E-Book, Deutsch, 256 Seiten
Reihe: Nils Petersen
Ohle Inselgeister
1. Auflage 2023
ISBN: 978-3-98707-014-3
Verlag: Emons Verlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 0 - No protection
Insel Krimi
E-Book, Deutsch, 256 Seiten
Reihe: Nils Petersen
ISBN: 978-3-98707-014-3
Verlag: Emons Verlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 0 - No protection
Ein eiskalter Mord und eine brutale Entführung unter der Sonne Amrums.
Die erste Fähre des Tages erreicht Amrum – mit einem Toten an Bord. Der Mann ist Opfer eines Giftanschlags geworden. Kurze Zeit später dreht ein treu sorgender Ehemann durch und entführt jemanden, den er aus der Vergangenheit zu kennen glaubt. Gibt es eine Verbindung zwischen den Taten? Auf der Suche nach Antworten deckt Inselpolizist Nils Petersen ein längst vergessen geglaubtes Verbrechen auf und bringt eine Lawine von gefährlichen Ereignissen ins Rollen.
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EINS
Es war ein in vielerlei Hinsicht besonderer Moment, als das Schiff von Dagebüll nach Amrum aus dem Hafen fuhr, denn es war das erste Mal, dass die Fähre nach dem zweiten Lockdown in der Coronapandemie wieder für Urlauber geöffnet war. Nach Monaten in häuslicher Isolation und mit stark reduzierten Kontakten zu anderen Menschen konnten die Leute nun wieder in die Ferien fahren, ihre Häuser, ihre Städte, ihre Umgebung verlassen und zusammen mit anderen Orte bereisen. Natürlich gab es überall noch Einschränkungen und Schutzmaßnahmen, doch das war zweitrangig. Ein Stück Freiheit wartete auf all diejenigen, die die Fähre betreten hatten und nun ungeduldig der Insel entgegenstrebten. Der Himmel spannte sich in einem nahtlosen Blau über das spiegelglatte Wasser. Weiße Kondensstreifen, die Flugzeuge hinterlassen hatten, kreuzten sich am Firmament und wurden von einem kaum merklichen Wind verwaschen. Die Möwen am Heck des Schiffes segelten neben dem Aussichtdeck auf und ab, in der Hoffnung, einen kleinen Happen von den Snacks der Touristen abgreifen zu können. Die »MS Uthlande« glitt, immer mehr Fahrt aufnehmend, durch das seichte Wasser und folgte unter tiefem Motorenbrummen den Kurven der Fahrrinne. Das Sonnendeck, auf dem keine Atemschutzmasken getragen werden mussten, war bei diesem Wetter natürlich voll besetzt, jedoch schien der Geräuschpegel leiser zu sein als zu früheren Zeiten. Die Menschen blickten hinaus aufs Wasser, hielten Ausschau nach den Küstenstreifen, nach Föhr und Amrum, den Seehundsbänken oder den winzigen, sich am Horizont drehenden Rädern der Windkraftanlagen. Vielleicht war ein wenig mehr Staunen und bewusstes Aufnehmen aller Eindrücke gegenwärtig als sonst, als das meiste davon scheinbar selbstverständlich gewesen war. Holger Degemann saß zusammen mit seiner Frau unter Deck im Bordrestaurant, das ebenfalls gut gefüllt war, und blickte hinaus auf die rollenden Wellen, die das Schiff an den Längsseiten aufwarf. Vor ihm stand eine Tasse Kaffee, seine Frau trank Wasser. Eine leere Tablettenpackung Almotriptan lag neben ihrem Glas. Seit einer Gehirnoperation 2001, in der ihr ein Tumor entfernt worden war, litt sie an Migräne und war dann oft tagelang nicht in der Lage, ihr abgedunkeltes Zimmer zu verlassen. Deshalb saßen sie jetzt auch unter Deck, und sie trug zusätzlich ihre Sonnenbrille. Es war eine schreckliche Ironie, dass ihr ausgerechnet dieses wunderbare Wetter mit klarer Sicht und strahlendem Sonnenschein die größten Schmerzen bereitete. »Geht es?«, fragte Holger nach. Emmi nickte nur, doch ihre zusammengepressten Lippen verrieten sie. »Es wird bestimmt bald besser«, sagte er aufmunternd und nahm über den Tisch hinweg ihre Hand. »Wir haben das tollste Haus und sind ganz für uns allein. Wir können tun und lassen, was wir wollen.« Sie nickte erneut und drückte dabei dankbar seine Hand. Holger setzte sein zuversichtliches Lächeln auf, das im Laufe der Jahre schon zu einem Reflex geworden war. Er konnte sich nicht mehr erinnern, wann er seine Frau das letzte Mal ohne Schmerzen und einfach nur glücklich gesehen hatte. Für diesen Urlaub hatten sie lange sparen müssen, ihre beiden Renten boten keine Möglichkeit für luxuriöse Reisen. Emmi arbeitete aus gesundheitlichen Gründen schon seit geraumer Zeit nicht mehr. Während sie körperlich geplagt war, war Holger ein sportlicher, kräftiger Mann, der noch in der Altherrenmannschaft Fußball spielte, im Garten und am Haus viele handwerkliche Dinge erledigte und baute. Im Oktober würde er fünfundsiebzig werden, und diese Amrum-Reise war so etwas wie ein vorweggenommenes Geburtstagsgeschenk für sich und seine Frau. »Wenn wir angekommen sind, geh ich schnell was einkaufen. Und wenn du magst, können wir dann später noch zum Strand runtergehen«, schlug er vor. »Vielleicht, ja.« Sie blickte aus dem Fenster, so als könnte das Wetter ihnen einen Strich durch die Rechnung machen. Das Meerwasser glitt seidig glänzend an der Seite des Schiffsrumpfs vorüber. Wenn wir doch nur so leicht durchs Leben gekommen wären wie diese Fähre durch das Wasser, dachte Holger. Er fuhr sich durch seine fast vollständig weiß gewordenen Haare; nicht um sie zu richten, sondern um diese Gedanken aus seinem Kopf zu bekommen. Er wollte so nicht mehr denken. Er wollte nicht mehr in der Vergangenheit leben, sondern in die Zukunft schauen. Und die Zukunft war ein wundervoller Urlaub in einem schönen Haus auf einer pittoresken Insel. Die kommenden zwei Wochen sollten sie glücklich machen. Keine Verpflichtungen, keine Einschränkungen. Einfach nur in den Tag hineinleben und tun und lassen, was man wollte. »Ist das schon Amrum?«, fragte Emmi und blickte auf den schmalen Landstreifen rechts von ihnen. »Nein, das muss Föhr sein.« Er reckte seinen Hals und schaute zur anderen Seite hinaus. »Da drüben sind die Halligen.« »Sie sind hübsch anzusehen, aber aushalten würdest du es da nicht«, sagte sie. Er lachte. »Stimmt, das wäre nichts für mich. Zu wenig Freiraum.« »Ich würde mich arrangieren.« »Wir können einen Ausflug dorthin machen, aber mehr nicht.« Er griff zu seiner Kaffeetasse und stutzte. »Wo ist mein Keks?« »Mmh?« »Da war ein Keks dabei, hier auf der Untertasse.« »Hab ich nicht gesehen.« Er sah sie an, doch seine Frau verzog keine Miene. »Du hast ihn geklaut«, sagte er und deutete mit dem Zeigefinger auf sie. »Nein, wirklich nicht. Du hast einfach keinen bekommen.« »Du hast ihn, ich kenne dich doch. Her damit!« Er streckte seine Hand aus. »Schatz, ehrlich«, beharrte sie. Holger beugte sich schmunzelnd zu ihr hinüber. »Ich ruf die Polizei«, flüsterte er drohend. »Das würdest du tun?« »Und ob.« »Na gut.« Sie griff in ihre Jackentasche und legte die Kekspackung in seine Hand. Sein Schmunzeln wurde breiter. »Du bist ein ganz schlimmer Finger«, sagte er und riss die Verpackung auf. Am Nachbartisch sprang auf einmal ein Mann auf und eilte mit einer Hand vor dem Mund zum Treppenabgang, der zu den Toiletten führte. »Der hatte wohl zu viele Kekse«, scherzte Holger und biss in das Karamellgebäck. *** Auf der Insel war die Ankunft dieser ersten Fähre nach dem Lockdown etwas so Besonderes, dass viele Insulaner im Hafen von Wittdün waren, um dem Anlegen des Schiffes zuzusehen. Auch Nils Petersen, der Inselpolizist, hätte nicht notwendigerweise vor Ort sein müssen. Er stand, an seinen Dienstwagen gelehnt, mit zwei Mitarbeitern der Reederei zusammen und sah die »Uthlande« immer größer und größer werden, bis sie sich schließlich mit der sich langsam öffnenden Ladeluke bis an die Brücke schob. Die beiden Angestellten gingen an ihre Arbeit und ließen Nils am Wagen zurück, während unter den Zuschauern am Kai Applaus und Jubel ausbrachen. Die ersten Gäste verließen auf Fahrrädern das Deck und winkten den Spalier stehenden Leuten zu. Oben aus der Fußgängergangway strömten weitere Gäste die Rampe herunter, bis am Ende die Autos die Fähre verließen. »Hat man doch irgendwie vermisst«, sagte Nils lächelnd und stieg wieder in sein Auto ein. Die Ruhe und Einsamkeit, die während des Lockdowns auf Amrum geherrscht hatten, könnten nicht drastischer gewesen sein. Eine Insel, die nur auf Touristen ausgelegt war, von einem Tag auf den anderen ohne einen einzigen Gast zu erleben, war, wie in einer Zeitmaschine zu sitzen und sich zwei Jahrhunderte zurückwerfen zu lassen, in eine Zeit, in der ausschließlich Einheimische die Insel bevölkert hatten. Der große Unterschied war nur, dass hier heute jeder vom Tourismus lebte und durch den Lockdown von jetzt auf gleich um seine Arbeit und seinen Lohn beraubt worden war. Natürlich konnte man nun Dinge erledigen, die man zuvor immer aufgeschoben hatte, Reparaturen ausführen, die schon lange auf der To-do-Liste standen, doch dann fehlte es oft an den Ersatzteilen und Rohstoffen, die nicht geliefert werden konnten. Im Grunde hatten sie alle im absoluten Ausnahmezustand gelebt. Nils war mit seinem Beruf als Polizist eine der wenigen Ausnahmen, die zumindest finanziell unabhängig von der Anwesenheit von Gästen waren. Er hatte sich dem Haus und dem Garten gewidmet, die Organisation der Coronamaßnahmen geleitet und nach vielen sehr harten beruflichen und privaten Jahren endlich einmal seine kleine Familie ganz für sich allein gehabt. Seine Frau Elke und er hatten ihre Tochter Anna zu sich geholt, die drüben auf Föhr zur Schule ging und sich im viel diskutierten Corona-Abiturjahrgang befand. Nach dem Absolvieren aller Klausuren unter Homeschooling-Bedingungen hatte sie das Abi nun so gut wie geschafft. Es war ein wenig, als hätte jemand die Uhr angehalten, und ab heute drehten sich die Zeiger wieder weiter. Nils folgte der Kolonne von Urlaubsgästen und sah im Heckfenster eines älteren Ford Focus »Turnier« einen Hundekopf auftauchen. Es musste ein Schäferhundmischling sein, der sich kurz orientierte und dann zu ihm blickte. »Moin, Großer«, sagte Nils und wunderte sich, wie klar und bewusst dieser Hund ihn ansah. Während des letzten Jahres hatte er oft darüber nachgedacht, ob sie ihre Familie nicht auch durch einen Hund erweitern sollten. Anna würde bald studieren, und Elke und er würden allein im Haus wohnen, wie die letzten Jahre eigentlich auch schon, weil Anna nur an den Wochenenden und in den Schulferien bei ihnen war. Der Hund im Wagen vor ihm schien das alles in seinen Augen zu lesen, so wie er Nils anstarrte. Er zog hechelnd die Lefzen zur Seite. »Okay, ich denk drüber nach«, antwortete Nils dem Hund. Der Mischling bellte einmal kurz. »Das...