Padura | Die Palme und der Stern | E-Book | sack.de
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E-Book, Deutsch, 464 Seiten

Padura Die Palme und der Stern

Roman
1. Auflage 2015
ISBN: 978-3-293-30872-5
Verlag: Unionsverlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark

Roman

E-Book, Deutsch, 464 Seiten

ISBN: 978-3-293-30872-5
Verlag: Unionsverlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark



Nach achtzehn Jahren im Exil kehrt der Schriftsteller Fernando nach Havanna zurück, um nach einem verschollenen Manuskript des Dichters José María Heredia zu suchen. Die Rückkehr führt ihn nicht nur zu den Geheimnissen der Freimaurer Kubas, denen Heredia angehörte, sondern auch in die eigene Vergangenheit: Wer hat Fernando vor bald zwanzig Jahren denunziert und damit ins Exil getrieben?

Padura verwebt drei Handlungsstränge: Das Schicksal von Fernando, die Suche nach dem verlorenen Manuskript und die fiktiven Memoiren von Heredia. Gleichzeitig vermittelt er ein atmosphärisches Bild von Kubas Geschichte, vom beklemmenden Lebensgefühl im Exil und deckt erstaunliche Parallelen im Leben der beiden Schriftsteller aus zwei Jahrhunderten auf.

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Miguel Ángel, El Negro, kam als Letzter. Bestimmt wäre er früher der Erste gewesen, dachte Fernando, denn er hatte immer und überall gewetteifert. Fast verzweifelt hatte er nach Perfektion gestrebt, mit einer Besessenheit und einer Energie, die von einem Bedürfnis nach Anerkennung gespeist wurden, um die historischen Atavismen und Vorurteile gegen Menschen seiner Hautfarbe zu überwinden. Nie würde Fernando den Tag vergessen können, an dem er sich nach Schulschluss mit ihm prügeln musste, nachdem er ihn in der Spanischprüfung für Schüler der sechsten Klasse überflügelt hatte. Miguel Ángel hatte die Niederlage als persönliche Beleidigung empfunden, und mit Tränen der Ohnmacht in den Augen hatte er Fernando herausgefordert, um so vielleicht den gnadenlosen Kampf um die Vorherrschaft mit Körperkraft wieder auszugleichen … Doch als Fernando ihn jetzt hereinkommen sah, entdeckte er in seinem Blick den Ausdruck eines gehetzten Tieres, den er bei dem unversöhnlichsten und stolzesten der Spötter nie vermutet hätte. »Mach auf, Alter«, hatte Álvaro, vermutlich in voller Absicht, Conrado gebeten, während er damit beschäftigt war, zwei rote Kerzen für Víctor und Enrique anzuzünden. Fernando beobachtete, wie Miguel Ángel und Conrado sich kühl die Hand gaben, was vorauszusehen gewesen war. Während der eine nämlich als politisch unzuverlässig stigmatisiert war, hatte der andere seine Zuverlässigkeit gewinnbringend eingesetzt und war zum Direktor einer kubanisch-spanischen Kooperative aufgestiegen, die Kakao exportierte und Konfitüren importierte. »Wenn jemand spitzkriegt, dass ich mich hier mit diesem Verrückten treffe, kann ich für alle Zeiten einpacken«, hatte Conrado gesagt, als er hörte, dass El Negro auch kommen würde. Doch dann hatte er sich überreden lassen, an dem teilzunehmen, was Álvaro »das vorletzte Abendmahl der Spötter« nannte. Wortlos ging Miguel Ángel auf Fernando zu, um ihn zu umarmen. »Schön, dich zu sehen, Bruder.« »Und, wie gehts dir, Negro?«, fragte ihn Fernando, beinahe erschrocken über das, was er wie im Spiegel vor sich sah: Miguel Ángel wurde langsam kahl, war dünn, allerdings mit einem Bauchansatz, und seine Zähne besaßen die Farbe von Kaffee und Tabak, den beiden Dingen, denen sie beide gleichermaßen verfallen waren. »Gut, glaube ich«, antwortete der andere schließlich wie nebenbei, als wäre das nicht so wichtig, und ging zu Tomás und Arcadio hinüber, um ihnen ebenfalls die Hand zu geben. Dann zog er eine imaginäre Pistole aus dem Gürtel und tat so, als schösse er auf Álvaro, der ihm auf dieselbe Art antwortete. Sie pusteten auf die Mündungen ihrer Waffen und steckten sie wieder zurück in den Gürtel. So pflegten sie sich seit dreißig Jahren zu begrüßen. Beklommen blickte Fernando auf die Gespenster seiner Vergangenheit: Conrado, Arcadio, Tomás, Miguel Ángel, Álvaro … Auf dieser baufälligen, nach Meer riechenden Dachterrasse war der wichtigste Teil seines Lebens versammelt, das, was er am meisten daran liebte und was ihn am meisten quälte; denn er wusste, dass einer der Anwesenden oder einer der »entschuldigt Fehlenden«, wie Álvaro die beiden Verstorbenen Enrique und Víctor nannte, derjenige gewesen sein musste, der ihn beschuldigt hatte, von Enriques heimlichen Fluchtplänen gewusst zu haben. Das war der erste Schritt in Richtung Exil gewesen. Bis dahin hatte Fernando nie daran gedacht, irgendwo anders als auf der Insel zu leben, und auch wenn er aufgrund der Bücher, die er in seiner Jugend gelesen hatte, manchmal davon träumte, zu reisen und die symbolischen Orte der Poesie kennenzulernen – das New York von Whitman und Lorca, das Paris der Symbolisten und Surrealisten, das Buenos Aires von Borges, das Andalusien von Alberti und das Kastilien von Machado –, verliebte er sich am Ende in das Havanna von Heredia und Casal, von Eliseo Diego, Lezama Lima und Carpentier, diese mit Metaphern und unergründlichen Offenbarungen angefüllte Stadt, in die er in seinen verwegensten Bücherträumen reiste und deren Gerüche, Lichter, Träume und irregeleitete Lieben er gierig in sich aufnahm. In jenen Tagen des Glaubens an die Poesie hatte Fernando sich als glücklichen Menschen mit einer angenehmen und hoffnungsvollen Zukunft betrachtet. Zwei Jahre zuvor hatte seine Examensarbeit über »Die poetische Schaffung kubanischer Symbole und deren Darstellung in den Werken José María Heredias« neue Sichtweisen auf den Vaterlandsbegriff in der Vorstellungswelt des Dichters eröffnet, und das Prüfungskomitee hatte ihm nicht nur die Höchstnote zuerkannt, sondern auch zwei außergewöhnliche Vorschläge gemacht: Die Arbeit solle veröffentlicht und in den Kanon der Sekundärliteratur für Studenten aufgenommen werden, und Fernando Terry solle eine Stelle als Lehrbeauftragter am Institut für Literaturwissenschaften antreten. Außerdem solle er, sobald er die nötigen Voraussetzungen erfülle, zum Doktoranden der Geisteswissenschaften ernannt werden und, ausgehend von den neuartigen Thesen seiner Examensarbeit, eine kritische Ausgabe der Werke Heredias vorbereiten. Diese zwei Jahre als Lehrer waren vielleicht die besten seines Lebens. Er unterrichtete kubanische Literatur und hatte Zeit für seine Forschungsarbeit. Außerdem genoss er die Vorteile seiner erstmals erlangten finanziellen Unabhängigkeit und seiner Position auf dem Gebiet, das ihm am meisten Spaß machte, in, wie er sagte, einem diachronischen und synchronischen sowie horizontalen und vertikalen Sinne, quer durch das gesamte chromatische Spektrum. Mit der Ausdauer eines Athleten vernaschte er jede genießbare Dame aus der Riege der Lehrerinnen sowie die feinsten Leckerbissen aus dem Kreise seiner Studentinnen. Er lebte wie ein Fürst, überzeugt davon, dass sein leuchtender Stern niemals untergehen und er, wenn der Augenblick käme, in dem seine Inspiration erwachte, wieder Gedichte schreiben würde, so wie er es in seiner Schüler- und Studentenzeit getan hatte. Doch unvermittelt musste Fernando Terry entdecken, dass auch der hellste Stern erlöschen und sogar in der Unendlichkeit des Raumes verglühen kann, als ihn nämlich die Sekretärin des Instituts während des Unterrichts aus dem Seminarraum holte und ihn aufforderte, sich unverzüglich ins Dekanat zu begeben. Verunsichert betrat Fernando das Büro, in das man ihn gerufen hatte, und sah sich einem Mann gegenüber, der ihn mit sehr ernstem Gesicht anblickte. »Setzen Sie sich«, befahl ihm der Mann, »wir haben miteinander zu reden.« Der stämmige Mulatte, einige Jahre älter als Fernando, stellte sich als Genosse Ramón vor, Teniente der Staatssicherheit, zuständig für das Literaturwissenschaftliche Institut der Universität Havanna. Ohne Umschweife teilte er ihm mit, dass »im Zuge der Nachforschungen betreffs der Vorbereitung illegaler Landesflucht des Staatsbürgers Enrique Arias Martínez« der Betreffende ausgesagt habe, dass zu dem Personenkreis, der in seine Pläne eingeweiht gewesen sei, auch Fernando Terry Álvarez zähle. »Wie Sie wissen«, fuhr der Teniente fort, »ist das eine sehr schwerwiegende Anschuldigung, umso mehr, wenn man in Betracht zieht, welch große moralische Verantwortung jemand trägt, der direkt mit der Erziehung unserer jungen Generation betraut ist, und das in einem Institut, in dem die Ideologie ein so bedeutsames Gewicht hat …« Nachdem sich Fernando vom ersten Schrecken über diesen Tiefschlag, der ihm den Atem nahm, erholt hatte, protestierte er, stritt ab, schlug mit der Faust auf den Tisch und verlangte schließlich eine Gegenüberstellung mit Enrique. Doch der Offizier sagte, dass das im Moment nicht möglich sei. Er glaube ihm ja, versicherte er lächelnd und bot ihm sogar eine Zigarette an, bestimmt sei die Behauptung unwahr, wahrscheinlich wolle der Betreffende einem Mitglied des Lehrkörpers schaden, und er hielt ihm die Flamme seines Feuerzeugs hin. Fernando müsse verstehen und, natürlich, zur Klärung des Falles beitragen. Habe ihm Enrique, sagte der Genosse Ramón und beugte sich zu ihm vor, zum Beispiel nicht irgendwann mal erzählt, dass er gerne in den Vereinigten Staaten leben würde? Oder habe er irgendwann davon gesprochen, dass er mit der Politik der Regierung unzufrieden sei? Habe er ihm gegenüber irgendwann erwähnt, ob andere Freunde von ihnen der gleichen Meinung seien? Könne er sich nicht vorstellen, dass Álvaro Almazán oder Víctor Duarte ebenfalls in die Pläne von Enrique Arias eingeweiht gewesen sein könnten? Und die anderen, die in dem Haus in der 25. Straße zusammengekommen seien? Ein gewisser Conrado Peláez? Oder Tomás Hernández, oder Arcadio Ferret? Nein, er, Ramón, könne nicht glauben, dass keiner von ihnen etwas über die politischen Ideen von Enrique Arias gewusst habe, wo sie doch so eng miteinander befreundet seien. Und da tat Fernando, ohne weiter darüber nachzudenken, den verhängnisvollen Schritt, der ihn in das schwarze, bodenlose Loch stoßen und sein Leben verändern sollte. Jahrelang noch würde er in den Spiegel blicken und in dem Gesicht das jenes Fernando Terry zu entdecken versuchen, der in seiner Verwirrung aus einem Winkel seiner Erinnerung das hervorgeholt hatte, was möglicherweise die dumme, unbedeutende Ursache jenes Missverständnisses gewesen war. »Nun ja, ganz so war es nicht …«, begann er, »einmal hatte Enrique sich über irgendetwas geärgert, ich erinnere mich nicht mal mehr, worüber, und da hat er zu mir gesagt,...


Hartstein, Hans-Joachim
Hans-Joachim Hartstein, geboren 1949, übersetzt seit 1980 französisch- und spanischsprachige Literatur. Er hat u. a. Werke von Georges Simenon, Léo Malet, Luis Goytisolo, Juan Madrid, Marina Mayoral, Leonardo Padura und Ernesto Che Guevara ins Deutsche übertragen.

Padura, Leonardo
Leonardo Padura, geboren 1955 in Havanna, zählt zu den meistgelesenen kubanischen Autoren. Sein Werk umfasst Romane, Erzählbände, literaturwissenschaftliche Studien sowie Reportagen. International bekannt wurde er mit seinem Kriminalromanzyklus Das Havanna-Quartett. Im Jahr 2012 wurde ihm der kubanische Nationalpreis für Literatur zugesprochen, 2015 erhielt er den spanischen Prinzessin-von-Asturien-Preis in der Sparte Literatur, 2023 den Pepe Carvalho Preis. Leonardo Padura lebt in Havanna.



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