder das Bedürfnis verspürt zu schreiben. Er hatte ein paar Bücher, die ihm stets halfen, seine Trägheit zu überwinden, wieder gelesen und in einem alten Schulheft, einem mit grün liniertem, gelblichem Papier, einige seiner Ideen notiert. Wie ein in Vergessenheit geratener pitcher, der in einem entscheidenden Spiel eingesetzt werden soll und sich warm spielt. Seine Wiederbegegnung mit Tamara vor ein paar Monaten hatte verloren geglaubte Erinnerungen und längst vergessene Gefühle in ihm geweckt. Auch Hassgefühle, die er für überwunden gehalten hatte, waren durch die unerwartete Konfrontation mit jenem wichtigen Teil seinerVergangenheit wieder hochgekommen. Er musste sich mit der Vergangenheit endlich aussöhnen, musste ihr den Prozess machen und sie ein für alle Mal bannen. Nun kam ihm der Gedanke, dass all das möglicherweise Material hergeben könnte für eine ziemlich anrührende Geschichte über die alten Zeiten, als sie alle noch sehr jung, sehr arm und sehr glücklich gewesen waren: der dünne Carlos, der damals noch dünn war, Andrés, der unbedingt Baseballspieler werden wollte, Dulcita, die noch nicht ins Ausland gegangen war, der Hasenzahn, der Geschichte studieren wollte, Tamara, die noch nicht mit Rafael verheiratet und so wunderwunderschön war; und er selbst natürlich, der davon träumte, Schriftsteller zu werden, nichts anderes als Schriftsteller, wenn er auf dem Bett liegend das Foto von Hemingway an der Wand betrachtete und in jenen Augen das Geheimnis des Blickes zu ergründen suchte, mit dem der alte Schriftsteller die Welt maß und sah, was andere nicht sahen. Sollte er jemals eine Chronik von Liebe und Hass, Glück und Enttäuschung schreiben, dann würde er sie Ein perfektes Leben nennen. Der Lift hielt in der dritten Etage. El Conde wandte sich nach rechts. Die mit kerosingetränktem Sägemehl gefegten Böden glänzten, die Sonne flutete durch die hohen Fenster mit den Aluminiumrahmen und ließ den langen Korridor in hellem Licht erstrahlen. Das ganze Gebäude war so sauber und lichtdurchflutet, dass es gar nicht nach einer Kripozentrale aussah. El Conde stieß die doppelte Glastür auf und betrat das Büro des Dienst habenden Offiziers, der zu dieser frühen Morgenstunde die stürmischsten Momente des Tages erlebte. Offiziere lieferten ihre Berichte ab, Ermittler legten gegen irgendeine Maßnahme des Gerichts Widerspruch ein, Verbindungsleute nahmen Verbindung auf. Teniente Mario Conde, einen eingängigen Bolero auf den Lippen – Von meinem Leben geb ich Dir das Beste / arm wie ich bin / was sonst kann ich Dir geben – und eine Zigarette zwischen den Fingern, näherte sich dem Schreibtisch von Teniente Fabricio. Bei dem Lärm konnte er kaum verstehen, was der Beamte zu ihm sagte: »Du sollst zum Mayor kommen. Frag mich nicht, was er will, ich hab keine Ahnung, hier ist die Hölle los. Du kriegst deine Fälle ja direkt vom Chef, wie du weißt, schließlich bist du sein Liebling.« El Conde sah Fabricio eine Weile an. Der Teniente schien regelrecht unterzugehen in all dem Papierkram, dem Telefonklingeln und Stimmengewirr. Mario fühlte, dass seine Hände zu schwitzen begannen. Es war das zweite Mal, dass Fabricio ihn so behandelte. Nein, sagte er sich, ich bin nicht gewillt, mir diese Flegeleien gefallen zu lassen. Einige Monate zuvor hatte Mayor Rangel angeordnet, dass El Conde nach Abschluss seines eigenen Falles Fabricio bei der Untersuchung einer Serie von Diebstählen in verschiedenen Hotels Havannas ablösen sollte. Mario hatte sich vergeblich dagegen gewehrt – »Die Ermittlungen müssen endlich abgeschlossen werden«, hatte der Alte befohlen – und Fabricio entschuldigend erklärt, dass das nicht seine Entscheidung gewesen sei. Kurz darauf waren die Täter überführt, und El Conde wollte seinen Kollegen über das Ermittlungsergebnis informieren. Fabricio hatte zu ihm gesagt: »Freut mich, Conde, bestimmt kriegst du vom Mayor einen dicken Kuss dafür.« Mario hatte versucht, das Verhalten des Teniente zu entschuldigen, und schließlich hatte er ihm auch verziehen. Jetzt aber erinnerte er sich daran, dass er aus einem hitzigen, streitsüchtigen Viertel stammte, wo man unter allen Umständen die Fahne der Männlichkeit hochhalten musste. Andernfalls lief man Gefahr, seine Männlichkeit aberkannt zu bekommen und am Ende ohne Fahne und sogar ohne Fahnenstange dazustehen. Nein, in seinem Alter war er nicht mehr gewillt, so eine Bemerkung durchgehen zu lassen. Schon hob er den Zeigefinger, um einen Monolog zu beginnen, beherrschte sich aber noch einen Moment und wartete. Als sich das Büro geleert hatte, stützte er beide Hände auf die Schreibtischplatte, beugte sich vor, um Fabricio direkt ins Gesicht sehen zu können, und sagte: »Wenn dir die Fresse juckt, brauchst dus mir nur zu sagen. Ich kann dich kratzen, wann du willst, wo du willst und wie du willst. Kapiert?« Daraufhin drehte er sich auf dem Absatz um und ging hinaus. Im Rücken spürte er die Pfeile, die dem anderen aus den Augen schossen. Was denkt der sich eigentlich! Jetzt hat er mir den Morgen versaut, stellte er fest. Er hatte nun weder die Geduld noch Lust, auf den Lift zu warten, und stürmte die Treppen bis zum siebten Stock hinauf. Die Duralginas lagen ihm wie Steine im Magen. Es wird böse enden, dachte er. Scheiß was drauf, wenn ers nicht anders will … Er betrat das Vorzimmer von Mayor Rangels Büro. Maruchi sah auf und nickte ihm einen Morgengruß zu, ohne ihre Tipparbeit zu unterbrechen. »Was gibts, mein Schatz?«, fragte er die Sekretärin und ging zu ihrem Schreibtisch. »Er hat in aller Herrgottsfrühe schon nach dir geschickt, aber du warst wohl schon von zu Hause weg«, antwortete sie und wies mit dem Kopf auf die Tür zum Büro ihres Chefs. »Ich weiß nicht, aber ich glaub, da wartet ’n dicker Hund auf dich.« El Conde stieß einen Seufzer aus und zündete sich eine Zigarette an. Wenn der Mayor von einem »dicken Hund« sprach, fingen seine Hände an zu zittern. Die von oben steigen mir aufs Dach, Conde, Eile ist angesagt. Diesmal jedoch wollte Mario keinen Fall von jemand anderem übernehmen, das schwor er sich, selbst wenn es ihn den Job kosten würde. Er rückte seine Pistole zurecht. Immer wieder versuchte sie, aus dem Gürtel seiner Jeans zu rutschen, ganz besonders im Moment, da er ohne ersichtlichen Grund an Gewicht verlor. Er legte die Hand auf den Text, den die Sekretärin des Alten gerade abtippte. »Sag mal, Maruchi, wie findest du mich?« Die junge Frau lächelte ihn an. »Willst du mir einen Heiratsantrag machen und dich vorher absichern?« Jetzt musste auch El Conde über seine plumpe Frage lächeln. »Nein, ich kann mich nur selbst nicht mehr leiden«, erwiderte er und klopfte mit dem Fingerknöchel behutsam an die Glastür. »Los, mach schon, geh endlich rein.« Mayor Rangel rauchte seine Morgenzigarre. An dem Geruch erkannte El Conde, dass es kein guter Tag für den Alten war. Es roch nach einem billigen, zu trockenen Stumpen, einem zu sechzig Centavos. Ein sicheres Zeichen für die schlechte Laune des Chefs der Kripozentrale, der ein säuerliches Gesicht machte. Doch abgesehen davon bewunderte El Conde die korrekt-soldatische Erscheinung seines Vorgesetzten. Die Uniform saß ihm wie immer wie angegossen und brachte die gebräunte Haut des Squashspielers und Gewohnheitsschwimmers zur Geltung. Der lässt sich nie gehen, dachte Mario. »Man hat mir gesagt …«, begann er, doch der Mayor unterbrach ihn mit einer Handbewegung und wies auf einen der Stühle. »Setz dich, setz dich! Für dich ist Schluss mit der...