Oghalai / Castro Varela | Freund*innenschaft | E-Book | sack.de
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E-Book, Deutsch, 69 Seiten

Oghalai / Castro Varela Freund*innenschaft

Dreiklang einer politischen Praxis

E-Book, Deutsch, 69 Seiten

ISBN: 978-3-95405-154-0
Verlag: Unrast Verlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 0 - No protection



Gerechtigkeit ist das Ziel, doch mit wem ist dieses zu erreichen? Es handelt sich dabei keineswegs um eine Randfrage, die neben den angeblich zentralen politischen Diskussionen gestellt wird, sondern um ein explizit politisches Thema, das im Zentrum einer jeden sozialen Bewegung steht.

Es lohnt sich hier über einen anderen Begriff der politischen Praxis nachzudenken: Freund*innenschaft, meist ins Private verdonnert und aus dem politischen Terrain verdammt. Dabei sind Freund*innenschaften genuin politische Beziehungen, deren grundlegende Charakteristika unseren Blick auf die Welt transformieren.

In Zeiten multipler Krisen und wachsender globaler Ungleichheiten, verfolgt dieser Essay bereits bestehende Theorien zur Freund*innenschaft, um diese anschließend für einen Begriff der Freund*innenschaft als politische Praxis produktiv zu machen.
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2 Solidarität, Allyship und die Praxis des kollektiven Arbeitens
»Als Mensch geboren zu werden bedeutet, auf einen Anderen und andere angelegt zu sein. Um dem Rechnung zu tragen, setzt der Mensch das ganz Andere voraus. Das ist die Grundlage des Menschseins als Sein-im-ethischen-Verhältnis. Per Definition können wir nicht – kein Selbst kann – das ganz Andere erreichen. Daher kann die ethische Situation nur in der ethischen Erfahrung des Unmöglichen fassbar werden. Dies ist die grundlegende Lücke in allen Handlungen und Worten, ganz besonders in den Handlungen und Worten, die wir als dem Ethischen am nächsten stehend verstehen – die historischen und politischen.« (Spivak 2012: 97-98).   Bevor wir konkret in den Dreiklang der Freund*innenschaft einsteigen, wollen wir uns im folgenden Kapitel zunächst Solidarität, Allyship und anderen Begriffe der politischen Zusammenarbeit widmen. Solidarität und Allyship sind wichtige Konzepte des (politischen) Zusammenkommens, -arbeitens und -seins, deren Grenzen zur Freund*innenschaft womöglich am besten als porös und ambivalent zu beschreiben sind. Eine solidarische Praxis – etwa von Staatsbürger*innen mit im Land lebenden geflüchteten Menschen – kann der Beginn einer Freund*innenschaft sein. Nicht selten allerdings erscheint es den sich solidarisch verhaltenden Menschen, es handele sich um Freund*innenschaft, obschon die einseitige Abhängigkeit, dies fast unmöglich macht. Andersherum kann die Freund*innenschaft zu einer Person, die Diskriminierungserfahrungen hat, die eine*r selber nicht teilt, dazu führen, dass Solidarität mit der Gruppe, deren Mitglied die diskriminierten Freund*innen sind, gestiftet wird. Das Persönliche wird hier politisch, während im ersten Beispiel das Politische privatisiert wird. Solidarität existiert unter Gleichen und Ungleichen transversal, horizontal und vertikal. Soziale Bewegungen bedürfen der Zusammenarbeit. Während die Arbeiter*innenbewegungen noch auf die Massen gesetzt hat und von diesen ein positives Bild hatte – schließlich ging es darum möglichst viele für die eigene Sache zu gewinnen – gerieten diese als Folge der nationalsozialistischen Mobilisierung und Manipulierung der Massen zu Recht in Verruf (siehe Castro Varela 2023). Konzepte, die Kollektive außerhalb der Massen denken, folgen heute – außerhalb einer neoliberalen Verehrung des Individuums – einer Identitätslogik. Im Zeitalter der sozialen Bewegungen, deren Beginn in den 1960er Jahren zu verorten ist, gewinnt die Frage der Identität eine zunehmend zentrale Bedeutung. Es entsteht ein neues Verständnis von Zugehörigkeit, das die politische Arbeit fortan bestimmt. Die Schwarze Bürgerrechtsbewegung in den USA, die Schwulenbewegung, antiimperialistische Gruppen und antikoloniale Bewegungen wie auch unterschiedliche Frauen*bewegungen erkämpfen Rechte und verändern zugleich die Art und Weise, wie Demokratie, Gerechtigkeit und Emanzipation gedacht und gelebt werden. Bürgerliche Errungenschaften wie etwa Meinungsfreiheit oder das Recht auf Bildung, die de facto lange nur einigen wenigen zugutekamen, werden durch den Druck multipler und heterogener Bewegungen, die Demokratie herausfordern und rekonzeptualisieren, erweitert.Die geteilten Diskriminierungserfahrungen bilden den Kitt dieser Gruppen, deren Bestehen immer prekär bleibt. Es ist sicher kein Zufall, dass aus diesen Bewegungen Schriften hervorgehen, die Freund*innenschaft in das Zentrum ihrer Kämpfe um Hegemonie stellen. Denken wir an die Arbeiten von bell hooks, Feministin und Mitglied der Schwarzen Bürgerrechtsbewegung, aber auch an die Arbeiten von Michel Foucault, dessen Schriften u.a. bedeutsam für die Schwulenbewegung und die später sich etablierenden Queer Studies sind. Eine ganze Generation von Intellektuellen redet und schreibt über Freund*innenschaft, weswegen sie kaum zufällig oft im Zusammenhang mit politischer Solidarität diskutiert wird. Viele Jahre waren die Praxen der Solidarität und des Sich-sorgen-um geradezu in Verruf geraten. Den einen waren diese verdächtig, weil Solidarität insbesondere mit einer sozialistischen Politik assoziiert wurde, die nach dem Fall der Berliner Mauer Ende der 1980er Jahre und dem anschließenden langsamen Zerfall der sozialistischen Länder als obsolet und erledigt galt. Die anderen bewerten Solidarität und das Sich-sorgen-um als sozialen Kitsch und depolitisierend; wieder andere halten Solidarität für eine paternalistische Praxis, bei der diejenigen, die sich solidarisch erklären, mehr Gewinn daraus ziehen als diejenigen, die unterstützt werden sollen. Manchmal wird auch eine Solidarität im Sinne Jacques Rancières propagiert: jene unbedingte Solidarität (siehe etwa Susemichel/Kastner 2021), die eine Praxis beschreibt, die sich auch an diejenigen richtet, die als anders und eben nicht als Gleiche wahrgenommen werden. Rancière folgend ist Gleichheit kein Zustand, sondern eine Praxis, bei der Gleichheit immer zunächst als Ausgangspunkt gesetzt wird – selbst oder gerade in Augenblicken, die ungleich strukturiert sind. Er hinterfragt eine Erziehung zur Gleichheit und postuliert dagegen die Gleichheit der Intelligenz. Intelligenz folge, so Rancière, nicht dem Weg von Ignoranz oder Unwissen zu Wissen, sondern bewege sich von bereits existierendem Wissen hin zu neuem Wissen. In dieser Schritt-für-Schritt-Verknüpfung sei jede Intelligenz gleich und Gleichheit damit der Ausgangspunkt (Rancière 2016: 139). Das ist ein bedenkenswerter Ansatz, doch ist das eigentliche Problem sozialer Gerechtigkeit womöglich mit solcherlei Denkakrobatik nicht zu lösen. Ein Problem, welches im Übrigen auch das aktuell viel besprochene Konzept der multidirektionalen Erinnerungspraxis (Rothberg 2009) mit Rancières unbedingter Solidarität teilt. Multidirektionale Erinnerungspolitik ruft danach, mehr als nur ein Grauen isoliert zu erinnern, sondern die Verflechtungen der historischen Gewalt in den Blick zu nehmen. Offen bleibt bei beiden Überlegungen, wie nun mit dem Konflikt, den Widersprüchen, den Affekten der Ablehnung, der Ressentiments und der historisch gewachsenen Verachtung umzugehen ist. Schließlich bestimmt der Horror der Vergangenheit den Horror von Heute. Auf Gewalt folgt nicht nur Frieden, sondern eben auch Gewalt. Gewalt wird endemisch. Die gewaltvolle Geschichte verfolgt uns – wenn auch in sehr unterschiedlicher Art und Weise. Aus diesem Grunde erscheint uns eine Philosophie der Freund*innenschaft, die eine »Politik der Sorge« (Woddly et al. 2021) zum Ausgangspunkt nimmt, überzeugender. Jede Begegnung ist ein Moment, der sich von der Vergangenheit in die Zukunft zieht. Ein Moment, in dem eine andere Zeitlichkeit einbricht, Räume sich verdichten und gleichzeitig ausweiten. Wie können wir uns auf diese Momente, diese Augenblicke vorbereiten? Wie können wir ethische Praxen etablieren, erlernen und unethische, imperiale Imaginationen verlernen, so dass wir in die Lage versetzt werden, in den entscheidenden Momenten geradezu reflexartig das Richtige zu tun. Solidarität unter Ungleichen versucht sich an der Grenzüberschreitung, aber ist dies ausreichend, um unsere ethischen Reflexe so in Schwung zu halten, dass wir tatsächlich das Richtige tun – wenn es darauf ankommt. Der Begriff der Solidarität geht auf den lateinischen solidus zurück und bedeutet fest und solide. Solidarität ist gewissermaßen der Kitt der Gesellschaft. Eine unsolidarische Gesellschaft zerfällt oder bekämpft sich. In einer solidarischen Gesellschaft unterstützen Menschen sich. Ein Konzept, das gewissermaßen einen Zwischenraum zwischen Solidarität, Allyship und Freund*innenschaft markiert, ist die kontrapunktische Solidarität. In Culture and Imperialism (1993) führt Edward Said die Idee des Kontrapunktischen im Zusammenhang mit der Praxis eines postkolonialen Zurückschreibens ein. Inspiriert durch Johannes Bachs Fuge (lat. Flucht), die ein Kompositionsprinzip polyphoner Mehrstimmigkeit darstellt, schlägt Said eine Lesepraxis vor, die dem postkolonialen Subjekt die Möglichkeit eröffnet, den Text von den Rändern aus gegen den Strich zu lesen. Eine daran anlehnend gedachte kontrapunktische Solidarität wird immer versuchen, den Gegenstimmen Raum zu geben. Die Gleichzeitigkeit verschiedener Stimmen wird deswegen nicht als disharmonisch gelesen. Im Gegenteil, ihre Polyphonie gerät zu einer Melodie, während gleichzeitig die Eigenständigkeit der Stimmen aufrechterhalten wird. Bei einer kontrapunktischen Praxis wird nicht, wie dies etwa im Kanon der Fall ist, der dominanten Stimme ohne Wenn und Aber gefolgt, stattdessen wird den Gegenstimmen zur Artikulation verholfen. Das Kontrapunktische schafft damit einen Raum, der differente Stimmen nicht nur artikulierbar macht, sondern zur Artikulation geradezu auffordert. Die Polyphonie endet dabei nicht im Chaos, aber auch nicht in einer simplen Harmonie. Es werden eher Zwischenräume geöffnet, die andere Stimmen hörbar machen. Das kann zu produktiven Disharmonien führen, die dann, übertragen wir das Bild ins Politische, einen epistemischen Wandel möglich machen. Eine hegemoniale Stimme kann nicht einfach durch eine Gegenstimme ersetzt werden, es gilt vielmehr die Heterogenität und scheinbare Disharmonien als Verstehensraum zu etablieren. Kontrapunktische Solidarität sucht entsprechend nach einem anderen Verstehen, das nicht von der einzigen Wahrheit geleitet wird. Sie ist gewissermaßen anti-dogmatisch. Die Einzelnen schlagen lediglich Perspektiven vor und rechnen mit Widerspruch, ja, hoffen auf ihn. Eine solche Vorstellung von Solidarität als eine kontrapunktische Praxis versteht sich gut mit dem Vorschlag, anstatt von Individuen zu...


Oghalai, Bahar
Bahar Oghalai (M.A.) ist Sozialwissenschaftlerin und hat an der TU Darmstadt, der University of Massachusetts Dartmouth, der Humboldt Universität zu Berlin sowie am King’s College London Soziologie und Politikwissenschaft studiert. Seit 2019 forscht und lehrt sie in diversen Forschungs- und Universitätseinrichtungen, darunter das Deutsche Zentrum für Integrations- und Migrationsforschung und der Alice-Salomon-Hochschule.

Castro Varela, María do Mar
María do Mar Castro Varela ist Diplom-Psychologin, Diplom-Pädagogin und promovierte Politikwissenschaftlerin. Sie ist Professorin für Allgemeine Pädagogik und Soziale Arbeit an der Alice Salomon Hochschule Berlin sowie Mitglied der Forschungsgruppe »Radiating Globality« und hat 2017 das bildungsLab* gegründet.


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