E-Book, Deutsch, 180 Seiten
Ohle Der Feuerbock
1. Auflage 2013
ISBN: 978-3-7843-9012-3
Verlag: Landwirtschaftsvlg Münster
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Jugendroman
E-Book, Deutsch, 180 Seiten
ISBN: 978-3-7843-9012-3
Verlag: Landwirtschaftsvlg Münster
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Schule und Familie interessieren Andreas wenig, man ist letztlich ja doch immer auf sich gestellt. Seine Lieblingsbeschäftigung heißt deshalb "Carcrash", bei dem es darum geht, im Schutz der Berliner Nacht Autos zu knacken, sich an der Geschwindigkeit zu berauschen und es am Ende in Flammen aufgehen zu lassen. Nach einer abgesessenen Jugendstrafe schließlich reicht es seiner Mutter: Andreas wird zu seinem Onkel und seiner Cousine Anna aufs Land geschickt. Endlose Äcker, stinkendes Vieh und Arbeit über Arbeit - so hatte sich Andreas seinen Sommer nicht vorgestellt. Kein Wunder, dass er so schnell wie möglich abhauen will. Doch plötzlich ist da Annas Geschichte, die Andreas irgendwo tief drinnen berührt. Und plötzlich ist zwischen Kornfeld und Kuhstall ein Gefühl von Freiheit, das er nie gekannt hat. Und als Andreas beginnt, sein Leben neu zu finden, steht plötzlich die Scheune lichterloh in Flammen und seine Vergangenheit holt ihn ein...
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5. Kapitel
Sie stiegen aus und fanden sich auf einer Straße vor einem alten Kloster wieder. Andreas konnte zwei riesige Türme erkennen, die über einem massiven roten Backsteinbau zu schweben schienen. Die kleinen Fenster blickten ihn wie Augen an, schwarz wie Kohle und ebenso leblos. Das Kloster glich mehr einer Festung, fand Andreas, oder vielleicht einem Gefängnis. Er hielt nach einem rotgesichtigen, übergewichtigen Mann Ausschau mit schlecht geschnittenen, blonden strohigen Haaren und Gummistiefeln. Umso überraschter war er, als seine Mutter einem Mann zuwinkte, der aussah wie ein Lehrer oder wie ein Buchhändler. „Norbert!“, rief seine Mutter und freute sich, ihren Cousin wiederzusehen. Norbert war schlank, blass und trug eine Brille mit dünnem Drahtgestell. In seinem Poloshirt und den Jeans sah er noch sehr jung und sportlich aus. Das Einzige, was ihn als Bauer und nicht als Lehrer identifizierte, waren seine großen Hände, die für seine Statur viel zu massig waren. Er kam lächelnd auf sie zu, und als er Andreas’ Mutter von Nahem sah, konnte man ihm ansehen, dass er sein Lächeln nur mit Mühe aufrechterhalten konnte. Andreas bemerkte es, seine Mutter bemerkte es und schämte sich sogleich für ihr Aussehen. Norbert war gerade mal zwei Jahre jünger als sie, doch wenn man sie jetzt zusammen sah, hätte man den Altersunterschied auf fast fünfzehn Jahre geschätzt. Norbert umarmte Andreas’ Mutter. „Hallo, Iris! Schön, dich zu sehen!“ „Hallo!“, sagte sie verlegen. Norbert drehte sich zu Andreas, der mit auf den Boden gerichtetem Blick und vorgestreckter Stirn vor ihm stand, als wolle er ihn rammen. Der Junge wollte ihn nicht ansehen. Also würde es auch zwecklos sein, ihm die Hand zu reichen. Da wusste Norbert, dass es keine gute Idee gewesen war, auf Iris’ Bitte einzugehen. Er hatte sich etwas Hilfe von einem jungen Mann erwartet, die er dringend gebrauchen konnte auf seinem Hof. Eine zusätzliche Arbeitskraft in der Weizen-ernte. Doch Andreas trug eine Aura von Lustlosigkeit und Desinteresse wie einen Kokon mit sich herum. Und da war noch etwas. Aggressivität. Er schwitzte sie förmlich aus. Sie glitzerte auf seiner Stirn, die er wie ein Stier in der Arena auf Norbert gerichtet hatte. „Na, dann lasst uns mal fahren! Ich steh gleich da vorne!“ Er deutete auf einen großen schwarzen staubigen Jeep mit chromfarbenen Stoßfängern. Zum ersten Mal schienen sich Andreas’ Gesichtszüge aus ihrer Starre zu lösen, und sein Blick wurde klarer. Wenigstens der Jeep gefällt ihm, dachte Norbert, und sie setzten sich alle drei in den Wagen. Die Fahrt mit dem Jeep dauerte noch mal zwanzig Minuten. Sie fuhren über Landstraßen, die nach jedem Abbiegen immer kleiner wurden, bis schließlich sogar der Mittelstreifen verschwand und die Fahrbahn nur noch so breit war, dass auch wirklich nur ein einziges Auto darauf hätte fahren können. Übelkeit überkam Andreas. Er wusste nicht, ob das noch die Auswirkungen von gestern Nacht waren oder ob diese Gegend hier ihn so deprimierte, dass es ihm auf den Magen schlug. Norbert unterhielt sich mit Iris, zeigte ihr andere Höfe seiner Freunde hier im Umkreis und blickte sie immer wieder über den Rückspiegel an. Andreas, der auf dem Beifahrersitz saß, sagte die gesamte Fahrt über kein Wort. Er starrte nur auf die weite nichtssagende Landschaft. Das hier war das Ende der Welt. Das ödeste, langweiligste Ende, das man sich vorstellen konnte. Norbert setzte den Blinker und bog in eine kleine Einfahrt ein, die brückenartig über einen Entwässerungsgraben führte. Sie hielten mitten auf dem Hof. „So, da wären wir!“, sagte Norbert fast ein bisschen stolz. Andreas stieg aus und sah sich um. Er konnte nicht glauben, in was für einem verdammten Albtraum er gelandet war. Es stank erbärmlich. Überall lagen Dreck, Mist und Pferdeäpfel herum. Man konnte nicht einen Schritt machen, ohne in irgendeinen Haufen zu treten. Links stand das Wohnhaus in rotem Klinker und Tüllgardinen in den Fenstern. Über dem Eingang war ein kleines Vordach aus Plexiglas, das auf der rechten Seite einen Sprung hatte. Der Riss, der aussah wie ein zweiarmiger Fluss, glänzte silbern in der Sonne. Rechts vom Haus mündete ein kleiner gepflasterter Weg in den Innenhof, der nach hinten in den Garten führte. Fünfzehn Meter hohe Pappeln rahmten das Grundstück hinter dem Haus ein und grenzten es gegen das Feld ab, das sich gleich dahinter anschloss. Der Weg aufs Feld war von tiefen Furchen durchzogen, die die Traktorräder gegraben hatten. Der Schweinestall, aus dem man hin und wieder das Grunzen einer Sau hörte, war ein kleineres, flaches Gebäude, das länglich an der hinteren linken Seite des Hofes stand. Geradezu verlief der Kuhstall auf der gesamten Breite des Hofes. Eine große Schiebetür war halb geöffnet, und dahinter war nur ein dumpfer Schatten zu erkennen, der den Stall anfüllte wie eine schmutzige Flüssigkeit. Heu raschelte und Ketten klirrten. Ein struppiger, an der Schnauze und am Hals schon grau gezeichneter Hund trottete müde aus dem Schatten, blieb stehen, schnüffelte in Richtung der Neuankömmlinge und legte sich dann erschöpft in den Schatten des Hauses. Dabei bemerkte Andreas, wie eine Gardine in einem der Fenster zurückgezogen wurde und eine schemenhafte Gestalt ihn beobachtete. Rechts, vor einem weiteren Stall, parkte ein Pferdewagen mit Kutschbock und zwei überdachten Sitzreihen auf dem Wagen. Und direkt neben Andreas in einem Wellblechschuppen von der Größe eines halben Tennisplatzes standen diverse landwirtschaftliche Geräte und Anhänger, mit denen Andreas nichts anfangen konnte, drei Fahrräder, ein roter Mähdrescher und ein grüner Trecker. Beide Fahrzeuge wirkten wie roboterartige Raubtiere, die dort im Halbdunkel bewegungslos ihre Beute beobachteten, um sie dann mit ihren riesigen Fängen aus Stahl zu zerreißen. Andreas warf die Autotür zu, an der er sich festgehalten hatte wie an einem rettenden Ast, um nicht in einem Sumpf zu versinken. „Schön!“, sagte seine Mutter hinter ihm. Norbert deutete mit einer ausladenden Armbewegung auf das Wohnhaus. „Gehen wir erst mal rein! Ich zeig euch später alles!“ Iris folgte Norbert, und Andreas trottete ebenso müde wie der Hund vorhin hinter den beiden her. Auf der Eingangsstufe und im Flur lagen vertrocknete Bröckchen Erde herum. Der Flur sowie das daran angrenzende Wohn- und Esszimmer waren mit weißen Fliesen ausgelegt. Eine Holztreppe führte links in die obere Etage. Rechts gab es zwei Türen. Eine für das Bad und eine für die Küche. „Anna! Wir sind da!“, rief Norbert ins Haus hinein. „Ich komme!“, hörte man Anna hinter der Küchentür sagen. Die Tür wurde geöffnet, und ein schmächtiges Mädchen mit nackten Füßen drückte sich schüchtern gegen den Türrahmen. Ihre langen, glatten Haare hatten sich über ihre Schultern gefächert. Ihr Pony war ein wenig zu lang, und jedes Mal wenn sie zwinkerte, tanzten die Haare auf ihren Wimpern. Sie trug ein gelbes T-Shirt und weiße Bermudashorts. Einen Arm hatte sie um ihren Bauch gelegt, der andere hing kraftlos an ihrer Seite herab. „Das ist Anna, meine Tochter! Und das sind Iris und Andreas!“, sagte Norbert. „AC!“ „Bitte?“ „Nun hör doch auf mit dem Quatsch!“, sagte Iris. „Ich heiße AC!“, beharrte Andreas. „So nennen ihn seine Freunde bei uns im Viertel“, erklärte Iris. „Dann halt AC!“, meinte Norbert. Anna gab erst Iris und anschließend Andreas die Hand. „Hallo, AC!“, sagte sie fast gehorsam. Andreas nickte ihr nur zu. „Ist das Essen fertig?“, fragte Norbert, und Anna ging sofort zurück in die Küche. „Muss nur noch die Kartoffeln fertig pellen!“, sagte Anna. Andreas konnte nicht glauben, dass das kleine Mädchen das Mittages sen allein gemacht hatte. Er spähte in die Küche, doch außer Anna war tatsächlich sonst niemand mehr da. Sie setzten sich an den Tisch im Esszimmer, und Anna kam aus einer zweiten Tür aus der Küche und servierte einen Teller mit Schnitzeln. Betreten blickte Iris auf die panierten Fleischstücke. Das gleiche Essen hatte sie Andreas gestern gekocht und wieder weggeschmissen. Anna kam mit einem Topf voll dampfender Kartoffeln zurück und holte schließlich noch einen weiteren Topf mit Rosenkohl. „Ja, dann guten Appetit!“, sagte Norbert und reichte Iris den Schnitzelteller. Iris nahm ein Stück, das sie aber nur zur Hälfte essen konnte. Andreas hatte seine Übelkeit immer noch nicht überwunden. Er nahm viel weniger, als er normalerweise gegessen hätte, musste aber zugeben, dass es schmeckte. Es schmeckte wirklich. Während des Essens wurde kaum geredet. Norbert aß schnell und viel, und Anna aß wenig und langsam. Ihre Augen blieben ständig hinter ihrem Pony versteckt. Als Norbert fertig war, schaute er auf die Uhr. „Tja, leider muss ich wieder los! Ist eben ein ganz normaler Arbeitstag für mich!“, sagte er und stand auf. „Anna zeigt euch eure Zimmer, und wir sehen uns heute Abend.“ „Danke, Norbert!“, sagte Iris, und sie klang so dankbar, als hätte er sie und Andreas als Kriegsflüchtlinge aufgenommen. Anna räumte den Tisch ab, und Iris half ihr dabei. Andreas blieb einfach nur sitzen und sah sich im Wohnzimmer um. Eine braune kunstlederne Couch diente als Raumteiler zwischen Wohnzimmer und Esszimmer. Eine schwarze Schrankwand füllte die gesamte rechte Wand aus. In ihr standen...