Padura | Das Meer der Illusionen | E-Book | sack.de
E-Book

E-Book, Deutsch, 288 Seiten

Reihe: metro

Padura Das Meer der Illusionen

Kriminalroman. Havanna-Quartett »Herbst«
1. Auflage 2015
ISBN: 978-3-293-30482-6
Verlag: Unionsverlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark

Kriminalroman. Havanna-Quartett »Herbst«

E-Book, Deutsch, 288 Seiten

Reihe: metro

ISBN: 978-3-293-30482-6
Verlag: Unionsverlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark



Havanna im Herbst 1989: Fischer entdecken am Strand eine Leiche. Wie sich herausstellt, war der Tote ein hoher Funktionär der kubanischen Regierung, bis er sich vor elf Jahren in die USA absetzte. Damals zuständig für die Enteignung der Bourgeoisie, hatte er sich viele Feinde geschaffen. Warum kehrte er nach Kuba zurück? Wollte er wirklich nur seinen schwer kranken Vater besuchen? Oder gab es einen anderen Grund?

Im vierten Teil des Havanna-Quartetts begegnet Teniente Mario Conde abgehalfterten Funktionären und den alten Familien, die viel, aber längst nicht alles verloren haben. Während der Hurrikan Félix unbarmherzig auf Havanna zurast, fühlt Mario Conde, dass ein wichtiger Abschnitt seines Lebens zu Ende geht.

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1
Komm endlich!«, rief er in einen friedlich gelangweilten Himmel, der noch mit einem trügerischen Blau aus der Herbstpalette gefärbt war. Mario Conde stand mit freiem Oberkörper und ausgebreiteten Armen auf der Dachterrasse und schrie seine Verzweiflung mit aller Kraft heraus, um seine Stimme auf Reisen zu schicken und zu beweisen, dass er überhaupt noch eine Stimme besaß, nachdem er drei Tage lang kein einziges Wort hervorgebracht hatte. Seine von übermäßigem Zigaretten- und Alkoholgenuss geschundene Kehle nahm den Ausbruch mit Erleichterung zur Kenntnis, und sein Geist genoss den bescheidenen Akt der Befreiung, der sein Inneres so sehr in Aufruhr versetzte, dass er beinahe einen zweiten Schrei ausgestoßen hätte. Wie der Matrose im Ausguck eines verlorenen Schiffes beobachtete El Conde den wolkenlosen und windstillen Himmel, in der absurden Hoffnung, sein erhöhter Aussichtsplatz ermögliche es ihm, am Horizont endlich die beiden bedrohlichen Markierungskreuze zu entdecken, deren Weg er seit einigen Tagen auf der Wetterkarte verfolgt hatte, während sie sich auf ihr angepeiltes Ziel zubewegten: auf die Stadt, das Viertel und eben diese Dachterrasse, von der aus er sie herbeirief. Zunächst war es ein ferner Keil am Himmel gewesen, noch namenlos, ganz unten auf der Skala eines Tropentiefs, das von der Küste Afrikas heranzog und heiße Wolken für seinen Totentanz vor sich hertrieb. In zwei Tagen würde es in die Besorgnis erregende Kategorie eines Zyklons aufsteigen, inzwischen ein Giftpfeil über dem Atlantik, der seine Spitze auf das Karibische Meer richten und das Recht erworben haben würde, auf den Namen Félix getauft zu werden. In der vergangenen Nacht jedoch hatte das Tief, zu einem Hurrikan aufgeblasen, sich bereits über die Inselgruppe von Guadeloupe gelegt wie ein grotesker Haarwirbel, entfesselt durch die verheerende äolische Umarmung mit Windgeschwindigkeiten von zweihundert Kilometern pro Stunde, in der Absicht, Bäume zu entwurzeln und Häuser zu zerstören, jahrtausendealte Berggipfel und historische Flussläufe zu verändern, Tiere und Menschen zu töten. Wie ein Fluch aus einem heiteren Himmel, der immer noch verdächtig gelangweilt und friedlich aussah. Wie eine Frau, die es da-rauf abgesehen hat, einen Mann in den Wahnsinn zu treiben. El Conde wusste aber, dass all diese Umwege und Täuschungsmanöver das Tief nicht von seiner Mission und von seinem Ziel abbringen würden. Seit er seinen Weg auf der Wetterkarte verfolgte, fühlte er sich ihm merkwürdig verbunden. Das Scheißtief kommt direkt auf mich zu, dachte er, während er beobachtete, wie es sich näherte und immer gewaltiger wurde. Irgendetwas in der Atmosphäre oder am Tief selbst – garniert mit Wetterleuchten, begleitet von Federwolken, Kumuluswolken, tief hängenden Regenwolken, Stratuswolken, die jedoch nicht in der Lage sind, sich in einen Hurrikan zu verwandeln – ließ ihn die Zwangsläufigkeit und die wirklichen Absichten der Regenmassen und außer Kontrolle geratenen Winde erahnen, die das kosmische Schicksal mit der deutlichen Absicht erschaffen hat, über genau diese Stadt hinwegzufegen, sie einer heiß ersehnten und notwendigen Reinigung zu unterziehen. An jenem Abend war El Conde das tatenlose Warten leid, und er entschloss sich, den Wirbelsturm lautstark herbeizurufen. Ohne Hemd, die Hose nur halb zugeknöpft, die Batterien geladen mit Alkohol, der seine verborgensten Kräfte mobilisierte, stieg er durchs Fenster auf die Dachterrasse. Dort erwartete ihn ein angenehm warmer Herbstabend, an dem er beim besten Willen keinerlei Anzeichen für einen drohenden Zyklon entdecken konnte. Angesichts des trügerisch friedlichen Himmels vergaß er für einen Moment den Zweck seines Aufstiegs und ließ den Blick über das Viertel wandern, über all die Antennen, Taubenschläge, Wäscheleinen und Wassertanks, die ein schlichtes, ländlich anmutendes Alltagsleben widerspiegelten, von dem er sich jedoch irgendwie ausgeschlossen fühlte. Auf der einzigen Erhebung des Viertels leuchtete wie immer die rote Ziegeldachkrone des pseudoenglischen Schlosses, an dessen Bau sein Großvater Rufino El Conde vor nun beinahe einem Jahrhundert beteiligt gewesen war. Das hartnäckige Fortbestehen bestimmter Gebäude über das Leben ihrer Erbauer hinaus, die Tatsache, dass sie allen, auch den heftigsten Wirbelstürmen standhielten, den Hurrikanen oder Zyklonen oder Taifunen oder Tornados, war für ihn der einzig wirkliche Daseinsgrund. Denn was würde von ihm selbst übrig bleiben, wenn er sich in diesem Moment in die Lüfte erheben würde, so wie jene Taube, die er sich einmal ausgedacht hatte? Ewiges Vergessen, lautete die Antwort, völlige Leere wie die all der namenlosen Menschen, die über die gewundene schwarze Calzada gingen, beladen mit Plastiktüten und Hoffnungen oder mit leeren Händen und Köpfen, nichts ahnend von der Nähe der verheerenden, aber notwendigen Hurrikane, gleichgültig selbst gegenüber der Leere des Todes, ohne den Willen zur Erinnerung und ohne Zukunftsperspektiven; all jener Menschen, die von seinem verzweifelten Schrei, den er dem fernen Horizont entgegenschleuderte, aufgeschreckt wurden: »Komm jetzt endlich, verdammt noch mal!« So als schnitte er sich ins eigene Fleisch, empfand Mario den Schmerz des Korkens, der von der unerbittlichen Metallspirale durchbohrt wurde. Er versenkte den Korkenzieher bis zum Anschlag, präzise wie ein Chirurg und bemüht, alles richtig zu machen. Dann hielt er den Atem an und zog das Gerät vorsichtig wieder heraus. Der Korken glitt aus dem Flaschenhals wie ein Fisch am todbringenden Angelhaken aus dem Wasser. Alkoholgeruch drang ihm provozierend in die Nase. Er goss eine kräftige Dosis Rum in ein Glas und leerte es auf einen Zug. Wie ein Kosak, der sich von winterlichem Wolfsgeheul verfolgt fühlt. Melancholisch betrachtete er die Flasche. Sie war die letzte einer eilig angelegten Reserve. Drei Tage zuvor hatte der Ermittler Teniente Mario Conde das Gebäude der Kripozentrale verlassen, nachdem er sein Entlassungsgesuch unterschrieben und beschlossen hatte, sich zu Hause einzuschließen und an Rum, Zigaretten, Kummer und Groll zugrunde zu gehen. Er hatte sich immer vorgestellt, dass er, sollte er sich eines Tages einmal seinen Traum erfüllen und den Polizeidienst quittieren, eine Riesenerleichterung verspüren und anfangen würde zu singen, zu tanzen und, natürlich, zu trinken. Ohne Reue, ohne Blick zurück im Zorn, einfach nur, weil er endlich einen immer wieder aufgeschobenen Akt der Befreiung vollbracht hatte. In dieser Phase seines Lebens musste er sich eingestehen, dass er nicht genau wusste, warum er Ja gesagt hatte und zur Polizei gegangen war. Und genauso wenig konnte er sagen, warum er so lange gezögert hatte, aus jener Welt auszubrechen, in der er trotz aller Bemühungen, sich anzupassen, trotz all der Dinge, die auf ihn abgefärbt hatten, immer ein Fremder geblieben war. Vielleicht hatte er an dem Argument, er sei Polizist geworden, weil er nicht wolle, dass die Schweinehunde straflos davonkommen, so großes Gefallen gefunden, dass er es am Ende selbst glaubte. Möglicherweise hielt ihn auch seine Unfähigkeit, Entscheidungen zu treffen, die sein ganzes verpfuschtes Leben bestimmt hatte, in einer durch zweifelhafte Erfolge gekrönten Routine gefangen. Der Routine, Mörder zu fassen, Vergewaltiger, Diebe oder Betrüger, die ohnehin wieder rückfällig wurden. Die Hauptschuld daran, dass er seinen Willen zur Flucht so lange unterdrückt hatte, trug jedoch zweifellos Mayor Antonio Rangel, sein Chef in den letzten acht Jahren. Seine von vermeintlichen Spannungen und wirklichem Respekt geprägte Beziehung zum Alten hatte immer wieder eine aufschiebende Wirkung gehabt. Nie hätte er, das wusste er genau, den Mut aufgebracht, mit dem Entlassungsgesuch in Händen in das Büro im fünften Stock zu gehen. Deswegen hatte er auf Rangels Pensionierung gehofft. Der Alte war inzwischen achtundfünfzig und konnte sich in zwei Jahren zur Ruhe setzen. Am letzten Freitag jedoch waren sämtliche realen und fiktiven Abwehrmechanismen mit einem Schlage zusammengebrochen. Die Nachricht von der Entlassung des Mayors hatte sich wie ein Lauffeuer über die Korridore der Kripozentrale verbreitet. Als El Conde davon hörte, kroch ihm das brennende Gefühl von Angst und Ohnmacht den Rücken hinauf ins Hirn. Die häufig diskutierte, aber nie für möglich gehaltene Entlassung des Alten würde nicht das letzte Kapitel in der Geschichte von Verdächtigungen, Verhören und Disziplinarstrafen sein, denen die Ermittlungsbeamten der Zentrale vonseiten »interner Ermittler«, die im Hause herumspionierten, unterworfen waren. Eine Verletzung der Naturgesetze! In den langen Monaten der Inquisition hatte man Köpfe rollen sehen, die als unantastbar galten. Angst übernahm die Hauptrolle in einem Drama in drei Akten, das zur Farce geriet und offenbar bis zum bitteren Ende gespielt werden sollte. Einem Ende mit unvorhersehbaren Konsequenzen, das sogar ungeschriebene Gesetze außer Kraft setzen und heilige Kühe in den Abgrund reißen konnte. Mario Conde überlegte es sich nicht zweimal und beschloss, seine Kündigung einzureichen. Er wollte gar nicht hören, was in der Gerüchteküche an möglichen Gründen für die Suspendierung des Alten aufgekocht wurde. Er schrieb das Gesuch, bat um seine Entlassung »aus persönlichen Gründen«, wartete geduldig auf den Fahrstuhl, der ihn in den fünften Stock brachte, unterschrieb das Papier und überreichte es dem Offizier, der im Vorzimmer des Büros saß, das einmal das seines Freundes Antonio Rangel gewesen war und nie mehr sein würde. Aber anstelle...


Padura, Leonardo
Leonardo Padura, geboren 1955 in Havanna, zählt zu den meistgelesenen kubanischen Autoren. Sein Werk umfasst Romane, Erzählbände, literaturwissenschaftliche Studien sowie Reportagen. International bekannt wurde er mit seinem Kriminalromanzyklus Das Havanna-Quartett. Im Jahr 2012 wurde ihm der kubanische Nationalpreis für Literatur zugesprochen, 2015 erhielt er den spanischen Prinzessin-von-Asturien-Preis in der Sparte Literatur, 2023 den Pepe Carvalho Preis. Leonardo Padura lebt in Havanna.

Hartstein, Hans-Joachim
Hans-Joachim Hartstein, geboren 1949, übersetzt seit 1980 französisch- und spanischsprachige Literatur. Er hat u. a. Werke von Georges Simenon, Léo Malet, Luis Goytisolo, Juan Madrid, Marina Mayoral, Leonardo Padura und Ernesto Che Guevara ins Deutsche übertragen.



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