E-Book, Deutsch, 300 Seiten
Ortuño Die Verschwundenen
1. Auflage 2019
ISBN: 978-3-95614-303-8
Verlag: Kunstmann
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
E-Book, Deutsch, 300 Seiten
ISBN: 978-3-95614-303-8
Verlag: Kunstmann
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Wie ein skrupelloser Bauunternehmer mit Bestechung, Erpressung und Mord seine Ziele durchzusetzen versucht und in Kauf nimmt, dass die eigene Familie daran zerbricht: In seinem grandiosen Roman zeichnet Ortuño ein erschütterndes Sittenbild des heutigen Mexiko, in dem Korruption und Gewalt allgegenwärtig sind.
Der Bauunternehmer Don Carlos Flores plant in Guadalajara eine luxuriöse Wohnanlage, für die er schon einen Namen hat, Olinka, und auch Investoren. Er muss sich für dieses Projekt, das ihn und seine Familie noch reicher machen soll, nur noch den Grund und Boden aneignen. Und die Leute vertreiben, die dort wohnen. Dazu ist ihm jedes Mittel recht. Viele gehen nach Schikanen freiwillig, aber zwei Familien lassen sich nicht vertreiben und die sind plötzlich verschwunden. Gleichzeitig wird Don Carlos der Geldwäsche für die Drogenbosse aus dem Norden Mexikos beschuldigt und Journalisten recherchieren, wo die Verschwundenen geblieben sind. Alle Spuren weisen auf Don Carlos, der den Kopf aus der Schlinge zieht und seinen Schwiegersohn, Aurelio Blanco, als Bauernopfer den Behörden ausliefert. Ohne zu ahnen, wofür er eigentlich benutzt wird, deckt ihn Aurelio bereitwillig. Doch mit 15 Jahren Haft hat er nicht gerechnet. Als man ihn freilässt, sucht er Gerechtigkeit. Wird es sie für ihn geben?
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GERECHTIGKEIT, WEISHEIT UND STANDHAFTIGKEIT
Irgendwann fing sie an, ihn »Hund« zu nennen, aber das war später, als sie intim wurden. Zunächst waren sie einfach nur Nachbarn und sprachen kaum miteinander. Sie gingen in verschiedene Schulen, Alicia war älter. Nachdem Yeyos Vater gestorben war, mietete seine Mutter das kleine Haus, das Alicias Eltern auf ihrem Grundstück gebaut hatten, um Miete zu kassieren und sich außerdem die Kosten für die Pflege des riesigen Gartens zu sparen. Alis Eltern waren dabei, reich zu werden. Sie betrieben ein Bauunternehmen. Dennoch hatten sie fortschrittliche Ideen (wenn auch nicht sehr viele), die man bei Leuten mittleren Alters aus Guadalajara nicht vermutet hätte. So entsetzte es Don Carlos Flores zum Beispiel, dass Yeyo mit einem Luftgewehr hantierte. Der Junge sollte nicht herumballern, sagte er zu María, seiner Frau. Die nickte zustimmend und ging durch die Gartentür zum Häuschen, um sich bei Yeyos Mutter zu beschweren. Doch sie fand kein Gehör und erreichte nicht, dass der Junge sein Verhalten änderte. Mit seinen dreizehn Jahren war Yeyo imstande, auf fünfzig Meter den Kopf einer Ratte zu zerschmettern. In der Schule war Ali ein Star. Die Wand ihres Zimmers war mit Diplomen und Medaillen für schulische Erfolge tapeziert. Niemand konnte wie sie rezitieren, auswendig lernen und rechnen, ohne die Finger zu Hilfe zu nehmen oder die Lippen zu bewegen. Sie kannte den Namen und die persönlichen Daten jeder Persönlichkeit auf den Geldscheinen und Münzen, die im Umlauf waren, und lernte in einer einzigen Unterrichtsstunde, mit der Tabelle des Periodensystems umzugehen. Außerdem hatte sie schwarz glänzendes Haar, Rehaugen und einen geradlinigen, aufrichtigen Blick, der jeden für sie einnahm. Auf Schulfesten ließ man sie das Schneewittchen spielen, und seit der Mittelstufe wurde sie mit Einladungen ins Kino oder ins Einkaufszentrum überschüttet. Dennoch langweilte sie sich. Sie war fast drei Jahre älter als Yeyo, und obwohl der Nachbarsjunge bei ihr zu Hause ein und aus ging (er wusch für zwanzig Pesos die Autos der Flores oder erledigte für Süßigkeiten oder ein Sandwich kleine Besorgungen), war es so, als wäre er gar nicht anwesend. Im Grunde war Yeyo einer von den vielen dünnen, pickligen Jungen, die für ihre Eltern etwas erledigten, einer mit kahl rasiertem Schädel (damit der Haarschnitt so wenig wie möglich kostete), ausgeblichenen Hosen und Schwielen am Zeigefinger vom vielen Schießen auf Ratten. Yeyos Mutter war Anästhesistin. Wenn sie die Gelegenheit hatte, Überstunden zu machen, arbeitete sie manchmal zwei Schichten hintereinander. So konnte der Junge nach Schulschluss unbeaufsichtigt mit dem Gewehr über der Schulter durch den Garten streifen oder ganze Nachmittage einen Ball wie besessen gegen die Hauswand schießen. Er war wie ein stummes Tier, und das machte ihn unsichtbar. Zu Festen wurde er nur eingeladen, wenn irgendeine exzentrische Mutter darauf bestand, dass die gesamte Klasse ihrem Kind ein Geburtstagsständchen brachte. Auch er langweilte sich. Im Sommer ging alles um ihn herum gemächlicher zu. Und eigentlich hatte Yeyo nichts zu tun. Seine Mutter arbeitete. Anita, seine ältere Schwester, Tochter aus erster Ehe, war, schon lange bevor sie dort eingezogen waren, zum Studium in die Hauptstadt gegangen und besuchte sie mit der Häufigkeit eines Kometen (überzeugt davon, dass Yeyo das Ergebnis einer unerklärlichen Laune ihrer Mutter war, hasste sie ihn von Anfang an). Yeyo feierte seinen vierzehnten Geburtstag in Gesellschaft einer Torte. Er hatte sie auf dem Esstisch vorgefunden, als er zum Frühstück hinuntergegangen war. Seine Mutter war ins Krankenhaus gegangen, ohne ihm einen Kuss zu geben, hatte ihrem Geschenk aber eine Glückwunschkarte beigelegt, immerhin. Don Carlos, dem der verwaiste Junge leidtat, hatte ihm am Abend zuvor, als er und seine Frau aus der Firma heimgekommen waren, einen neuen Fußball vor die Tür gelegt. Der Junge hatte vorgehabt, den Sommer mit Jagen zu verbringen, doch die Ratten schienen begriffen zu haben, was es bedeutete, wenn er auf der Bildfläche erschien, und zogen es vor, sich im Gestrüpp zu verstecken, außerhalb der Reichweite seines Luftgewehrs. Also musste er sich damit begnügen, den geschenkten Ball gegen die Wand zu schießen. Immer wieder. Plopp. Plopp. Plopp. Und wieder: Plopp. Plopp. Plopp. So sah ihn eines Morgens Ali, die damals schon fast siebzehn Jahre alt war. Jetzt spielt der verrückte Junge schon wieder mit seinem verdammten Ball, dachte sie ärgerlich, als sie das Plopp-Plopp des Lederballs hörte, der zwischen der Wand und den Stollenschuhen hin- und herpendelte. Plopp. Eine Sekunde Stille. Plopp. Eine weitere Sekunde. Plopp. Und wieder von vorn. Plopp. Am Abend zuvor hatte Ali sich mit Jacobo, dem aussichtsreichsten ihrer Verehrer, gestritten. Jacobo war groß und breit wie ein Schrank und hatte ein hübsches Gesicht wie sie. Doch trotz seiner Vorzüge war er ein Dummkopf. Das dachte sie. Anstatt sie ins Kino einzuladen und zu küssen, was sie nach Wochen verliebter Botschaften auf Zettelchen und heim lichen Betatschens erwartete, hatte Jacobo sich mit ihr vor der Schule verabredet, die wegen der Sommerferien geschlossen war, um ihr mitzuteilen, dass er sich für ein Ferienlager in den Bergen angemeldet habe und zwei Wochen nicht da sein werde. »Wir hatten nichts vor, und meine Brüder fanden die Idee gut.« Er sagte das so, als hätte er nichts mit der Entscheidung zu tun. Das war das Schlimmste, dachte Ali. So ein verdammtes Rindvieh. Anstatt sich zu entschuldigen, behauptete Jacobo, er könne auf keinen Fall von der Reise zurücktreten. Ein Onkel von ihm habe einen Haufen Geld für die Anmeldung und eine weitere Summe für die Verpflegung bezahlt. Ali war so wütend auf ihn, dass sie ihm am liebsten ins Gesicht gespuckt hätte. Sie rannte nach Hause, ohne ihn zu Ende anzuhören. Zwei volle Wochen. Sie schnaubte. An jenem Morgen war Ali allein zu Hause. Sie bereitete sich eine Schale Schokoladenmüsli mit Marshmallows zu und übergoss das Ganze mit Milch. Plopp. Plopp. Der verrückte Junge drosch wieder auf seinen Ball ein. Sie sah ihm durchs Fenster zu. Plopp. Er kam ihr nicht mehr so dünn vor wie beim letzten Mal, als sie ihn beobachtet hatte. Plopp. Sie hatte ihn hagerer in Erinnerung, kleiner, nackt in der Sonne, neben dem Bottich im Garten hinterm Haus, den Kopf gesenkt, während seine Mutter ihn mit einer Tinktur gegen Läuse einrieb. Plopp. Die Rippen des Jungen waren damals hervorgetreten, und er hatte noch keine Haare zwischen den Beinen gehabt. Plopp. Wie viele Jahre waren seitdem vergangen? Vielleicht drei? Fünf? Plopp. Wie eine Lawine rauschte der Gedanke ihren Körper hinab, zog ihr den Magen zusammen und ließ sie die Pobacken zusammenpressen. Plopp. Yeyo war das ideale Objekt, um sich an Jacobo zu rächen. Plopp. Man musste ihn nur dazu bringen. Plopp. Aber warum sollte es ihr nicht gelingen, ihn zu verführen, wo sie doch die Königin des Periodensystems war, das Schneewittchen der Schule? Plopp. Sie wusch sich Gesicht und Hände im Spülbecken der Küche und trocknete sich mit dem Geschirrtuch ab, wobei sie den Duft nach Waschmittel einatmete, der ihm entströmte. Ihr Magen war in Aufruhr, und sie genoss das Gefühl. Sie ging in Bluse und Slip in den Garten, barfuß, mit offenen Haaren. Sie stellte sich hinter den Gartenzaun, geschützt vor den Blicken der Straße, wie sie meinte. Doch es war mehr als wahrscheinlich, dass man ihre Beine und Hüften durch die Spalten zwischen den Holzlatten sehen konnte. Plopp. Das letzte Mal, dass sie mit Yeyo gesprochen hatte, musste rund fünf Monate her sein. Vielleicht sechs. Plopp. Sie hatten ein paar Worte miteinander gewechselt, in der Küche, wo es nach den Hotdogs roch, die Don Carlos kurz zuvor vom Grill genommen hatte, um den Nachbarsjungen dafür zu belohnen, dass er für ihn Zigaretten aus dem Krämerladen geholt hatte. Plopp. »Magst du gerne so viel Ketchup?«, fragte sie, als sie sah, wie er die Flasche über sein Brot hielt und immer wieder auf den Flaschenboden klopfte, so als wollte er einen Ertrunkenen wiederbeleben. Er wurde verlegen, fühlte sich ertappt, und errötete. Plopp. Und das nur, weil man das Wort an ihn gerichtet hatte. Das Plopp hörte auf. Yeyo hatte sie bemerkt. Sein Gesicht wurde natürlich feuerrot, was er zu verbergen suchte. Die Schirmmütze bedeckte seinen verlegenen Blick. »Hör mal, Junge«, sagte Ali mit einer Stimme, die ihr selbst fremd vorkam, »du musst mir helfen. Komm.« Plopp. Der Ball fiel zu Boden, rollte ein paar Meter über den Kiesweg und machte einen kleinen Hüpfer, bevor er liegen blieb. Ein letztes Plopp. Yeyo folgte ihr mit gesenktem Blick. Sie wollte glauben, dass er ihren wiegenden Gang aus den Augenwinkeln bewunderte. Sobald er die Küche betreten hatte, schloss sie die Tür. Dann ging sie resolut, wie eine erwachsene Frau, in den Salon voran. Ihr Atem, das Platschen ihrer nackten Füße auf dem Fliesenboden und die staubigen, ungelenken Schritte seiner Stollenschuhe. Sonst nichts. Eine Fliege umkreiste ihr Ohr, Ali verscheuchte sie mit der Hand. Es war sehr heiß. Sie fühlte, wie sie zwischen ihren Oberschenkeln zu schwitzen begann. Vielleicht. Sie setzte sich auf das Sofa, vor dem der Fernseher stand, und streckte die...