E-Book, Deutsch, 444 Seiten
Reihe: Blaue Reihe
Otto Die Wiederholung und die Bilder
unverändertes eBook der 1. Auflage von 2007
ISBN: 978-3-7873-2094-3
Verlag: Felix Meiner
Format: PDF
Kopierschutz: 1 - PDF Watermark
Zur Philosophie des Erinnerungsbewußtseins
E-Book, Deutsch, 444 Seiten
Reihe: Blaue Reihe
ISBN: 978-3-7873-2094-3
Verlag: Felix Meiner
Format: PDF
Kopierschutz: 1 - PDF Watermark
Seit der Antike haben sich Philosophen sehr aufmerksam und eindringlich mit 'memoria' und 'reminiscentia', mit Gedächtnis und Erinnerung beschäftigt. Erst in der Neuzeit und insbesondere in der Moderne ist das Thema "Erinnerung" zu einem Problemtitel geraten, und zwar wegen der Bilder, in denen unser Erinnern sich veranschaulicht. War es doch Immanuel Kant, der die fatale Behauptung aufgestellt hat: "wenn man den Begriff nicht von Bildern ablösen kann, wird man niemals rein und fehlerfrei denken können". Seitdem fällt es den Philosophen schwer, in und mit Bildern zu denken, und manche, zum Beispiel Edmund Husserl, wollten darum die Bilder aus der Erinnerung vertreiben. Das aber hat bedenkliche Folgen für unser Verständnis von Bewußtsein, Subjektivität und Personalität. Die Rede von der Erinnerungsvergessenheit der Philosophie ist jedenfalls nicht unbegründet - deshalb habe ich dieses Buch geschrieben. Und ich habe mich bemüht, es so zu schreiben, daß es auch für denjenigen noch lesbar bleibt, der im "Fach Philosophie" nicht zuhause ist; denn wer ein bewußtes Leben führen will, muß das im flüchtigen Strom seiner Erinnerungsbilder tun. Stephan Otto
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Erstes Kapitel
Der Konflikt zwischen »Bildern« und »Wörtern«
Kants Entwurf einer transzendentalen Philosophie des »Ich denke überhaupt« ebenso wie die an Kant (wenngleich kritisch, nämlich an der Idee eines monistischen »Systems« orientierten) Philosophien Hegels, Fichtes und Schellings haben in die europäische Geistesgeschichte einen tiefen Schnitt eingetragen, der nicht lediglich aus der Optik auf den durch diese Zäsur ermöglichten Gewinn betrachtet werden darf, sondern auch mit einem Blick auf die solchen Gewinn begleitenden Verluste. Denn neben dem von der »klassischen« deutschen Philosophie hell – und sogar bis zur Blendung überhell – ausgeleuchteten Weg zum »Selbstbewußtsein«, zur »absoluten Subjektivität« und zum »spekulativen Begriff« mußten andere Pfade des Denkens ins Dunkel geraten: nicht zuletzt die Pfade einer Reflexion über die memoria und ihre die erlebte Welt erinnernden Bilder, einer Reflexion mithin über unser Erinnerungs- und Bildbewußtsein. Schon Kant hatte derartige Pfade nicht verfolgen wollen, weil sie seiner Meinung nach (davon wird im zweiten Kapitel die Rede sein) nur in die »Psychologie« und zurück zur »Empirie« führen konnten. Mit welchen Schritten der Kantkritiker Hegel diese Pfade nun doch wieder betrat, aber zugleich als Zugänge zu seinem »System« neu kartographierte, soll in diesem ersten Kapitel untersucht werden: entlang den beiden in der Einleitung vorgeführten Sätzen Vicos und Hegels über memoria und Erinnerung im Gefälle der sematologischen Differenz zwischen Bild und Wort. Am Vorrang des Bildes vor dem Wortzeichen, an dem Giambattista Vico festhält (im ersten Abschnitt dieses Kapitels beschrieben) und demgegenüber am Vorrang der Zeichen und Wörter vor allen Bildern, für den Hegel votiert (im zweiten Abschnitt dargestellt), läßt sich nicht nur ein Ergebnis jener Zäsur abnehmen, mit der sich die klassische deutsche Philosophie von der (wie man um 1800 sagte) »vormaligen Metaphysik« distanzierte; darüber hinaus läßt sich an diesem Ergebnis verdeutlichen, welche neuen Fragestellungen eine philosophische Erkundung des Erinnerungsbewußtseins mit seiner Bilderwelt von nun an als für die philosophische »Theorie« irrelevant erscheinen ließen. Ich werde die These formulieren und begründen, daß mit der von Hegel vollzogenen »Aufhebung« der in Bildern arbeitenden memoria in ein von jedweder Bildlichkeit befreites, Er-Innerunggenanntes »In-sich-gehen des Geistes« das Thema »veranschaulichendes Erinnerungsbewußtsein« zu einem Trauma der Philosophie geraten ist – und das für lange Zeit. Im Ausgang von der Konfrontation des Vicoschen Denkmodells mit demjenigen Hegels wird im dritten Abschnitt dieses Kapitels die Grundlegung einer Philosophie des personalen Erinnerungsbewußtseins skizziert (das sechste und letzte Kapitel des Buches knüpft an diese Grundlegung an). Der umgangssprachliche Satz »ich erinnere mich« – strikt zu unterscheiden von dem Satz »ich habe Erinnerungen«, welcher der Analytischen Philosophie als Paradigma dient – soll im Hinblick auf seine philosophische Relevanz geprüft werden. Dabei gerät ein Darstellungsproblem in den Blick, insofern nämlich zu untersuchen ist, ob und wie das Ich in der Aussage »ich denke« im Ich derAussage »ich erinnere mich« darstellbar sein und zur Darstellung kommen kann – und zwar einzig im umgreifenden Gesamtgefüge der Person. Weder Kants transzendentales »Ich denke überhaupt« noch Hegels Konzept einer Er-Innerung als Insichgehen »des Geistes« eröffnen eine Perspektive auf die Darstellbarkeit ichbezüglichen »Selbstbewußtseins« im personalen Erinnerungsbewußtsein, im Sich-erinnern einer Person. Die Frage nach dem Modus, in dem die Aussage »ich denke« zu der Aussage »ich erinnere mich« sich verhält (oder die Frage, in welcher Weise das Denken einer Person, die sich als »Ich« bezeichnet, sich auf das »Ich« in dem von Bildern durchzogenen Sicherinnern dieser Person bezieht) wird damit zu einer für die Philosophie des Erinnerungsbewußtseins basalen Frage. * * * I. Die Option Vicos: memoria und ingenium oder vom Vorrang der Bilder
Ebenso wie Hobbes seinem Leviathan hat Vico der Neuen Wissenschaft ein Bild vorangestellt: die berühmte »dipintura« der Metaphysik, der »Frau mit den geflügelten Schläfen« (SNS § 2). Aber der Text, den Hobbes schrieb, ist lesbar und verständlich, ohne daß man sein Frontispiz betrachten müßte; denn der abgebildete Leviathan »illustriert« lediglich die Überlegungen, die Hobbes in geschriebene Wörter längst gekleidet hat. Ganz anders Vicos »dipintura«: wer sie nicht aufmerksam betrachtet, dem muß die Scienza Nuova unverständlich bleiben. Deren Idee ist nämlich mit dem Bild der »Dame Metaphysik« nicht zusätzlich und nachträglich erläutert; vielmehr gründet sich die gesamte Textur des von seinem Verfasser immer wieder überarbeiteten Buches auf dieses von allem Anfang an in den Blick zu nehmende Bild. Vico selber betont das, schon in seinen ersten Sätzen: das Bild »soll dem Leser helfen, die Idee dieses Werkes vor der Lektüre zu erfassen, um sie nach der Lektüre mit Hilfe der Phantasie leichter im Gedächtnis zu behalten« (SNS § 1). Wir horchen auf: einmal, weil memoria und fantasia die Bühne der Neuen Wissenschaft schon in der ersten Szene betreten, und sodann, weil Vico doch nichts anderes sagt als: am Anfang aller lesbaren geschriebenen Wörter steht ein Bild. Und daß artikulierte Wörter von anschaulichen Bildern auch immer herkommen, gerade dies will Vicos »neue« Wissenschaft ja dartun. Man denke nur an die universali fantastici, an jene Bildschöpfungen des Mythos, in denen die Scienza Nuova den Urgrund aller rationalen Sprache mit ihren zu Texten geronnenen Wörtern erblickt. Am Anfang aller Wörter, die wir hören oder sprechen, stehen Bilder, die wir malen und sehen – wie das Bild des donnernden Jupiter, das in der Geschichte der Kultur allererste vom menschlichen Geist »erfundene« Bild (SNS § 377). An den Vorrang der Bilder will Vico erinnern, und seine eingangs zitierten Sätze über die memoria zunächst als Wiedererinnerung, dann als bildschaffende Phantasie und schließlich als ordnendes Ingenium werden überhaupt nur anhand dieser Führungslinie wirklich verständlich. Wir müssen darum dieser Führungslinie aufmerksam folgen – zurück zur »dipintura« und weiterschreitend zu ihrer Auslegung in Vicos ganzem Werk –, um seiner Philosophie der Erinnerung und der erinnernden Bilder auf die Spur zu kommen. Das Frontispiz der Scienza Nuova ist nicht lediglich ein Bild, das »etwas« darstellt: die Gestalt der Metaphysik in ihrer »ekstatischen Haltung«; das Auge Gottes »mit dem Blick seiner Vorsehung«; die Statue des Homer, des »wahren« Homer, der für Vico keine historische Person ist, sondern wiederum ein Bild, ein Bild nämlich, in welchem die in der memoria der Griechen aufbewahrten Erzählungen von den Heroen Achill und Odysseus sich spiegeln, Erzählungen, die von Mund zu Mund gingen, weil die Wörter der Schrift noch gar nicht erfunden waren. Erst Vicos »Metaphysik des menschlichen Geistes« vermag diesen »wahren Homer« zu sehen, und von ihr erst wird gesehen, wer und was der »wahre« Homer wirklich war. Ein Bild nun, das Dinge und Figuren darstellt, ist die »dipintura« zwar auch, aber nicht nur. Denn darüber hinaus ist sie ein »Bild der Bilder« oder ein Bild, das jene zwei Momente enthält, aus denen die »Bildlichkeit« eines jeden Bildes besteht: aus dem Sehen und dem Gesehenwerden – aus der »Reflexivität« mithin des Bildes. Man muß dieses Frontispiz nur genauer betrachten als es üblicherweise geschieht: da können die philosophischen Blicke der Metaphysik dem Vorsehungsblick Gottes entgegensehen, weil der Lichtstrahl aus dem alles übersehenden göttlichen Auge längst den »konvexen Edelstein« getroffen hat, mit dem die Dame Metaphysik »ihre Brust schmückt« (SNS § 5). Und dieser Edelstein reflektiert jetzt den ewigen Blick des göttlichen Vorhersehens gebrochen in die Zeit und die Menschengeschichte hinein – auf Homer, das Spiegelbild des »heroischen Zeitalters« (SNS § 808). Vicos Frontispiz ist das Bild eines »Denkens in Bildern«, wie die Neue Wissenschaft es nicht minder deutlich vorführt, indem sie in die Mitte ihrer Geistestriade memoria-fantasia-ingegno ein Vermögen rückt, das Bilder erzeugt. Genauer noch: das Bilddenken Vicos in der Scienza Nuova ist ein Denken der Reflexivität des »Sehens« und des »Gesehenwerdens«, und als solches trägt es auch seine metafisica della mente umana. »Der menschliche Geist«, so lautet ein Axiom im ersten Buch der Neuen Wissenschaft, das deren »Prinzipien« enthält, »neigt wegen der Sinne natürlicherweise dazu, sich selbst draußen, im Körper zu sehen, und nur unter großen Schwierigkeiten mittels der Reflexion sich selbst zu begreifen« (SNS § 236). Was hier mit »Reflexion« gemeint ist, hat nichts zu tun mit jenem Streit um die »Reflexionsphilosophie«, den die »klassischen« deutschen Philosophen austrugen. Vicos Axiom erklärt sich aus seinem »Denken in Bildern« und besagt: der menschliche Geist begreift sich selbst einzig dann, wenn er das »natürliche Sehen« des von Platon gemalten Bildes seiner Gebanntheit in den Leib »zurückwendet« zu einem Hinsehen auf sich selber, zu...