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Özyürek | Stellvertreter der Schuld | E-Book | sack.de
E-Book

E-Book, Deutsch, 320 Seiten

Özyürek Stellvertreter der Schuld

Erinnerungskultur und muslimische Zugehörigkeit in Deutschland

E-Book, Deutsch, 320 Seiten

ISBN: 978-3-608-12411-8
Verlag: Klett-Cotta
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark



»Der deutsche Weg der Holocaust-Erinnerung verhindert den Kampf gegen Antisemitismus.« Jahrelang hat die in Cambridge lehrende Anthropologin Esra Özyürek die deutsche Erinnerungskultur erforscht. Während sich Antisemitismus-Prävention lange Zeit auf ethnische Deutsche konzentrierte, wird die Schuld am Holocaust mittlerweile an muslimische Minderheiten ausgelagert. »Stellvertreter der Schuld« erläutert, wie es zu dieser Entwicklung kam und warum sie den aktiven Kampf gegen Antisemitismus verhindert. Um die Jahrhundertwende rückten muslimische Einwanderer, türkisch- und arabischstämmige Deutsche ins Zentrum des Holocaust-Gedenkens. Antisemitismus-Präventionsprogramme wurden speziell auf sie zugeschnitten, damit auch sie die Täterperspektive verstehen und demokratische Werte verinnerlichen - ein Paradox, in dem rassistische und kulturelle Vorurteile gegenüber Muslimen aufklaffen. Sich selbst stellt die deutsche Gesellschaft kaum noch infrage, der vermeintliche Antisemitismus anderer müsse nun bekämpft werden. Wie ein »magischer Schlüssel« (Eva Menasse) lässt sich Özyüreks Analyse für die jüngsten Debatten um Antisemitismus in Deutschland gebrauchen: Es wurde nicht so viel aus der Geschichte gelernt, wie erhofft. Antisemitismus wird nicht verhindert, sondern verschleiert und ausgelagert. Antimuslimische Haltungen verfestigen sich. Eine haarscharfe Analyse und ein notwendiges Korrektiv deutscher Erinnerungskultur nach 1945.

Esra Özyürek ist Professorin an der Universität von Cambridge. Nach ihrem Abschluss in Politikwissenschaft und Soziologie an der Bogazici-Universität in Istanbul promovierte sie in Anthropologie an der University of Michigan, Ann Arbor. Sie ist die Autorin von » Deutsche Muslime - muslimische Deutsche: Begegnungen mit Konvertiten zum Islam« (2017).
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Vorwort
von Eva Menasse
Für die intellektuelle Redlichkeit ist es eminent wichtig, sich klarzumachen, dass man immerzu in einer definierten Zeitgenossenschaft lebt: Sie, die Zeitgenossenschaft, lässt Gesellschaften manches scharf betonen, anderes dagegen fast völlig übersehen. Aber alles ist einmal so geworden, wie es jetzt ist; kein Gedankengebäude, das wir für angemessen oder wichtig halten, ist es immer schon gewesen. Und wird es daher nicht für immer sein. Historikerinnen und Soziologen in 50 oder 100 Jahren werden vermutlich kein Problem damit haben, den 11. September 2001, neben vielem anderen, auch als den Moment zu betrachten, ab dem, im guten, alten, unscharfen Pauschalverdachtsmodus, »die Muslime« zu den vermeintlichen Hauptgefährdern der »westlichen Welt« wurden. Niemand, der damals schon erwachsen war, wird den Tag je vergessen, als 19 Terroristen des islamistischen Netzwerks al-Qaida mittels entführter Flugzeuge die beiden Türme des World Trade Centers in Manhattan zum Einsturz brachten und fast 3000 Menschen mit in den Tod rissen. Das Entsetzen der westlichen Welt wurde noch dadurch gesteigert, dass die spektakuläre Untat auf den Straßen vieler arabischer Staaten von frenetischen Massen gefeiert wurde. Der elfte September gilt seither als Zäsur im Verhältnis zwischen der westlichen und der arabischen Welt. Das mag, außenpolitisch und nach Ländern oder Weltgegenden betrachtet, so sein. Aber was ist mit den Millionen Muslimen, die schon Jahrzehnte davor in die Staaten der westlichen Welt eingewandert sind und dort teilweise in zweiter und dritter Generation leben? Gehören sie eher hierhin oder dorthin? Hält man sie für bedrohliche, unkurierbare Fanatiker, die uns anderen quasi täglich nach dem Leben trachten, eine Art neuer fünfter Kolonne? Oder rechnet man sie doch mehrheitlich zu den eigenen Leuten, anerkennt sie als Deutsche, Amerikaner, Franzosen, Engländer, »Bürger mit Migrationshintergrund« zwar, wie es in grashalmfeiner Unterscheidung heißt, die aber genau wie man selbst gern in Freiheit und Sicherheit leben und ihre Kinder großziehen, viel lieber jedenfalls als in Kriegen, Bürgerkriegen, unter Mördern, Mullahs und Tyrannen? (Den Anteil des Westens an vielen politischen Verhältnissen dort lassen wir hier jetzt mal weg.) Das ist die gar nicht so komplexe Frage, die einem das eigene Land, je nach individueller Antwort, völlig anders aussehen lassen kann. Die andere, gegenüberliegende Frage wird von Esra Özyürek in ihrem wegweisenden Buch zwischen den Zeilen ständig gestellt: Und wie sehen sie sich eigentlich selbst, diese Menschen aus muslimischen Kulturen, deren Vorfahren zu einem Teil ja auch den deutschen Wiederaufbau nach dem Weltkrieg mitgeschultert haben? Wie sehr fühlen sie sich »drinnen« oder immer noch »draußen«? Zu welchen Anpassungsleistungen sind sie im Extremfall bereit, um als gute Deutsche akzeptiert zu werden? Und diese Frage noch ein weiteres Mal gespiegelt: Was erwarten die Deutschen eigentlich ganz genau von ihnen, und wäre das je zu erfüllen? Nach dem faszinierenden Prinzip des schwarzen Punkts auf der eigenen Nase liegen manche Phänomene viel zu nahe, um überhaupt bemerkt zu werden; manchmal glaubt man es nicht einmal, wenn es einem alle anderen sagen. Jedenfalls brauchte es für dieses Buch offenbar eine türkische, vorwiegend im englischsprachigen Raum lebende und lehrende Anthropologin, um das viel beschworene Problem »Erinnerungskultur und Migration« aus dem Wolkenraum der Sonntagsreden und Leitartikel herunterzuholen und dann so schön altmodisch durch Anschauung, Fakten und Analyse zu erden. Was hat Esra Özyürek in ihrer Attacke auf deutsche Scheuklappen getan? Sie hat sich die betreffenden Programme näher angeschaut, seit »in den 2000er-Jahren die Antisemitismusbildung für deutsche Jugendliche aus der Mehrheitsgesellschaft drastisch reduziert und durch Programme für Muslime ersetzt wurde« – schon das eine dieser vielen Nebenbemerkungen, bei der man sofort auf Stopp drücken will: Moment mal, wer hat das eigentlich entschieden und wieso? Özyürek hat sich also voller Neugier und Zuneigung reingesetzt in Gruppen, die Heroes heißen oder Junge Muslime in Auschwitz, sie hat die türkischen Stadtteilmütter aus Kreuzberg getroffen und berichtet von deren für alle Seiten, sogar die Leser und Leserinnen, peinigendem Cultural Clash mit den christlichen Frauen der Aktion Sühnezeichen. Denn die türkischen Frauen, zum ersten Mal mit allen grauenvollen Details des Holocausts konfrontiert, beginnen sich vor den Deutschen schrecklich zu fürchten – als hätten sie, eine im Alltag leicht erkennbare und ohnehin oft genug verächtlich behandelte Minderheit, nicht schon Grund genug dazu. Das aber empfinden wiederum die Frauen von der Aktion Sühnezeichen als unerträglich, geradezu als Sakrileg. Als aufgeklärte und an ihrer eigenen Geschichte geschulte Deutsche haben sie nämlich nur ein Schema im Lehrplan ihrer Aufklärungsarbeit: dass jeder lernen müsse, wie leicht man zum Täter wird. Vor allem aber hat Esra Özyürek männliche arabische und türkische Jugendliche interviewt und begleitet, hat sich ihre Motive für diese Trainings, ihre dort entwickelten Theaterstücke und Rollenspiele erklären lassen, ihre Wünsche und Erwartungen ebenso wie die ihrer Betreuer – die selbst aus verschiedenen Gruppen stammen. Deutsche sind ebenso darunter wie solche aus den Sprachräumen ihrer Klienten. Merkwürdigerweise aber gehen alle Betreuer, ungeachtet ihrer Herkunft, von denselben pädagogischen Überzeugungen aus, ohne sie genauer zu hinterfragen: dass solche Jugendliche eine bessere, tiefere, jedenfalls eine spezielle Schulung gegen Antisemitismus und für die deutsche Erinnerungskultur brauchen als Gleichaltrige ohne »Migrationshintergrund«, obwohl sie doch alle dasselbe Schulsystem durchlaufen haben und im selben Land aufgewachsen sind. Stellvertreter der Schuld ist, anders als der Untertitel vermuten lässt, keine trockene soziologische Arbeit, sondern eine gelassene, erfahrungs- und analysegesättigte Erzählung aus dem zeitgenössischen Deutschland, eine streckenweise frappierende Geschichte über junge Menschen aus türkischen oder arabischen Familien und ihre Interaktion mit der sie umgebenden und sie täglich verdächtig machenden Mehrheitskultur. Es enthält so bizarre wie rührende Momentaufnahmen – etwa als die muslimische Jungensgruppe aus den Duisburger Arbeitervierteln am Vorabend ihres Besuchs von Auschwitz-Birkenau so sehr die eigene Empathiefähigkeit infrage stellt, so verzweifelt ihre Angst vor einem ihnen selbst ungreifbaren, aber angeblich eingewurzelten Antisemitismus formuliert, den ihnen ihre Umgebung erfolgreich eingeredet hat: »Man hat das Gefühl, sie müssten morgen eine wichtige Prüfung ablegen, bei der sich an der Art der Gefühle, die sie vorweisen, ablesen lässt, was für ein Mensch sie tatsächlich sind«, schreibt Özyürek. Und spätestens da erkennt man erschrocken, wie sich das jahrzehntelange, ernste und ernsthafte Ringen der Deutschen mit der historischen Schuld ihrer Vorfahren, mit der nationalsozialistischen Vergangenheit und den daraus zu ziehenden »Lehren« so unbemerkt wie ungut verschoben hat – weg von ihnen selbst, die nun offenbar schon alles perfekt gelernt und aufgearbeitet haben, hin zu vermeintlich bedürftigen Nachhilfeschülern, die beim Nachsitzen jedoch nicht zu erfolgreich sein dürfen, weil ja sonst die engagierten Lehrer arbeitslos würden. Und plötzlich fällt einem auch auf, wie lange schon keine Rede mehr vom »Schlussstrich« war – noch vor 20 Jahren ein Dauerverdacht, eine Dauerunterstellung in jeder erinnerungskulturellen Debatte. Aber wer eine sinnvolle Tätigkeit im Kampf gegen den Antisemitismus gefunden zu haben glaubt, braucht keine Angst vor dem Schlussstrich mehr zu haben. Er arbeitet ja auch dagegen an, Tag für Tag. In diesem Vorwort soll nicht vorweggenommen werden, was ein aufgeschlossener Leser, eine wohlgesonnene Leserin Seite für Seite selbst entdecken und begreifen kann, vor allem nämlich daran, wie Deutschland sein erinnerungspolitisches Erbe heute interpretiert. Allerdings sollten hier gleich ein paar der Verdächtigungen und Einwände ausgeräumt werden, die dem einen oder der anderen bestimmt schon ganz locker sitzen. Nein, Özyüreks Studie bestreitet nicht, dass es Antisemitismus unter Einwanderern aus muslimischen Ländern gibt. Sie redet auch den Machismo, die Misogynie und das Anhängen an konservativen Geschlechterrollen in diesen Gruppen keineswegs klein. Und natürlich sind die jungen Menschen, die sich entschlossen haben, an Programmen wie Heroes oder Junge Muslime in Auschwitz teilzunehmen, eine (ganz besondere) Minderheit in der Minderheit. Aber die Erkenntnisse, die Esra Özyürek aus dem spezifischen Charakter dieser Sozialarbeit gewinnt, sind in einem viel größeren Maßstab lehrreich, geradezu augenöffnend. Im Grunde folgt sie damit dem konzeptuellen Rahmen, den Y. Michal Bodemann für das deutsch-jüdische Verhältnis nach dem Holocaust in den 90er-Jahren entwickelt hat: Bodemann fragte damals nicht danach, was die Deutschen sagen, sondern was sie tun, wenn sie öffentlich des Holocausts gedenken, und erfand dafür den Begriff »Gedächtnistheater«: Immer wieder würden Deutsche den Bruch mit der eigenen Vergangenheit inszenieren, und ein jüdisches Publikum sollte dazu zwar nicht gerade applaudieren, aber wenigstens beifällig nicken. Seither ist Zeit...


Özyürek, Esra
Esra Özyürek ist Professorin an der Universität von Cambridge. Nach ihrem Abschluss in Politikwissenschaft und Soziologie an der Bogazici-Universität in Istanbul promovierte sie in Anthropologie an der University of Michigan, Ann Arbor. Sie ist die Autorin von 'Deutsche Muslime – muslimische Deutsche: Begegnungen mit Konvertiten zum Islam' (2017).

Esra Özyürek ist Professorin an der Universität von Cambridge. Nach ihrem Abschluss in Politikwissenschaft und Soziologie an der Bogazici-Universität in Istanbul promovierte sie in Anthropologie an der University of Michigan, Ann Arbor. Sie ist die Autorin von 'Deutsche Muslime – muslimische Deutsche: Begegnungen mit Konvertiten zum Islam' (2017).

Esra Özyürek ist Professorin an der Universität von Cambridge. Nach ihrem Abschluss in Politikwissenschaft und Soziologie an der Bogazici-Universität in Istanbul promovierte sie in Anthropologie an der University of Michigan, Ann Arbor. Sie ist die Autorin von » Deutsche Muslime – muslimische Deutsche: Begegnungen mit Konvertiten zum Islam« (2017).


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