Padura | Der Schwanz der Schlange | E-Book | sack.de
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E-Book, Deutsch, 180 Seiten

Padura Der Schwanz der Schlange

Mario Conde ermittelt in Havanna. Kriminalroman
1. Auflage 2015
ISBN: 978-3-293-30485-7
Verlag: Unionsverlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark

Mario Conde ermittelt in Havanna. Kriminalroman

E-Book, Deutsch, 180 Seiten

ISBN: 978-3-293-30485-7
Verlag: Unionsverlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark



Ein außergewöhnlicher Mordfall führt Mario Conde in die geheimnisvolle Welt von Havannas Barrio Chino. Ein alter Chinese baumelt tot in seinem Kämmerchen, mit zwei in die Haut geritzten Pfeilen und einem abgeschnittenen kleinen Finger. Ein religiöser Ritualmord mit Santería-Hintergrund? Oder steckt doch eine interne Abrechnung dahinter? Da Teniente Conde seiner attraktiven chinesischstämmigen Kollegin, der unwiderstehlichen Patricia Chion, nichts abschlagen kann, kümmert er sich selbst um diesen Fall. In den geheimen Zirkeln der chinesischen Gemeinde stößt Mario Conde auf mysteriöse Zusammenhänge und obskure Machenschaften und immer wieder auf Geschichten von Entwurzelung und Einsamkeit.

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Seit er seinen Verstand gebrauchen konnte und ein paar Dinge über das Leben wusste, war für Mario Conde ein Chinese immer das gewesen, was ein Chinese zu sein hatte: ein Individuum mit Schlitzaugen und lederner Haut von trügerischer, leberkranker Farbe. Jemand, der durch die Wechselfälle des Lebens von weit her gekommen war, aus einem unbekannten, schemenhaften Land zwischen riesigen Flüssen und unbezwingbaren Bergen mit schneebedeckten Gipfeln, die sich im Himmel verlieren, einem Land, reich an Sagen von Drachen und weisen Mandarinen und Philosophen mit verworrenen Lehren für jede Gelegenheit. Jahre später lernte er dann, dass ein Chinese, ein richtiger, perfekter Chinese, außerdem und vor allem jemand ist, der es versteht, die ungewöhnlichsten Speisen zuzubereiten, an denen sich ein verwöhnter Gaumen erfreuen kann. In Limonensaft gekochte und mit Basilikum, Kohl, Ingwer und Zimt gratinierte Wachteln zum Beispiel. Oder in Ei, Kamille und Orangensaft gewälztes und dann in einer unergründlichen, Wok genannten Pfanne auf kleiner Flamme in Kokosöl goldbraun gebratenes mageres Schweinefleisch, um ein weiteres Beispiel zu nennen. Dennoch konnte ein Chinese in den beschränkten Vorstellungen, die El Condes historische, philosophische und gastronomische Vorurteile zementierten, auch ein sehr dünner und friedlicher Mann sein, der sich in Mulattinnen und Schwarze verliebt (wann immer sich die Gelegenheit dazu ergibt), mit geschlossenen Augen eine lange Bambuspfeife raucht, kaum etwas sagt, und selbst wenn, dann nur das, was er gerade für nötig erachtet, und zwar in dem näselnden Singsang, der diesen Menschen eigen ist, sobald sie sich einer fremden Sprache bedienen. Ja, all das ist ein Chinese, bestätigte er sich, nachdem er eine Weile darüber nachgesonnen hatte; doch dann kam er zu dem Schluss, dass solch ein konstruierter Mensch, wenn man es recht bedachte, nichts weiter als der Standard-Chinese war, ausgedacht von einem schematischen, westlich-kubanischen Verstand. El Conde fand dieses Klischee jedoch harmonisch und gelungen, und so war es ihm gleichgültig, dass das vertraute, fast idyllische Bild auf einen wirklichen Chinesen nicht zutraf und keinerlei Bedeutung hatte für jemanden, der den alten Juan Chion nicht kannte und nicht das Glück gehabt hatte, die von ihm zubereiteten Speisen zu kosten. Juan Chion war der Vater seiner Freundin und Kollegin Patricia, die El Conde dazu gezwungen hatte, sich über seine dürftigen Kenntnisse der kulturellen und psychologischen Beschaffenheit eines Chinesen Gedanken zu machen. Das Bedürfnis, das Wesen des Chinesen zu ergründen, war an jenem Nachmittag im Jahre 1989 in ihm aufgekommen, als er nach vielen Jahren wieder einmal das alte Chinesenviertel von Havanna besuchte, in das ihn diesmal eine der üblichen Pflichten seines Berufes rief: Ein Mann war ermordet worden, und der Tote war ausgerechnet ein Chinese. Wie alle Situationen, in denen ein Chinese (auch ein toter) aufkreuzt, war auch diese kompliziert: Der Mann, der Pedro Cuang geheißen hatte, war nicht auf die einfache, schlichte Art liquidiert worden, auf die man in der Stadt normalerweise zu morden pflegte. Weder durch einen Schuss noch durch einen Messerstich oder einen Schlag auf den Kopf hatte man ihn getötet, nicht einmal vergiftet oder verbrannt hatte man ihn. Der ethnischen Herkunft des Opfers entsprechend, handelte es sich um einen seltsamen Mord, ziemlich orientalisch und ausgefallen für ein Land, in dem zu leben schwieriger war (und für lange Zeit noch sein sollte), als zu sterben. Ein sozusagen exotisches Verbrechen, gewürzt mit äußerst komplizierten Zutaten: zwei mit einem Messer in die Haut geritzte Pfeile auf der Brust und ein abgeschnittener Finger, falls Ihnen das fürs Erste reicht. Viele Jahre später, als Mario Conde kein Teniente mehr war (und noch weniger Polizist), sollte er auf den Spuren einer Obsession und eines vergessenen Geheimnisses aus der Vergangenheit noch einmal ins Chinesenviertel von Havanna zurückkehren. Und dabei fand er einen noch sehr viel heruntergekommeneren, fast gänzlich verfallenen Ort vor, in dem sich der Abfall türmte und überall Verbrecher aller Hautfarben und Berufszweige lauerten. Die fünfzehn Jahre, die zwischen seinen Besuchen lagen, hatten genügt, um vom – nie sehr vornehmen – ehemaligen Ambiente des Chinesenviertels nur wenig mehr übrig zu lassen als den Namen, der es von den anderen einundfünfzig Bezirken Havannas unterschied, und das eine oder andere vergammelte, unleserliche Schild, das auf eine alte Bruderschaft oder ein von einem jener Emigranten betriebenes Geschäft hinwies. Und nur wenn man genau hinsah, konnte man vielleicht vier oder fünf magere Chinesen entdecken, die wie verstaubte Museumsstücke wirkten: letzte Überlebende einer langen Geschichte der Entwurzelung, alte Menschen, deren historische Funktion offenbar darin bestand, die sichtbaren Überbleibsel jener Zehntausende von Chinesen zu bilden, die im Lauf eines Jahrhunderts andauernder Migration auf die Insel gelangt waren und jenem Winkel Havannas einmal ein Gesicht gegeben hatten. Bei seinem neuerlichen Streifzug durch das Viertel erinnerte sich El Conde, inzwischen älter und melancholischer geworden, mit bei dem immer kläglicheren Zustand seines Gedächtnisses erstaunlicher Deutlichkeit an jenen Morgen im Jahr 1989, an dem er sich der Muße, der Einsamkeit und der Lektüre eines Romans hingegeben hatte, als die wunderbare Gestalt von Patricia Chion in sein Haus eingefallen war, um ihn weniger als Kollegin denn als Freundin (wie man so sagt) um etwas zu bitten. Eine Bitte, die Mario Conde das Leben schwer machen und die klischeehaften Vorstellungen von einem Chinesen, die er, glücklich und sorglos, ohne sie je infrage zu stellen, bis dahin gepflegt hatte, komplett über den Haufen zu werfen. Am Ende jener im Chinesenviertel gelebten und verschwitzten Tage war es für Mario besonders schmerzlich, festzustellen, wie der typische Chinese, den er sich bisher vorgestellt hatte, zu einem Menschen mit nicht verheilten Narben und einem unergründlichen Wesen wurde, vergleichbar den tiefen Wassern eines Meeres, aus denen alte, aber immer noch lebendige Geschichten von Rache, Ehrgeiz und Treue auftauchten und Blasen von unzähligen enttäuschten Träumen aufstiegen – fast so vielen, wie Chinesen nach Kuba gekommen waren. Ohne Übertreibung: Es lohnte sich wirklich, sie anzuschauen. Auf den ersten Blick fiel auf, dass nichts an diesem Bilderbuchexemplar rein zu sein schien. Auf den zweiten, etwas ausführlicheren Blick wurde klar, dass das Ergebnis dieser Vermischung ein meisterliches Kunstwerk menschlicher Schöpfung war. Wenn El Conde sie sah, musste er unweigerlich an die missglückte und im allgemeinen Einvernehmen vergessene Geschichte der F-1 denken, der Rinder des kubanisch-sozialistischen Milchviehwunders (eins der vielen ausgebliebenen Wunder), der perfekten Tierrasse, die durch die Kreuzung ausgewählter Exemplare der holländischen Holsteinrasse (mit hoher Milchproduktivität, aber nicht sonderlich viel Fleisch) und dem tropischen Zebu (mit wenig Milch in den Eutern, aber einem exzellenten Fleisch, das hervorragende Steaks lieferte) gezüchtet wurde. Selbstverständlich würde das F-1 die besten genetischen Anlagen der ursprünglichen Rassen besitzen, und durch diese so einfache wie geniale Methode würde man unterm Strich erreichen, dass ein einziges Tier Milch und Fleisch in Hülle und Fülle lieferte. In kurzer Zeit würden so viele bestens ausgestattete Kühe in den kubanischen Ställen stehen, dass der Insel Milchschwemmen drohten (1970 werde man Butter und Milch kaufen können, ohne das Lebensmittelheftchen vorlegen zu müssen, hatten die großen Führer in ihren Reden versprochen, erinnerte sich El Conde noch genau) und jeder Kubaner Gefahr lief, an einem Rinderfilet zu ersticken, ganz zu schweigen von dem besorgniserregenden Cholesterin-, Kalzium- und Harnsäurespiegel, zu dem außerdem noch … Doch das Leben sollte zeigen, dass es zur Züchtung des F-1 sehr viel mehr benötigte als Träumer auf Rednertribünen und Besamer mit langen Handschuhen: Es gab keine F-1-Kühe und selbstverständlich auch keine Milch-, Butter- oder Steakschwemme. Nicht einmal Hacksteaks. Weder 1970 noch danach. Und darum gelang es (als Kollateralnutzen sozusagen), die Cholesterinwerte auf einem erträglichen und die des Hämoglobins auf eher niedrigem Niveau zu halten. Patricia Chion war ein F-1 aus purem Chinesen und tiefdunkler Schwarzen. Diese erfolgreiche Mischung, bei der die unterschiedlichen Gene zu gleichen Teilen ausgeprägt waren, hatte der Welt eine chinesische Mulattin beschert, einen Meter fünfundsiebzig groß, mit blauschwarzem Haar, das ihr in nicht zu bändigenden, aber geschmeidigen Korkenzieherlocken über die Schultern fiel, mit unanständig geschlitzten (fast mörderischen) Augen, einem kleinen Mund mit appetitlich fleischigen Lippen und Milchschokoladenhaut, ebenmäßig, rein, faszinierend. Zur Steigerung der Begierde wurden diese Merkmale von sensationellen Attributen begleitet, die ebenfalls der höchsten Kategorie würdig waren: kleine, fast provozierend straffe Brüste, eine schmale Taille über ausladenden, runden Hüften, die in einen Po übergingen, der zu den aufregendsten der gesamten Karibik gehörte; darunter kräftige Schenkel und makellose, muskulöse Beine. Patricia gehörte zu jenen Frauen, bei denen den Männern der Atem wegbleibt, der Puls in die Höhe schnellt und sich unziemliche (unziemliche? Quatsch!, wunderbare!) Gedanken und Wünsche einstellen. Doch es lohnte sich nicht nur, sie im...


Padura, Leonardo
Leonardo Padura, geboren 1955 in Havanna, zählt zu den meistgelesenen kubanischen Autoren. Sein Werk umfasst Romane, Erzählbände, literaturwissenschaftliche Studien sowie Reportagen. International bekannt wurde er mit seinem Kriminalromanzyklus Das Havanna-Quartett. Im Jahr 2012 wurde ihm der kubanische Nationalpreis für Literatur zugesprochen, 2015 erhielt er den spanischen Prinzessin-von-Asturien-Preis in der Sparte Literatur, 2023 den Pepe Carvalho Preis. Leonardo Padura lebt in Havanna.

Hartstein, Hans-Joachim
Hans-Joachim Hartstein, geboren 1949, übersetzt seit 1980 französisch- und spanischsprachige Literatur. Er hat u. a. Werke von Georges Simenon, Léo Malet, Luis Goytisolo, Juan Madrid, Marina Mayoral, Leonardo Padura und Ernesto Che Guevara ins Deutsche übertragen.



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