E-Book, Deutsch, 288 Seiten
Reihe: Ein Fall für Remzi Ünal
Ein Fall für Remzi Ünal. Kriminalroman. Ein Fall für Remzi Ünal (4)
E-Book, Deutsch, 288 Seiten
Reihe: Ein Fall für Remzi Ünal
ISBN: 978-3-293-30246-4
Verlag: Unionsverlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
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1
Wie so oft in der letzten Zeit saß ich vor dem Fernseher in meiner Wohnung und ärgerte mich darüber, dass es nichts in meiner Vergangenheit gab, das ich bereute. Ich hatte es mir in meinem skandinavischen Sessel bequem gemacht. Ein Arm hing neben der Lehne herunter. In der anderen Hand hielt ich die Fernbedienung, eines der wenigen Dinge, die mich mit der Gegenwart verbanden. Es gibt Tage, an denen wahrscheinlich alle Menschen auf der Welt denken, dass nichts mehr so sein wird wie früher. Ich hatte seit längerer Zeit nicht mehr das Bedürfnis, mich mit dem Flugsimulator zu beschäftigen, wahrscheinlich aus genau diesem Grund. Es war schön gewesen, ich war immer in der Umgebung von Chicago geflogen, aber auch New York war nicht sehr weit weg. Die Tage plätscherten dahin. Ich verbrachte sie damit, lang zu schlafen, zum Aikidotraining zu gehen und mich durch das Fernsehprogramm zu zappen. Dabei wechselte ich die Nachrichtensender, bevor ich bis neun zählen konnte. Wenn ich begann, mir Sorgen um die Weltlage zu machen, schaltete ich Fox Sports ein. Ich hatte mir auch längst abgewöhnt, den Laufburschen aus dem Krämerladen anzumachen, weil er mir meine Zeitung ständig zu spät brachte. Wenn ich die Wohnung verließ, ging ich zu Fuß. Ich vermied Orte, die ich nur mit dem Auto erreichen konnte. Wenn ich nach Hause kam, hörte ich den Anrufbeantworter gar nicht erst ab. Es rief sowieso niemand an. Selbst die Frau, die, ohne ihren Namen zu nennen, immer wieder um meine Hilfe bat, meldete sich nicht mehr. Das Frühstücksritual nach dem Training hatte ich mir auch abgewöhnt. Mein Freund, der Werbefachmann, machte ein langes Gesicht. Der Bankier machte ein langes Gesicht. Der Freund aus der Textilbranche ebenfalls. Beim Training wendeten wir alle die gelernten Techniken mit größter Härte an, so als hätten wir uns abgesprochen. Wir bogen uns unsere Handgelenke stärker nach hinten als nötig. Unsere Gesichter verzogen sich vor Schmerz, aber wir stoppten unseren uke nicht mit einem »Hey, mach mal halblang«. So oder so, irgendwann war jeder an der Reihe. Und dann ließen wir den ganzen Weltschmerz an unserem Gegenüber aus. Zur Bank ging ich öfter als gewöhnlich. Nicht um etwas einzuzahlen, sondern um abzuheben. Als ob es sonst keine Sorgen gäbe, setzte der Winter schon früh ein. Zunächst testete er mit einigen Regenschauern, ob die Schuhsohlen der Leute Löcher hatten. Ehrlich gesagt: Ich beklagte mich nicht über den Regen. Wenn ich mich beim Zappen durch die Fernsehprogramme langweilte, setzte ich mich mit einem Kaffeebecher in der Hand ans Fenster und schaute hinaus, während mein Bein am Radiator förmlich verbrannte. Draußen sah es schön aus, wenn es regnete. Verschneit würde es sicher noch schöner aussehen. Mein Auto musste zur Inspektion, aber ich kümmerte mich nicht darum. Ich ärgerte mich nicht mal mehr über den Krach im Haus, der tagsüber meinen Schlaf störte. Ich rächte mich, indem ich den Monatsbeitrag für die Nebenkosten nicht zahlte. Zum Glück war ich nicht der Einzige. Nachdem die Hälfte der Mieter es so handhabte wie ich, ergriff der ehrenamtliche Verwalter des Wohnblocks, mein Freund, der pensionierte Militär, die erste Sparmaßnahme: Er entließ den Hausmeister, der abends den Müll abholte. Ich konnte mir nicht vorstellen, was passieren würde, wenn die Rechnung für das Gas käme. Ich selbst hatte gerade meine Putzfrau entlassen, als sie mehr Geld für ihre Arbeit verlangt hatte. Wenn ich mich zu sehr langweilte, ging ich in das Kino im Akmerkez-Einkaufszentrum. Vormittags waren da ältere Frauen, nachmittags Gymnasiasten, die die Schule schwänzten. Als ich im Badezimmer gerade zum vierten Mal mein Gesicht inspizierte und mich fragte, ob ich mich rasieren sollte, klingelte es an der Tür. Die Anzahl der Menschen, die an meiner Tür klingelten, war geringer als die der vernünftigen Sendungen im Fernsehen. Weil er seit längerer Zeit die Hoffnung auf Bakschisch aufgegeben hatte, hängte der Laufjunge aus dem Krämerladen jeden Morgen lautlos die Plastiktüte mit der Tageszeitung und dem Brot an die Tür und ging. Einmal hatte der Briefträger den Fehler gemacht zu klingeln, bevor ich meinen morgendlichen Kaffee ausgetrunken hatte. Als er mein Gesicht sah, schwor er sich vermutlich, es nie wieder zu tun. Mein Freund, der pensionierte Militär, hatte sich über mein hartnäckiges Nichtzahlen des Nebenkostenbeitrages dermaßen geärgert, dass er mich nicht mal mehr grüßte, geschweige denn besuchte. Natürlich beachtete ich ihn auch nicht. Mit meinem Freund aus der Werbebranche traf ich mich dreimal in der Woche beim Training im Dojo, warum sollte er noch zu mir nach Hause kommen? Mit keinem meiner Kunden traf ich mich in meiner Wohnung. Deshalb wunderte ich mich weniger über den schlechten Abklatsch von Philip Marlowe, der mir aus dem Spiegel entgegenblickte, als darüber, dass es an meiner Tür geklingelt hatte. Ich hatte gerade einen Schritt vom Badezimmer in Richtung Gegensprechanlage gemacht, als es erneut klingelte. Ich drückte auf den Knopf der Anlage. »Wer ist da?«, fragte ich mit einer Stimme, die Hausierern, Marktforschern und Drückern, die mir Probepackungen Shampoo oder anderen Kram aufschwatzen wollten, deutlich machen sollte, dass ich mich nicht im Geringsten für sie interessierte. »Ist dort die Wohnung von Remzi Ünal?«, fragte eine Frauenstimme, die durch die Gegensprechanlage metallisch klang. Hausierer, Marktforscher und Drücker kannten meinen Namen nicht. »Ja?« Das Fragezeichen hinter meiner Antwort betonte ich extra. »Kann ich hochkommen?«, fragte die Frau. »Warum?« Für einen Moment herrschte Stille. »Ich möchte mit Ihnen über einen Auftrag sprechen.« Mein zwei Tage alter Bart pikte, als ich über mein Gesicht strich. »Hat Ihnen derjenige, von dem Sie meine Adresse haben, nicht auch meine Telefonnummer gegeben?« Die Frau war vorbereitet. »Es ist besser, wichtige Angelegenheiten von Angesicht zu Angesicht zu besprechen.« Ich schaute mir den Zustand des Wohnzimmers an und schätzte die Zeit ab, die sie für vier Stockwerke brauchen würde. Kein Problem, solange sie die Treppen nicht im Eiltempo hochkam. Anstelle einer Antwort drückte ich auf den Türöffner. Lautlos zählend machte ich mich an die Arbeit. Als Erstes beseitigte ich die Reste von dem mit Käse gefüllten Teiggebäck, die auf dem Beistelltisch lagen. In die andere Hand nahm ich den Aschenbecher und lief in die Küche. Die Küche war auch kein Problem. Schloss man die Tür, war das Chaos nicht zu sehen. Zurück im Wohnzimmer, war ich bei acht angekommen. Ich räumte die Unterhosen und die Socken weg, die ich zum Trocknen auf die Heizung gelegt hatte, ging ins Schlafzimmer und warf alles aufs Bett. Es war so gut wie sicher, dass ich mit meinem Gast nicht hierherkommen würde. Als ich aus dem Zimmer eilte, machte ich hinter mir die Tür zu. Die Tür des Gästezimmers, das nie benutzt wurde, war bereits geschlossen. Als ich bei zwanzig ankam, stand ich mitten im Wohnzimmer und schaute mich um, ob noch irgendetwas das Bild störte. Bei fünfundzwanzig kontrollierte ich meine Bekleidung. Für den Augenblick ganz annehmbar. Zum Glück hatte ich nicht die Gewohnheit, in der Wohnung im Pyjama oder Trainingsanzug herumzulaufen. Auch wenn meine Jeans seit längerer Zeit nicht gewaschen war, ging sie noch durch. Ich trug eines der schwarzen T-Shirts, die ich kürzlich im Dutzend gekauft hatte. Meine nackten Füße musste mein ungebetener Gast akzeptieren. Schuld waren die Leute, die die Heizung in diesem Krisenwinter auf Hochtouren laufen ließen. Im Fernseher schaltete ich einen Nachrichtensender ein, stellte das Gerät ganz leise und ging zum Fenster. Während ich hinausschaute, zählte ich weiter … achtunddreißig, neununddreißig … Ich sah einen Opel Corsa auf dem Parkplatz, der von fünf Wohnblöcken umgeben war. Er parkte quer vor den Autos der Mittelstandsfamilien in unserer Siedlung, die anständig in den Parkbuchten standen. Aus dem Fenster auf der Fahrerseite ragte ein Ellenbogen, der in einer Lederjacke steckte. Bei der Kälte war das Fenster wahrscheinlich nur wegen des Rauchens geöffnet worden. Erst recht, wenn der Chef eine Frau war. Wenn ich die Treppen hinaufstieg, holte ich immer bei ziemlich genau zweiundfünfzig meinen Schlüssel aus der Tasche. Einer Frau, die das Mehrfamilienhaus nicht kannte, räumte ich eine Zeit bis fünfundsechzig ein. Bei sechsundsechzig klingelte es an der Wohnungstür. Ich kontrollierte ein letztes Mal das Wohnzimmer und ging zur Tür. Beim Vorbeigehen trat ich die Hürriyet unter den Sessel. Ohne den Spion in Erwägung zu ziehen, riss ich die Tür ganz weit auf. Nein, ich kannte die Frau nicht. Auf den ersten Blick machte sie den Eindruck einer Person, die man lieber nicht zum Feind haben wollte. Ihre Hässlichkeit wurde dadurch verstärkt, dass sie ihre Jugend schon vor ziemlich langer Zeit hinter sich gelassen hatte. Die Haare, deren fehlendes Volumen kein Shampoo dieser Welt wettmachen konnte, reichten ihr kaum bis zur Schulter. Die unproportional große Nase beherrschte ihr ganzes Gesicht. Die Lippen waren fest zusammengepresst, als wollte sie deutlich machen, dass es...