Ein Schlüssel zum besseren Verständnis sozialer Konflikte in Familie, Schule, Betrieb und Politik
E-Book, Deutsch, 272 Seiten
ISBN: 978-3-8301-1854-1
Verlag: Fischer, R. G.
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Das Studium der Gruppendynamik bzw. die Reflektion des gruppendynamischen Prozesses setzt uns in die Lage, einige dieser Fragen und Phänomene besser zu verstehen. Zahlreiche gesellschaftliche Vorgänge erscheinen plötzlich in einem anderen Licht, erhellen einen anderen Sinn und lassen sich in einem neuen Zusammenhang interpretieren. Dabei wird das Thema Gruppendynamik, ausgehend von der Darstellung praktischer Beispiele aus Familie, Schule und Betrieb, im Verlauf des Textes mehr und mehr theoretisch vertieft.
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1.6Die Gruppe im Spannungsfeld gesamtgesellschaftlicher Kräfte
Im folgenden Beispiel einer ostschweizerischen Sonderschule können wir diese Zusammenhänge deutlich sehen. Es handelt sich um eine große "Sonderschule" mit angeschlossenem Internat, und es wurde bemängelt, daß die Zusammenarbeit zwischen den Lehrern bzw. Lehrerinnen und den Erziehern bzw. Erzieherinnen mangelhaft und das Betriebsklima allgemein schlecht sei. Der Betriebsberater stellte folgende Ursachen für die Probleme fest: Die Lehrer und Lehrerinnen dieser Schule nahmen zahlreiche Privilegien in Anspruch, genossen höheres Ansehen und erfreuten sich einer großzügigeren finanziellen Honorierung als die ErzieherInnen des Internats. Der soziale Status der LehrerInnen war zudem beträchtlich höher. Diesen Statusunterschied wollten die ErzieherInnen nicht mehr hinnehmen. Während die Erziehungspersonen früher eher die Aufgabe von "LückenbüßerInnen", "PausenfüllerInnen" oder von "Hüetimeitlis" bzw. "Hüetibubis" innehatten, repräsentierten sie jetzt das Berufsbild qualifizierter SozialpädagogInnen, die während der unterrichtsfreien Zeit einen in der Schulbeschreibung klar definierten Erziehungsauftrag zu erfüllen hatten. Dieser Wandel in der Aufgabenstellung an die SozialpädagogInnen war die Folge eines allgemeinen gesellschaftspolitischen Wertewandels, in dem die erzieherischen, pflegerischen, sozialen bzw. therapeutischen Möglichkeiten neben den schulbezogenen Leistungskategorien aufgewertet wurden. In diesem Sinne waren es also großgruppendynamische bzw. gesellschaftliche Probleme, mit denen sich die LehrerInnen bzw. ErzieherInnen an der "Front" der Sonderschule konfrontiert sahen, denn ähnliche Auseinandersetzungen waren aus dem Gesundheitswesen (zwischen den ÄrztInnen und dem Pflegepersonal) und aus der Berufswelt (zwischen den AkademikerInnen und den MitarbeiterInnen mit praxisbezogener Berufslehre) bekannt. Mit dem Aufdecken dieser Zusammenhänge zwischen dem externen gesellschaftlichen Wertewandel und der internen Gruppendynamik waren die Probleme dieser Sonderschule leider nicht gelöst. Es zeigte sich bald, daß die Konflikte zwischen den Berufsgruppen unterschwellig noch aus anderen Quellen genährt wurden: In allen Konferenzen wurde eine auffällige Konfliktscheu beobachtet. Von zuoberst bis zuunterst in der Betriebshierarchie schien die Tendenz vorzuherrschen, die gefühlsmäßige Seite aller Interaktionsvorgänge abzuspalten und als sogenannte Selbstverwirklichungs-, Selbsterfahrungs- oder gar Therapiebedürfnisse zu desavouieren. Mit diesem Argument wurden alle Gefühle, die angst machten, abgewehrt bzw. verdrängt. Aber mit verdrängten Gefühlen ist es wie mit den Köpfen einer Hydra: je schneller man sie abschlägt, desto schneller wachsen sie nach! In den Gremien war ein großes Bedürfnis nach Ausdruck und Gestaltung der Emotionen zu spüren. Jede Konferenz verwandelte sich sofort in eine intensiv über die wesentlichen Grundfragen der Institution diskutierende Gesprächsrunde, sobald das Tabu, über Emotionen und Prozesse zu reden, durchbrochen war. Es entstand spontan das Bedürfnis nach zusätzlichen Sitzungen, um die aufgeworfenen Fragen zu Ende zu diskutieren. Es scheint in allen Gruppen, auch in betrieblichen Arbeitsgruppen, ein unstillbares Verlangen zu geben, sich angemessen und emotional über die wesentlichen Dinge des Lebens, über die Grundfragen des Zusammenlebens und über die Sinnfrage des Arbeitens auszutauschen. Es war interessant, festzustellen, daß die Sachfragen und Konflikte schneller bewältigt werden konnten, wenn Raum für grundsätzliche Diskussionen vorhanden war. Zwischen der Effizienz, Sachfragen zu lösen, und der unbewußten Gruppendynamik des Gremiums besteht allgemein eine komplexe Wechselwirkung: Wenn die Lösung der Sachprobleme auf der Sachebene nicht mehr möglich ist, muß das Problem auf der gruppendynamischen Ebene angesiedelt werden. Es sind dann meist Rivalitätstendenzen, Neid- und Eifersuchtsgefühle oder andere Beziehungskonflikte, die die sachbezogene Kommunikation überlagern bzw. stören. Und wenn die Gruppendynamik blockiert ist, liegt das Problem bei den individuellen Anpassungsschwierigkeiten einzelner Mitarbeiter. Diese Probleme könnten nur im Rahmen einer psychotherapeutischen Behandlung angegangen werden. Hier stoßen wir an die Grenzen dessen, was an Konflikten in einer Arbeitsgruppe bewältigt werden kann. Immer wieder gibt es Probleme, die durch persönliche Schwierigkeiten verursacht werden, die im Rahmen eines normalen Arbeitsverhältnisses nicht zu tragen sind und deshalb nicht selten zu einer Auflösung des Arbeitsvertrages führen. Auf der Suche nach den Gründen für das übervorsichtige und ängstliche Verhalten der Mitarbeiter wurde der Berater bald fündig: Die schwachen Persönlichkeiten des Schulleiters und des Präsidenten des Stiftungsrates bestimmten das gesamte Kommunikationsverhalten der Institution. Weder Schulleiter noch Präsident waren in der Lage, konstruktive konfliktorientierte Auseinandersetzungen zu führen und zwischen den Konfliktparteien zu vermitteln. Der Schulleiter blockierte kritische Stellungnahmen rigide und ängstlich ab und war sowohl im Umgang mit seinen Mitarbeitern als auch mit den Eltern seiner Schüler ungeschickt und hilflos. Aus letzteren Gründen wurde die Beratung abgebrochen. Der Schulleiter fühlte sich durch das Offenlegen der Probleme bedroht und schob den "Schwarzen Peter" im Rahmen seiner Abwehrhaltung dem Betriebsberater zu. Auch dieses Beispiel zeigt, daß die Leitung einer größeren Institution schwierig ist und besonderer gruppendynamischer Kenntnisse bedarf. Diese bestimmen in hohem Maße sowohl die Effizienz des ganzen Betriebes als auch die Atmosphäre, in der sich alles Verhalten ereignet. Letztlich hängt alles vom gruppendynamischen Leiter bzw. von der Leiterin und seiner bzw. ihrer Fähigkeit ab, das soziale Handeln zu reflektieren. Betriebliche Probleme können nicht gelöst werden, wenn die auf die Gruppen und deren Umwelt bezogene Reflexion fehlt. Leiter bzw. Vorgesetzte müssen sich in Frage stellen lassen. Das obige Beispiel führt uns noch einen weiteren wichtigen Aspekt vor Augen: Die ersten Fallstudien bezogen sich auf Schulklassen. Diese sind in ihrer Struktur relativ homogen und in ihrer Größe begrenzt. Im Gegensatz dazu gibt es neben kleinen Betrieben auch mittelgroße Unternehmungen oder Großbetriebe. Betriebliche Gruppen scheinen in ihrer Größe keine Grenzen zu kennen. Aber welches ist der entscheidende gruppendynamische Unterschied zwischen einer Schulklasse und einer betrieblichen Gruppe? In der Schule haben wir verschiedene Strukturen vorgefunden, z.B. die "Viererbande" in der Berufsaufbauschule oder die Untergruppen der Lehrlinge in der Berufsschule, die einen eher zufälligen, "nichtformellen" Charakter hatten. Diese waren in ihrer Zusammensetzung flexibel und in Abhängigkeit von den gruppendynamischen Interaktionen stets veränderbar. Im Gegensatz dazu gibt es in Betrieben starre "formelle" Organisationsstrukturen. 1.7Der Gegensatz zwischen der "formellen" und "informellen" Gruppendynamik
Das besondere in der betrieblichen Gruppendynamik ist das unkoordinierte Gegeneinander bzw. Miteinander zwischen der "formellen" und der "informellen" Personalstruktur. Die "formelle" Struktur ist von der Betriebsleitung her gegeben und kennzeichnet die Hierarchie bzw. die Arbeitsteilung des Betriebes. Sie ist das Ergebnis betriebsorganisatorischer bzw. betriebsökonomischer Überlegungen und wird von oben nach unten im Organigramm hierarchisch organisiert. Unter der Ebene der Eigentümer steht der Vorstand bzw. die Direktion oder die Geschäftsführung des Betriebes, die der Eigentümerversammlung Rechenschaft schulden. Schon hier ist das freie Spiel der Gruppendynamik eingeschränkt, weil diese Gremien von den Eigentümern abhängig sind. Noch größer ist die Einschränkung auf der mittleren Ebene. Die mittlere Führungsschicht wird von der oberen ausgewählt. Die hochqualifizierte mittlere Führungsschicht muß fachspezifisch ausgebildet und angemessen fortgebildet werden, was der freien Fluktuation ökonomisch Grenzen setzt. Zudem sind alle Arbeits- bzw. Kündigungsbedingungen in relativ unflexiblen Verträgen fixiert. Auf der untersten Ebene, auf der Ebene der Arbeiter und Angestellten, ist die Fluktuation wieder höher. Die Flexibilität wird aber auf der einen Seite durch Arbeitsverträge, Gesamtarbeitsverträge, gewerkschaftliche Absprachen und auf der anderen Seite durch Organigramme, Stellenbeschreibungen, Pflichtenhefte usw. eingeschränkt. Zusammenfassend betrachtet stehen dem freien Spiel der betrieblichen Gruppendynamik viele Hindernisse entgegen, die...