Osterhammel / Jansen | Kolonialismus | E-Book | sack.de
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E-Book, Deutsch, Band 2002, 144 Seiten

Reihe: Beck'sche Reihe

Osterhammel / Jansen Kolonialismus

Geschichte, Formen, Folgen

E-Book, Deutsch, Band 2002, 144 Seiten

Reihe: Beck'sche Reihe

ISBN: 978-3-406-78262-6
Verlag: C.H.Beck
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark



Koloniale Herrschaft war ein herausragendes Merkmal der Weltgeschichte zwischen etwa 1500 und 1975. Die Autoren schildern an Beispielen aus allen Kolonialreichen der Neuzeit Methoden der Eroberung, Herrschaftssicherung und wirtschaftlichen Ausbeutung, Formen des Widerstands, das Entstehen besonderer kolonialer Gesellschaften, Spielarten kultureller Kolonisierung sowie die Grundzüge kolonialistischen Denkens und von Kolonialkultur, deren anhaltende Wirkung wieder stark diskutiert wird.
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I. «Kolonisation» und «Kolonien»
«Kolonialismus» ist heute so präsent wie lange nicht mehr. Debatten um Ungleichheit und Ausgrenzung – ganz gleich, ob innergesellschaftlich, zwischenstaatlich oder global – landen immer wieder bei «Kolonialismus» als einem Erbe der Vergangenheit, das die Gegenwart auf vielfältige Weise durchwirkt. Als Fluchtpunkt gegenwärtiger Selbstverständigung taucht «Kolonialismus» zumeist entweder in Gestalt konkreter historischer Ereignisse auf oder aber als ein quasi geschichtsenthobener Begriff für Fremdbestimmung, Rassismus, weiße Vorherrschaft und illegitime Aneignung. Was zwischen historischem Schlaglicht und ahistorischer Abstraktion indes zu verschwinden droht, ist «Kolonialismus» als Strukturelement der neueren Geschichte. Bei Kolonialismus handelt es sich nach heutigem Menschenrechtsverständnis und Moralempfinden um eine systematische Verletzung des – so hat es die UN-Vollversammlung am 24. Oktober 1970 formuliert – «unveräußerlichen Rechts aller Kolonialvölker auf Selbstbestimmung, Freiheit und Unabhängigkeit».[1] Diese juristische und moralische Zurückweisung kann jedoch die Faktizität von kolonialen Verhältnissen nicht aus der Welt schaffen. Kolonialismus gehört in ähnlicher Weise zur Vergangenheit wie beispielsweise die nicht weniger verwerflichen Phänomene Krieg oder Sklaverei. Das ist gemeint, wenn wir von einem historischen «Strukturelement» sprechen. Welches sind die Merkmale von «Kolonialismus», die ihn aus der Menge der in der Weltgeschichte bekannten Herrschaftsbeziehungen und Expansionsprozesse hervorheben? Anders gefragt: Wie kann ein hinreichend trennscharfer historischer Begriff von «Kolonialismus» aussehen? Wie situiert man den Begriff in Beziehung zu «Kolonisation» und «Kolonie», zu «Imperialismus» und «europäischer Expansion»? Wie lässt sich die Besonderheit neuzeitlicher Kolonisierung und Koloniebildung konzeptionell erfassen? Historikerinnen und Historiker sind von Einvernehmen über diese Fragen weit entfernt. Anders als zu «Imperialismus» gibt es zu zeitgenössischen und modernen Vorstellungen von «Kolonialismus» nur wenige begriffsgeschichtliche Untersuchungen. Unter die 119 «geschichtlichen Grundbegriffe», die ein maßgebliches Wörterbuch zusammengestellt hat, ist das Stichwort nicht aufgenommen worden.[2] Während man Lehrbücher über die verschiedenen «Imperialismustheorien» geschrieben hat, fehlt es an vergleichbaren Übersichten zu Theorien des Kolonialismus. Sollten solche Theorien auf die gesamte Weltgeschichte anwendbar sein? Wir wollen dies nicht grundsätzlich ausschließen, folgen aber dem Althistoriker Sir Moses Finley, wenn dieser Kenner der antiken Städtegründung und Reichsbildung für eine genaue begriffliche Bestimmung des spezifisch neuzeitlichen Kolonialismus plädiert und die Übertragung des Konzepts auf Altertum und Mittelalter für problematisch hält.[3] Worum geht es? Irgendwann zwischen etwa 1500 und 1920 geriet die Mehrzahl der Räume und Völker der Erde unter die zumindest nominelle Kontrolle von Europäern: ganz Amerika, ganz Afrika, nahezu das gesamte Ozeanien und – berücksichtigt man auch die russische Kolonisation Sibiriens – der größere Teil des asiatischen Kontinents. Die koloniale Wirklichkeit war vielgestaltig, widerspenstig gegenüber anmaßenden imperialen Strategien, geprägt von den lokalen Verhältnissen in Übersee, von den Absichten und Möglichkeiten der einzelnen Kolonialmächte, von großen Tendenzen im internationalen System. Kolonialismus muss von all diesen Aspekten her gesehen werden, vor allem aus der Warte der Beteiligten und Betroffenen vor Ort. Die beste Forschung der letzten Jahrzehnte hat sich mit den Kolonisierten beschäftigt, ihren Erfahrungen, ihrem Leiden und ihrem Widerstand. Je mehr man sich auf lokale Details einlässt, desto schwieriger werden allerdings Verallgemeinerungen. Doch selbst wenn man es sich einfach macht und der noch nicht verschwundenen Gleichsetzung von Kolonialismus und Kolonialpolitik folgt, verwirrt die Unübersichtlichkeit der kolonialen Arrangements. Nicht nur das umfassendste aller modernen Weltreiche, das Britische Empire, war ein aus Improvisationen entstandener Flickenteppich von Ad-hoc-Anpassungen an besondere lokale Umstände. Selbst über das dem eigenen Anspruch nach cartesianisch durchrationalisierte französische Kolonialimperium hat einer seiner maßgebenden Historiker sagen können: «In Wahrheit gab es ein koloniales System nur auf dem Papier.»[4] Kolonialismus ist ein Phänomen von kolossaler Uneindeutigkeit. Formen der Expansion in der Geschichte
Die Vielgestaltigkeit kolonialer Realitäten bedeutet nicht, dass man darauf verzichten sollte, sie konkret zu identifizieren. Solche Genauigkeit ist schon aus praktischen und politischen Gründen dringend geboten. Wenn etwa Museumsobjekte, die aus «kolonialen Kontexten» stammen, an ihre ursprünglichen Eigentümer bzw. deren Nachfahren zurückgegeben («restituiert») werden sollen, dann muss sich klären lassen, wer wann wessen «Kolonie» war. Man braucht also trotz der Uneindeutigkeit des Phänomens «Kolonialismus» begriffliche Werkzeuge, die so trennscharf sind, wie es irgend geht. Wir beginnen mit einem definitorischen Dreischritt: «Kolonisation» bezeichnet einen Prozess der Landnahme und Aneignung, «Kolonie» eine besondere Art von politisch-gesellschaftlichem Personenverband, «Kolonialismus» ein Herrschaftsverhältnis. Das Fundament aller drei Begriffe ist die Vorstellung von der Expansion einer Gesellschaft über ihren ursprünglichen Siedlungsraum hinaus. Derlei Expansionsvorgänge sind ein Grundphänomen der Weltgeschichte. Sie treten in sechs Hauptformen auf: (1) Totalmigration ganzer Völker und Gesellschaften: Völkerwanderungen. Größere menschliche Kollektive, die sesshaft sind, also im Normalfall keine mobile Lebensweise als Jäger oder Hirtennomaden praktizieren, geben ihre ursprünglichen Siedlungsräume auf, ohne Muttergesellschaften zu hinterlassen. Die Expansion ist meist mit militärischer Eroberung und Unterwerfung von Völkern in den Zielregionen verbunden, zuweilen auch mit deren Verdrängung. Ihre Ursachen sind vielgestaltig: Übervölkerung, ökologische Engpässe, Druck expandierender Nachbarn, ethnische oder religiöse Verfolgung, Verlockung durch reiche Zivilisationszentren usw. Dieser Expansionstyp des Exodus, auf allen Kontinenten bekannt, führte in der noch nicht nationalstaatlich formierten Welt oft zu neuen Herrschaftsbildungen von schwankender Dauerhaftigkeit. Es handelt sich dabei per definitionem nicht um Kolonien, da kein steuerndes Expansionszentrum zurückbleibt. Totalmigrationen sind in der Geschichte des 19. und 20. Jahrhunderts selten; als ein Sonderfall können die Deportationen, also Zwangsumsiedlungen, ganzer Völker unter dem Stalinismus Anfang der 1940er Jahre gelten. Ein relativ spätes Beispiel für eine freiwillige Kollektivmigration ist der Auszug der Kap-Buren ins Innere Südafrikas auf dem Großen Trek (1834–?1854) mit der folgenden Errichtung der burischen Gemeinwesen Oranje-Freistaat und Transvaal: freilich kein reiner Fall, da die Mehrheit der Buren am Kap zurückblieb, ohne gegenüber den Treckburen als steuerndes Zentrum zu fungieren. (2) Massenhafte Individualmigration: die klassische «Auswanderung» im weitesten Sinne. Dabei verlassen Individuen, Familien und kleine Gruppen aus vorwiegend wirtschaftlichen Motiven ohne Rückkehrabsichten ihre Heimatgebiete. Anders als bei der Totalmigration bleiben die Herkunftsgesellschaften strukturell intakt. Die Individualmigration erfolgt meist als ein Expansionsvorgang zweiter Stufe innerhalb bereits etablierter politischer und weltwirtschaftlicher Strukturen. Die Emigrantinnen und Emigranten schaffen keine neuen Kolonien, sondern werden auf unterschiedliche Weisen in bestehende multi-ethnische Gesellschaften eingegliedert. Oft finden sie sich in «Kolonien» im übertragenen Sinne zusammen: in identitätssichernden soziokulturellen Enklaven, zum Beispiel «Chinatowns», wie sie im 19. Jahrhundert in vielen Ländern entstanden, in deren Ökonomien chinesische Arbeitskräfte eingesetzt wurden. Der Grad von Freiwilligkeit oder Erzwingung solcher Migration ist eine Variable innerhalb dieses Typus. Deshalb ist ihm nicht nur die europäische Auswanderung im 19. und 20. Jahrhundert in die Amerikas und in die übrigen Siedlungskolonien des Britischen Empire zuzuordnen, sondern auch die durch den Sklavenhandel verursachte Zwangsmigration von Afrika nach Amerika...


Jürgen Osterhammel ehrte bis 2018 Neuere Geschichte an der Universität Konstanz.

Jan C. Jansen lehrt Globalgeschichte am Historischen Institut der Universität Duisburg-Essen.


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