E-Book, Deutsch, 208 Seiten
Opitz-Kittel Mama lernt Liebe
1. Auflage 2020
ISBN: 978-3-96121-520-1
Verlag: mvg
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Wie ich als autistische Mutter gelernt habe, meinen Kindern Gefühle zu zeigen
E-Book, Deutsch, 208 Seiten
ISBN: 978-3-96121-520-1
Verlag: mvg
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Als Birke Opitz-Kittel ihre Autismus-Diagnose erhält, ist sie bereits Mutter von fünf Kindern. Endlich versteht sie, warum das Leben für sie nie einfach war. Sie hat sich als Kind immer als Außenseiterin gefühlt, was sich auch als Erwachsene nicht geändert hat.
Als Autistin fällt es ihr schwer, Emotionen zu zeigen und gängige Verhaltensregeln intuitiv nachzuvollziehen. Trotz dieser Schwierigkeiten lernt sie aber, eine innige Bindung zu ihren Kindern aufzubauen: Sie liest Erziehungsratgeber, beobachtet Mütter auf den Spielplätzen und sucht nach rationalen Begründungen für emotionale Bedürfnisse.
Berührend und eigenwillig erzählt Birke Opitz-Kittel, wie sie auch als Außenseiterin einen Ort gefunden hat, an dem sie ganz sie selbst sein darf: ihre Familie.
Mit diesem Buch macht sie allen Mut, das eigene Leben zu leben, auch wenn es »anders« ist als die Norm.
Autoren/Hrsg.
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Ich bin anders
Jeden Morgen, wenn ich erwache, kommt es mir immer noch wie ein kleines Wunder vor. Noch immer erwarte ich, dass jemand »Mama« ruft, vielleicht mich sogar aus dem Schlaf reißt wie die vielen Jahre zuvor. Doch nichts passiert. Mein ältestes Kind ist bereits vor einigen Jahren ausgezogen. Die Kinder, die noch zu Hause wohnen und inzwischen schon 15, 17, 20 und 21 Jahre alt sind, wachen selbstständig auf. Kein Quengeln, dass es doch noch so früh sei, kein »Ich möchte aber nicht in die Schule«, kein Streit um das Badezimmer. Nichts. Wenn ich heute erwache, ist Ruhe. Mein Mann schaut nach den Kindern, die sich ihr Frühstück allein zubereiten. Dabei isst jeder etwas anderes. Auf dem Speiseplan steht für Jonas, unseren Zweitältesten, Müsli; Miriam, unsere Drittälteste, isst Joghurt mit Banane; Lilly, die Viertälteste, glutenfreies Brot mit Teewurst; und »Nesthäkchen« Angelina ernährt sich gerne besonders bewusst mit Zutaten, die ich selbst nie verwenden würde. Das ist eines unserer Geheimnisse. Es wird respektiert, wenn jemand andere Dinge essen mag oder sogar allein im Zimmer essen möchte. So, wie Jonas und ich es am liebsten tun. Und immer wieder frage ich mich, wie mein Mann und ich beziehungsweise die ganze Familie das hinbekommen haben – gerade mit unserem besonderen Hintergrund, denn unsere Familie ist anders als andere Familien. Wir haben nicht nur ein autistisches Kind, sondern auch ich als Mutter bin Autistin. Allerdings habe ich diese Diagnose erst mit 37 Jahren erhalten. Mit ihr wurde mir endlich bewusst, weshalb ich anders als andere Mütter und überhaupt als andere Menschen bin – mein Gehirn verarbeitet Situationen ganz anders und mir fällt es schwer, die richtigen Gefühle bei anderen zu erkennen und dementsprechend zu handeln. Lange habe ich mich gefragt, was mit mir nicht stimmt, da ich natürlich gemerkt habe, dass ich nicht so bin wie meine Mitschüler oder Arbeitskollegen. Die Diagnose war für mich wie eine rettende Erkenntnis. Ich kann seitdem so vieles besser verstehen. Meine Familie und ich können mein Handeln und meine Reaktionen in bestimmten Situationen besser einordnen. Und ich kann gezielt an mir arbeiten – nicht, weil ich »falsch« bin, sondern, weil es mir für meine Familie wichtig ist. Vor ungefähr 15 Jahren sah das alles noch ganz anders aus. Meine jüngste Tochter Angelina war gerade geboren – ein Frühchen. Es war tiefster Winter und bitterkalt. Dennoch musste ich mit ihr jeden Morgen in die Kälte. Mein ältestes Kind musste zur Schule, Jonas wurde jeden Morgen pünktlich um 7:45 Uhr mit einem Bus an der Straße abgeholt, um in die Schulvorbereitende Einrichtung (SVE) gebracht zu werden, Miriam ging in den Kindergarten und Lilly, die gerade zwei Jahre alt war, und Angelina mussten wohl oder übel mit mir und ihren Geschwistern nach draußen. Rechtzeitig an Ort und Stelle zu sein, erforderte viel Organisation. Unser morgendlicher Zeitplan war bis auf die letzte Minute getaktet und es durfte nichts Unvorhergesehenes geschehen, das unseren Zeitplan durcheinandergebracht hätte. Jeder musste »funktionieren«. Mein Mann kam vom Nachtdienst erst wieder nach Hause, wenn ich vom Kindergarten zurückkam. Dass er nur im Nachtdienst arbeitete, hatte zwei Gründe. Erstens gefiel es ihm selbst besser, in der Nacht überwiegend allein selbstständig zu arbeiten, aber der zweite und noch wichtigere Punkt war: So war immer jemand von uns Eltern zu Hause. Selten verging eine Woche, in der es nicht irgendeinen Anruf von einer Stelle gab: sei es die Schule, die SVE oder der Kindergarten. Entweder wurde eines der Kinder krank oder es ging um Termine, die der Kinder wegen eingehalten werden mussten und bei denen man nicht alle Kinder mitnehmen konnte. Beispielsweise gab es regelmäßigen Kontakt mit dem Jugendamt wegen Jonas, der wegen seiner Auffälligkeiten zunächst in die SVE ging, anschließend in eine heilpädagogische Tagesstätte und später noch in ganz andere Einrichtungen. Die kleine Angelina hatte durch ihre Frühgeburt noch immer körperliche Einschränkungen, weshalb regelmäßig Termine bei Ärzten und beispielsweise der Krankengymnastik, später noch bei der Logopädie und der Ergotherapie notwendig waren. Natürlich büßte mein Mann dadurch regelmäßig seinen Schlaf ein, was sich später auch mit körperlichen Problemen rächte. Doch zurück zu unserer Morgenroutine: Bis mein Mann also vom Nachtdienst nach Hause kam, war ich allein für die Kinder im Alter von null bis neun Jahren zuständig. Unzählige Male ging ich in der Nacht unseren Zeitplan durch. Zu spät zum Bus oder in den Kindergarten zu kommen war für mich keine Option – und so passierte es auch tatsächlich nie. Ich überlegte mir genau, wen ich wann wecken, anziehen und füttern würde. Mein Wecker klingelte um 5:30 Uhr und zuerst weckte ich Angelina, die anfangs sehr viel schlief und kaum Hunger verspürte. Immer wieder musste ich sie zum Trinken animieren und so dauerte ihr »Frühstück« mit allem Drum und Dran gerne eine Stunde. Wenn sie versorgt war, widmete ich mich den anderen Kindern, was so gegen 6:30 Uhr der Fall war. Dann wurde es trubelig, denn es hieß wecken, das Waschen und Zähneputzen überwachen, dem einen oder anderen beim Anziehen helfen, das Frühstück zubereiten und jedes Kind witterungsgerecht einpacken. Das galt insbesondere für das kleine Frühchen, welches ich extra in mehrere Decken hüllte und ihm dazu noch eine Wärmflasche in den Kinderwagen legte. So vergingen die Jahre und die Kinder wurden immer selbstständiger, aber die Regeln für den Ablauf und meine durchdachte Planung am Morgen blieben. Irgendwann musste ich zwar kein Baby mehr füttern, dafür waren meine Fähigkeiten im Zöpfeflechten gefragt. Alle drei Mädchen hatten lange Haare und sie übertrafen sich gegenseitig mit ihren Frisurenwünschen, die ich jedoch allzu gerne erfüllte. Die Erzieher im Kindergarten waren regelmäßig entzückt und mehr als einmal fragte man mich: »Wie schaffen Sie das nur, all Ihren Mädchen jeden Morgen so schöne Frisuren zu zaubern?« Ich freute mich zwar über das Lob, doch meistens blieb ich still und lächelte nur, denn in Worten konnte ich meine Gefühle nicht ausdrücken. Ich nehme an, dass das für meine Mädchen und mich so eine Art »Kuscheln« und Körperkontakt war, aber mit einem sinnvollen Hintergrund für mich, denn einfach nur kuscheln fiel mir schwer. Die Kinder bekamen ihre Aufmerksamkeit und ich erfreute mich an den ordentlichen Frisuren. Noch im Kindergartenalter der Mädchen beobachtete ich, wie wichtig hübsche Kleidchen den anderen Müttern und wahrscheinlich auch den anderen Mädchen waren. Dabei ging es nicht um bestimmte Marken, aber oft hörte ich auch von meinen Kindern: »Mama, schau, der glitzernde Stoff ist doch schön, nicht wahr?« Oder: »Mama, so eine tolle Hose wie meine Freundin sie hat, hätte ich auch gerne.« So ganz verstand ich damals nicht, weshalb so viel Wert auf die Kleidung gelegt wurde – mir hat sie noch nie viel bedeutet und heute bin ich wieder zu meiner »Egal, was jemand anhat«-Haltung zurückgekehrt, aber damals nahm ich an, dass das wichtig sei, und so begann ich mich für Kinderkleidung zu interessieren. Schon zu diesem Zeitpunkt bemerkte ich mehr oder weniger bewusst, dass meine Kinder anders als ich empfinden, aber da ich von klein auf die Rückmeldung erhalten hatte, an mir müsste etwas falsch sein, stufte ich ihr Verhalten und ihre Freude an Kleidung als »richtig« ein. Außerdem spürte ich, dass ich ihnen damit eine Freude machen konnte. Erst kaufte ich gebraucht sehr schöne Kleidchen, aber irgendwann kam ich auf die Idee, sie selbst zu nähen. Wieder brachte mich das den Mädchen näher, denn sie mussten ständig ausgemessen werden und brachten ihre Ideen ein wie: »Mama, wie wäre es mit einem Kleid mit Feenflügeln?« und Wünsche wie: »Diesmal hätte ich gerne so eine Hose wie Aladdin.« Ich nähte und half ihnen beim Anziehen der manchmal komplizierten Kreationen und sie bemerkten, dass ich mich stundenlang um sie kümmerte – indem ich für sie nähte. Jonas war da unbeabsichtigterweise außen vor und einmal kam er zu mir und fragte: »Mama, ist das nur eine Mädchennähmaschine?« Da begriff ich, dass auch er es als Aufmerksamkeit für seine Schwestern empfand, dass ich ihnen Kleider nähte, und ab da nähte ich auch hin und wieder etwas für ihn, auch wenn seine Einstellung zu Kleidung stets meiner glich. Einmal in der Woche besuchte ich sogar einen Müttertreff, bei dem die Kinder malen oder basteln oder sonst wie kreativ sein konnten. Das war einer von wenigen Terminen, in denen ich in der Freizeit in Kontakt mit anderen Müttern kam. Manchmal kam es vor, dass mich andere Mütter fragten, ob wir uns nicht auch außerhalb des Müttertreffs einmal verabreden möchten, doch meistens erklärte ich nur ausweichend, dass ich das mit fünf Kindern einfach nicht schaffen würde. Die anderen Mütter zeigten Verständnis. Die Wahrheit aber war, dass es meine Routine durcheinandergebracht hätte. Zudem hatte ich Angst: Ein Treffen mit anderen Müttern, bei dem womöglich noch ein gemeinsames Abendessen mit Dingen anstand, die ich nicht mochte oder kannte, würde unweigerlich – so dachte ich – dazu führen, dass sie irgendwann merkten, dass ich so »anders« bin. Und dann würden sie mich wieder ausschließen. »Irgendwie bin ich ›falsch‹«, dachte ich lange Zeit. Ich mochte keinen intensiven Kontakt zu anderen Menschen und wollte nicht an größeren Veranstaltungen oder Treffen teilnehmen. Ab und zu probierte ich trotzdem, Kontakte zu knüpfen, beispielsweise besuchte ich einmal eine Art Lesekreis. Ich hatte immer sehr gerne gelesen und überlegte mir, dass ich darüber vielleicht...