E-Book, Deutsch, 480 Seiten
Oakley Die kuriosen Symptome der Liebe
1. Auflage 2017
ISBN: 978-3-641-20710-6
Verlag: Wunderraum
Format: EPUB
Kopierschutz: Adobe DRM (»Systemvoraussetzungen)
Roman
E-Book, Deutsch, 480 Seiten
ISBN: 978-3-641-20710-6
Verlag: Wunderraum
Format: EPUB
Kopierschutz: Adobe DRM (»Systemvoraussetzungen)
Jubilee Jenkins hat das Haus seit neun Jahren nicht mehr verlassen. Sie leidet an einer sehr seltenen Krankheit - einer Allergie gegen Menschen. Nach einem beinahe tödlichen Kuss hat sie sich mit ihren zahllosen Büchern zurückgezogen. Als ihre Mutter jedoch überraschend stirbt, muss Jubilee sich wohl oder übel der Außenwelt stellen. Sie findet in der örtlichen Bibliothek nicht nur einen Job, sondern auch eine zweite Heimat und echte Freunde. Und als sie dem charmanten Eric und seinem eigensinnigen Adoptivsohn Aja begegnet, verspürt Jubilee zum ersten Mal wieder den Wunsch, jemandem wirklich nahezukommen. Doch die Berührung eines Menschen kann sie das Leben kosten ...
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Colleen Oakley war leitende Redakteurin der Marie Claire und Chefredakteurin der Women's Health & Fitness. Ihre Artikel wurden in zahlreichen Medien, unter anderem der New York Times, publiziert. Sie lebt mit ihrem Mann, vier Kindern und Bailey, dem größten Schoßhund der Welt, in Atlanta.
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ERSTES KAPITEL Jubilee Einmal hat mich ein Jungs geküsst, und ich wäre beinahe gestorben. Das klingt jetzt natürlich nach einem melodramatischen Teenie-ismus, mit hoher Quietschestimme gequiekt und von schrillem Kreischen eingerahmt. Aber ich meine es buchstäblich so, wie ich es sage. Würde man die Ereignisse chronologisch auflisten, läse sich das wie folgt: Ein Junge hat mich geküsst. Meine Lippen fingen an zu kribbeln. Meine Zunge schwoll an, bis sie den ganzen Mund ausfüllte. Mein Hals schnürte sich zu, und ich bekam keine Luft mehr. Mir wurde schwarz vor Augen. Es ist schon peinlich genug, einfach umzukippen und in Ohnmacht zu fallen, wenn man gerade zum ersten Mal im Leben geküsst worden ist, aber viel schlimmer ist es, wenn sich später herausstellt, dass dieser Kuss für den Jungen nichts weiter war als eine Mutprobe. Eine kleine Wette. Da meine Lippen anscheinend absolut unküssbar waren, brauchte es ganze fünfzig Dollar, die ihn dazu bewegten, seinen Mund auf meinen zu pressen. Aber das Schrägste an der ganzen Geschichte kommt erst noch: Ich wusste schon vorher, dass mich dieser Kuss umbringen könnte. Zumindest theoretisch. Mit sechs wurde bei mir ein allergisches Kontaktekzem des Typs IV gegen fremde menschliche Hautzellen diagnostiziert. Das ist Medizinerlatein für: Ich bin allergisch gegen Menschen. Ja, genau. Menschen. Und ja, das ist extrem selten. Sprich, es gibt nur eine Handvoll anderer Patienten in der gesamten Menschheitsgeschichte, die unter einer derartigen Störung gelitten haben. Einfach ausgedrückt bekomme ich am ganzen Körper Pusteln und Quaddeln, sobald mich jemand berührt. Der Arzt, der damals die Diagnose gestellt hat, stellte auch die Hypothese auf, dass ich eine sehr viel schwerwiegendere Reaktion zeigen würde, Typ I bis hin zum anaphylaktischen Schock – sollte ich oralen Kontakt zu einem anderen Menschen haben (im Klartext: jemanden küssen). Aber ich war siebzehn, ein Teenie mit verschwitzten Händen und weichen Knien, und Donovan Kingsleys Lippen waren nur Zentimeter von meinen entfernt, da dachte ich keinen Augenblick an die Konsequenzen – selbst wenn sie tödlich sein könnten. In diesem Moment – dieser atemlosen Sekunde, in der seine Lippen auf meinen lagen –, da schien mir die Sache das Risiko beinahe wert. Bis ich das mit der Wette hörte. Als ich aus dem Krankenhaus nach Hause kam, verkroch ich mich sofort oben in meinem Zimmer. Und kam nicht mehr heraus. Obwohl es nur noch zwei Wochen bis zu den Sommerferien waren. Es war mein letztes Schuljahr auf der Highschool. Mein Abschlusszeugnis haben sie mir dann später nach Hause geschickt. Drei Monate später heiratete meine Mom Lenny, einen Tankstellenkettenbesitzer aus Long Island. Sie hat nur das Nötigste in einen Koffer gepackt und ist einfach gegangen. Das war vor neun Jahren. Seitdem habe ich das Haus nicht mehr verlassen. Es ist ja nicht so, als wäre ich eines Morgens aufgewacht und hätte mir gedacht: »Ich werde jetzt Einsiedlerin.« Ich mag den Begriff Einsiedler nicht mal. Das erinnert mich an diese tödliche Spinne, die ihr Gift in jedes arglose Tierchen spritzt, das nichtsahnend ihren Weg kreuzt. Aber nach diesem Erster-Kuss-Nahtod-Erlebnis wollte ich – nachvollziehbar, wie ich finde – nicht mehr aus dem Haus gehen aus Angst, dass mir einer meiner Mitschüler über den Weg läuft. Also bin ich zu Hause geblieben. Den ganzen Sommer habe ich in meinem Zimmer verbracht, Coldplay gehört und gelesen. Ich habe viel gelesen. Mom hat sich deshalb immer über mich lustig gemacht. »Immer steckst du mit der Nase in einem Buch«, stöhnte sie und verdrehte dabei die Augen. Aber ich las nicht nur Bücher. Ich las Zeitschriften, Zeitungen, Broschüren, alles, was ich in die Finger bekam. Und ohne es zu wollen, behielt ich fast alles von dem, was ich las, im Kopf. Was Mom ganz toll fand. Auf Kommando ließ sie mich – vor Freunden (von denen sie nicht allzu viele hatte) und Liebhabern (von denen sie viel zu viele hatte) – abstruse Fakten herunterrasseln, die ich aufgesaugt hatte wie ein Schwamm. Wie beispielsweise die Tatsache, dass der Prachtstaffelschwanz die untreuste Vogelart der Welt ist oder dass der Name des Kinderbuchautors Dr. Seuss sich korrekt ausgesprochen auf »Joyce« reimt oder dass die Erfindung der Schere auf Leonardo da Vinci zurückgeht (was einen eigentlich nicht weiter verwundern sollte, schließlich hat er tausende Dinge erfunden). In diesen Momenten strahlte sie über das ganze Gesicht, zuckte die Achseln, grinste schief und zirpte: »Keine Ahnung, von wem sie das hat.« Und ich fragte mich immer, ob darin nicht vielleicht ein Körnchen Wahrheit steckte, denn immer, wenn ich all meinen Mut zusammennahm und sie nach meinem Vater fragte – wie er hieß, zum Beispiel –, fuhr sie mich an und sagte so was wie: »Was interessiert dich das? Er ist weg, was kümmert der Kerl dich?« Alles in allem war ich als Jugendliche eine tragikomische Gestalt aus dem Kuriositätenkabinett. Und das nicht nur, weil ich keine Ahnung hatte, wer mein Vater war, oder weil ich ein unerschöpflicher Quell überflüssigen Wissens war. So außergewöhnlich war das alles nicht. Nein, es lag an meinem Zustand. So nannten sie es: Zustand. Und mein Zustand war auch der Grund, weshalb mein Pult in der Grundschule gut zweieinhalb Meter von denen der anderen Kinder entfernt stehen musste. Und weshalb ich in der Pause allein auf einer Bank saß und zusah, wenn die anderen Kinder wie eine lange Raupe die Rutsche runtersausten und Fangen spielten und ganz mühelos wie Äffchen am Klettergerüst herumhangelten. Und weshalb ich immer lange Ärmel und Hosen und Handschuhe tragen musste – die jeden Quadratzentimeter meines Körpers bedeckten, nur für den Fall, dass eins der Kinder, von denen man mich so akribisch zu separieren versuchte, doch versehentlich in meine persönliche Blase platzte. Und weshalb ich andere Mütter, die ihre Kinder beim Abholen von der Schule liebevoll in die Arme schlossen und fest knuddelten, immer mit offenem Mund anstarrte und mich fragte, wie sich das wohl anfühlen mochte. Und wenn man das alles zusammennimmt: mein Zustand, das Erster-Kuss-Nahtod-Erlebnis, der Auszug meiner Mutter – voilà! Schon hat man sämtliche Zutaten, die es braucht, um zur Einsiedlerin zu mutieren. Aber vielleicht hatte es auch gar nichts damit zu tun. Vielleicht war ich auch einfach gerne allein. Wie dem auch sei, hier sind wir nun. Und ich befürchte fast, im Laufe der Jahre bin ich quasi zum Boo Radley unserer Nachbarschaft geworden. Ich bin zwar weder blass, noch sehe ich irgendwie kränklich aus, aber ich glaube, die Kinder auf der Straße tuscheln über mich. Vielleicht starre ich ihnen zu lange nach, wenn sie auf ihren Kickboards vorbeisausen. Vor ein paar Monaten habe ich blickdichte blaue Vorhänge bestellt und vor jedes Fenster gehängt, damit ich mich unauffällig dahinter verstecken und unentdeckt auf die Straße spähen kann. Ich habe zwar das Gefühl, dass, wenn sie mich doch dahinter entdecken, es nur noch gruseliger wirkt als vorher, aber ich kann nicht anders. Ich schaue ihnen gern beim Spielen zu. Das klingt tatsächlich ganz schön gruselig, wenn man ehrlich ist. Aber ich mag es, ihnen zuzusehen, wie sie spielen und ihre unbeschwerte Kindheit genießen. Einmal hat eins der Kinder mir direkt in die Augen gesehen und sich dann zu seinem Freund umgedreht und irgendwas gesagt. Dann haben beide gelacht. Was der Junge gesagt hat, habe ich nicht verstanden, also habe ich mir eingeredet, es wäre etwas Nettes gewesen wie: »Guck mal, Jimmy, da ist wieder diese hübsche, geheimnisvolle Frau.« Aber vermutlich hat er eher so was gesagt wie: »Guck mal, Jimmy, da ist wieder die Verrückte, die Katzen killt und kocht.« Nur nebenbei bemerkt, das tue ich nicht. Katzen killen und kochen, meine ich. Aber Boo Radley war auch ein netter Mensch, und trotzdem haben die Leute das über ihn behauptet. Das Telefon klingelt. Ich schaue von meinem Buch auf und tue, als überlegte ich, einfach nicht ranzugehen. Dabei weiß ich ganz genau, dass ich rangehen werde. Auch wenn ich mich dafür aus der Kuhle meines durchgesessenen Samtpolstersessels mühen und die siebzehn Schritte (ja, ich habe sie gezählt) in die Küche gehen muss, um den senfgelben Hörer meines Festnetztelefons abzuheben. Ein Handy habe ich nämlich nicht. Auch wenn es sicher wieder nur einer von diesen Telefonmarketing-Fritzen ist, die mich regelmäßig anrufen, oder meine Mutter, die sich höchstens drei bis vier Mal im Jahr meldet. Obwohl ich gerade an der Stelle in meinem Buch bin, an der Kommissar und Killer endlich in einer Kirche aufeinandertreffen, nachdem sie die letzten zweihundertvierundsiebzig Seiten Katz und Maus miteinander gespielt haben. Ich werde aus dem Grund rangehen, aus dem ich immer rangehe: Ich freue mich jedes Mal, eine menschliche Stimme zu hören. Oder womöglich höre ich auch bloß gern meine eigene Stimme. Schriiiiiiiinnnnng! Aufstehen. Buch hinlegen. Siebzehn Schritte. »Hallo?« »Jubilee?« Eine unbekannte Männerstimme. Ich frage mich, was er mir wohl verkaufen will. Timesharing-Ferienwohnungen? Einen Internetservice mit achtmal schnelleren Downloads? Vielleicht macht er auch eine Umfrage. Einmal habe ich mich mit jemandem von einem Marktforschungsinstitut fünfundvierzig Minuten lang über meine Lieblingseissorte unterhalten. »Ja?« »Hier ist Lenny.« Lenny. Der Mann meiner Mutter. Wir sind uns nur ein einziges Mal begegnet – vor Jahren, und zwar während der...