Jenseits des durchgetakteten Lebens
E-Book, Deutsch, 441 Seiten
ISBN: 978-3-406-80771-8
Verlag: C.H.Beck
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Was tun, wenn die Zeit immer zu knapp scheint? Um diese scheinbar einfache Frage zu beantworten, taucht Odell tief in die Geschichte der Menschheit ein. Sie rekonstruiert, wie es zur Einteilung des Tages in 24 gleichförmige, austauschbare Zeiteinheiten kommen konnte. Sie führt uns zur Entstehung der "Zeit ist Geld"-Mentalität an den Fließbändern der tayloristischen Fabrik. Und sie problematisiert die Vermarktung von Entschleunigung als leicht konsumierbare Freizeiterfahrung in Yoga- und Achtsamkeitsretreats. Dabei entlarvt Odell die kapitalistischen und kolonialistischen Wurzeln unserer Zeiterfahrung und zeigt, wie diese untrennbar mit der Zerstörung unserer natürlichen Umwelt verbunden sind. Jenny Odells schillerndes, unkonventionelles Buch ist kein weiterer Ratgeber für effizientere Zeit- und Selbstoptimierung. Es ist das kluge und zutiefst hoffnungsvolle Plädoyer für ein Leben jenseits der tickenden Uhr, das mehr Raum für zwischenmenschliche Nähe, gesellschaftliche Teilhabe und Klimagerechtigkeit bietet. er:innen von Rebecca Solnit und Naomi Klein
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KAPITEL 1 Wessen Zeit, wessen Geld?
DER HAFEN VON OAKLAND Zeit bedeutet für mich so etwas wie Lebensdauer und das Altern
von Individuen vor dem Hintergrund der Geschichte unserer Welt,
des Universums und der Ewigkeit. Dominique, Schullehrerin,
in einem Interview in Barbara Adams Timewatch[1] Zeitatome sind die Elemente des Gewinns. Britischer Fabrikdirektor im 19. Jahrhundert,
zitiert in Karl Marx, Das Kapital[2] Wir sind von Westen her durch den Seventh-Street-Tunnel in den Hafen von Oakland gelangt, in einer sonnenverblichenen Limousine, die ich seit der Highschool fahre. Das Display der Uhr in diesem Auto ist irgendwann lange zuvor verloschen, aber mein Handy sagt uns, dass es sieben Uhr morgens ist, acht Minuten nach Sonnenaufgang. Vor uns liegt eine weite Betonfläche, durchbrochen von Palmen und allen möglichen Dingen: Trucks ohne Container; Container ohne Trucks, Chassis, Reifen, Kisten, Paletten. Alles zusammengeschmissen, manchmal gestapelt, so verteilt, dass wir es nicht gleich durchschauen. Eine Arbeitslandschaft. Wo die BART-Schienen und ihr Maschendrahtzaun im Untergrund verschwinden, um unterhalb der San Francisco Bay weiterzulaufen, geben sie den Blick frei auf eine andere Art von Zug, in zwei Reihen übereinander bepackt mit Containern in bunt gemischten Farbkombinationen: weiß und grau, leuchtend pink und marineblau, grellrot und staubig dunkelrot. Es gibt ein paar Hinweise auf menschlich-körperliche Belange: ein rot gestrichener Picknicktisch, eine mobile Toilettenkabine, ein leerer Essensstand und ein Werbebanner für chiropraktische Dienstleistungen. Wir fahren in den Middle Harbor Shoreline Park ein, der vom SSA Marine Terminal durch einen durchsichtigen Zaun getrennt ist. Gleich auf der anderen Seite stehen die Container in sechs Reihen übereinander gestapelt, wie eine unendlich große Stadt aus gewelltem Metall. Ein Stück weiter erheben sich dinosaurierartige Gestalten: blaugrüne Portalstapler und weiße Schiffskräne, von denen manche 16 Stock hoch sind. Ein wuchtiges Schiff, das gerade aus Shenzhen gekommen ist, liegt unter ihnen. Aber im Augenblick stehen die Geräte still; die Arbeiter stempeln sich gerade ein. Im Juli 1998 beschloss das Italian National Institute for Nuclear Physics (INFN), dass seine Mitarbeiter sich im Labor ein- und ausstempeln sollten.[3] Sie ahnten noch nicht, was für eine Welle der Empörung das auslösen würde, nicht nur im Institut selbst, sondern weltweit. Hunderte Wissenschaftler schrieben Beschwerdebriefe, um die INFN-Physiker zu unterstützen: In ihren Augen war dieser Schritt sinnlos bürokratisch, beleidigend und passte nicht zur tatsächlichen Arbeitsweise der Forscher. «Gute Wissenschaft kann nicht mit der Uhr gemessen werden», schrieb der ehemalige Direktor des American Institute of Physics. Ein Physikprofessor der Rochester University argwöhnte, dass offenbar «die Bekleidungsindustrie der USA das INFN berate, wie es seine Produktivität steigern solle». Und der stellvertretende Direktor des Lawrence Berkeley National Laboratory schrieb mit schneidendem Sarkasmus: «Als nächstes werden sie Euch wahrscheinlich an Eure Schreibtische und Laborbänke ketten, damit Ihr nicht mehr rausgeht, wenn Ihr einmal drin seid, oder noch besser Gehirnmonitore installieren, um sicherzugehen, dass Ihr am Schreibtisch über Physik nachdenkt und über nichts anderes.» Von allen Briefen, die auf diese neue Politik reagierten, zeigten sich nur ein paar gegenüber dem Protest der Wissenschaftler ambivalent. Der klarste Widerspruch kam von Tommy Anderberg, von dem sonst wenige Beiträge zu finden sind und der keine beruflichen Verbindungen aufweist. Stattdessen nennt er sich einen Steuerzahler, und zwar einen, der wütend ist über dieses Gequake öffentlicher Angestellter: Ihre Arbeitgeber, in diesem Fall jeder, der in Italien Steuern zahlt (die echten, Geld, das aus Gehältern der Privatwirtschaft stammt, nicht das Stück buchhalterische Fiktion, das für Ihren eigenen steuerfinanzierten Gehaltscheck gilt), haben jedes Recht, zu verlangen, dass Sie zu den vertraglich festgelegten Zeiten an Ihrem Arbeitsplatz sind. Wenn Sie Ihre Arbeitsbedingungen nicht mögen, dann kündigen Sie. In der Tat habe ich einen großartigen Vorschlag, wenn Sie wirkliche Freiheit wollen. Tun Sie, was ich getan habe: Gründen Sie Ihr eigenes Unternehmen. Dann können Sie selbst bestimmen, wo es langgeht, und arbeiten wann, wo und mit was immer Ihnen beliebt. Im Kern geht es bei dieser Unstimmigkeit – zwischen den arbeitenden Wissenschaftlern auf der einen und dem INFN und Tommy Anderberg auf der anderen Seite – nicht nur darum, was Arbeit ist, und wie sie bemessen werden sollte. Es geht auch darum, was ein Arbeitgeber kauft, wenn er jemandem Geld zahlt. Für Anderberg ist das ein Gesamtpaket, das nicht nur die Arbeit enthält, sondern auch Lebensminuten, körperliche Präsenz und Erniedrigung mit einschließt. Wie die ironischen Scherze der Wissenschaftler über Fabriken und «an den Schreibtisch gekettet sein» (ein Bild, das in mehreren Briefen vorkommt) in Erinnerung rufen, stammt das Konzept des Ein- und Ausstempelns von industriellen Arbeitsmodellen. Eine der vermutlich besten Illustrationen dieses Modells ist der Beginn von Charlie Chaplins 1936 erschienenem Film Modern Times. Das allererste Bild in diesem Film ist das einer Uhr – streng, rechteckig und hinter dem Vorspann bildfüllend.[4] Dann geht das Bild einer getriebenen Schafherde in die Ansicht von Arbeitern über, die aus der U-Bahn kommen und zur Arbeit bei der «Elektro Steel Corp.» eilen, wo zwei sehr verschiedene Arten von Zeit nebeneinander existieren. Die erste ist entspannt: Der Präsident der Firma sitzt allein in einem ruhigen Büro, arbeitet halbherzig an einem Puzzle und überfliegt unmotiviert die Zeitung. Nachdem seine Sekretärin ihm Wasser und eine Tablette gebracht hat, ruft er die Ansichten einer Überwachungskamera auf, die verschiedene Bereiche der Fabrik zeigen. Wir sehen, wie sein Gesicht auf einem Bildschirm vor einem Arbeiter erscheint, der für das Tempo der Fabrik zuständig ist. «Sektion fünf muss schneller machen, vier eins!», bellt er. Chaplins Charakter, der Tramp, ist nun der zweiten Temporalität ausgesetzt – die einer quälenden, immer intensiver werdenden Zeit. Er arbeitet fieberhaft an einem Fließband und schraubt Muttern in Maschinenteile, gerät aber in Rückstand, als er sich einmal kratzen muss oder von einer Biene abgelenkt wird, die um seine Nase kreist. Nachdem sein Vorarbeiter ihm eine Pause verordnet hat, läuft er mit ruckartigen Schritten davon und führt die Bewegungen seiner Fließband-Tätigkeit weiter aus. Im Waschraum geht der manische Soundtrack kurz in eine Träumerei über, der Tramp wird ein wenig ruhiger und gönnt sich eine Zigarette. Aber sogleich erscheint das Gesicht des Präsidenten an der Wand: «He! Hören Sie auf zu trödeln! Zurück an die Arbeit!» Indessen testet die Firma eine Erfindung, durch die Zeit eingespart werden soll. Diese kommt mit ihrer eigenen Werbeschallplatte ins Haus: «Die Billows-Fütterungsmaschine, ein praktisches Gerät, das Ihre Männer während der Arbeit automatisch füttert. Machen Sie keine Pause, um zu Mittag zu essen! Seien Sie Ihren Konkurrenten voraus. Die Billows-Fütterungsmaschine wird die Mittagspause abschaffen.» In seiner Pause wird der Tramp von der Geschäftsleitung als Versuchsperson ausgewählt und in eine Art Ganzkörperschraubstock hinter einen kreisenden Servierteller gespannt. Die Dinge laufen aus dem Ruder, als die Maschine beginnt durchzudrehen, der Maiskolbenrotierer immer schneller wird und dem Tramp den herumwirbelnden Maiskolben immer wieder ins Gesicht presst. Für mich ist die Maiskolbenfehlfunktion einer der lustigsten Filmmomente, die ich je gesehen habe. Auf der einen Seite macht sich die Szene über den Drang des...