E-Book, Deutsch, 272 Seiten
Reihe: Hinterm Deich Krimi
Hinterm Deich Krimi
E-Book, Deutsch, 272 Seiten
Reihe: Hinterm Deich Krimi
ISBN: 978-3-98707-086-0
Verlag: Emons Verlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 0 - No protection
Der Klimawandel hat den Norden fest im Griff. Hitzewellen wechseln sich mit Hochwasser ab, die wirtschaftlichen Folgen setzen den Menschen zu. Währenddessen häufen sich brutale Übergriffe auf einen großen Tankstellenbetrieb: Fahrer werden ermordet, Tankstellen angegriffen, und schließlich fliegt ein Tanklastzug in die Luft. Als die Situation zu eskalieren droht, stürzt sich Kriminalrat Lüder Lüders in die Ermittlungen, um das tödliche Inferno zu ersticken.
Autoren/Hrsg.
Weitere Infos & Material
ZWEI
Hätte er vor dreißig Jahren festgestellt: »Das war eine heiße Nacht«, wäre das mit einem hintergründigen Schmunzeln geschehen, dem kein weiterer Kommentar gefolgt wäre. Heute Morgen fühlte sich Lüder Lüders müde und zerschlagen. Es war eine weitere Tropennacht gewesen. Meteorologen definierten diese als eine Nacht, in der die Temperaturen nicht unter zwanzig Grad sanken. Seine Frau Margit hatte noch vor Mitternacht die Flucht angetreten und sich auf das Sofa im Wohnzimmer zurückgezogen. Dort war es unmerklich kühler als im Schlafzimmer im Obergeschoss des Einfamilienhauses am Kieler Hedenholz. Nur Sinje, Nesthäkchen und Teenager der Familie, schienen die Temperaturen nichts auszumachen. Wenn man ihren Aussagen Glauben schenken konnte, hatte sie ihren Lebensmittelpunkt in das Freibad verlegt und ernährte sich ausschließlich von Eiscreme. Lüder hatte sich im Bett hin und her gewälzt, nach Mitternacht die Fenster geöffnet, im Glauben, der Luftzug würde für Abkühlung sorgen. Statt kühler Luft waren Geschwader von Mücken über ihn hergefallen und hatten ihn an Margits Bitte, den Insektenschutz am Fenster zu montieren, erinnert. Er hatte ausführlich die lauwarme Dusche genossen. Als er die Küche im Erdgeschoss betrat, hatte sie schon das Frühstück zubereitet. Der Kaffeeduft war verlockend, wäre er nicht mit der Tatsache verknüpft, dass Kaffee ein Heißgetränk war. »Womit ist der gedopt?«, fragte Lüder, nachdem er Margit mit einem Kuss begrüßt und sich an seinem Platz am Küchentisch niedergelassen hatte. Seine Frage galt dem Moderator im Radio, der munter und frisch drauflosplauderte, als käme er gerade von einem mehrwöchigen Urlaub mit Ausschlafgarantie. »Heute dürfen wir uns wieder über einen wunderbaren Sommertag im schönsten Bundesland der Welt freuen«, verkündete der Plauderer. »Achtzehn Stunden Sonne stehen uns bevor. Und wer es warm mag … In Kiel erwarten wir heute erneut an die vierunddreißig Grad. Keine Wolke trübt die Freude an diesem Sommer. Also, ab in die Förde oder Ostsee, den Dorfteich oder wo Sie sich gerade aufhalten. Selbst die Nordsee hat traumhafte Badetemperaturen. Ihr könnt euch die Reise ans Mittelmeer sparen. Hier ist es genauso warm. Und viiiiiel schöner.« »Du wohnst auch nicht unter der Dachschräge«, knurrte Lüder und wechselte das Programm. Auch auf dem nächsten Sender war das Wetter ein Thema. Es liefen noch die Nachrichten, die Sprecherin wies auf die erhöhte Waldbrandgefahr hin und bat um Rücksichtnahme. Lüder schüttelte den Kopf. Seit Langem warteten die Menschen auf Regen. Die Trockenheit war allgegenwärtig. Und dennoch gab es Leute, die ihre Zigarettenkippen achtlos in das trockene Unterholz warfen oder gar im Wald grillten, ganz abgesehen von jenen, die mit Absicht Feuer legten. Die Feuerwehren standen mancherorts vor großen Herausforderungen. Die Landwirtschaft klagte und äußerte Befürchtungen, dass die Ernte geringer ausfallen könnte. Das wäre mit einem weiteren Preisanstieg verbunden. Seen und Flüsse führten Niedrigwasser. Die Sprecherin schloss den Beitrag mit einer allgemeinen Warnung. Die Menschen sollten körperlich anstrengende Tätigkeiten in die Abendstunden verlegen und die Sonne meiden. Es wurde empfohlen, viel zu trinken. Besondere Aufmerksamkeit sollte den Älteren und den Kindern geschenkt werden. Dann folgte Musik. »Jetzt reicht es mit der Hitze«, sagte Margit. »Mir ist es zu warm. Acht bis zehn Grad weniger genügen. Ist das der Klimawandel?« »Da gehen die Meinungen auseinander. Es gibt viele Anzeichen, die dafürsprechen.« »Früher gab es auch heiße Sommer. Im Jahr … ich weiß es nicht mehr so genau, aber da war es auch brütend heiß. Und neulich habe ich gelesen, dass 1959 schlimm war. Vermutlich spotten wieder alle, wenn der nächste Sommer kühl und verregnet ist.« »Das ist der Unterschied zwischen Klima und Wetter«, meinte Lüder. Margit stand auf und begann, das Geschirr zusammenzuräumen. »Wie gut, dass ich dich habe«, sagte sie lächelnd. »Da kann mir jemand die Welt erklären. Was liegt heute bei dir auf dem Amt an?« »Bürokratie.« Sie hauchte ihm einen Kuss auf die Wange. »Tage wie diese … Da kommen selbst Beamte ins Schwitzen.« »Du bist reichlich kess.« Lüder nahm sie in den Arm. Er war glücklich, dass sie ihre Krankheit überwunden hatte. Die Psyche war wiederhergestellt, nachdem sie lange unter den Folgen einer Entführung und den terroristischen Übergriffen auf ihn und die Familie gelitten hatte. »Holst du dir wieder einen Stapel Zeitungen?«, wollte sie wissen. Er bestätigte es. »Weshalb liest du sie nicht auf dem Handy?« »Ich brauche das Haptische. Das Papier muss rascheln.« Er schmunzelte. »Außerdem würden die Kollegen irritiert sein, wenn ich ohne Zeitungen ins Büro käme. Eine Zeitung auf dem Tisch … das kennen sie. Würde man mich mit dem Handy sehen, könnte der Verdacht aufkommen, ich würde herumdaddeln.« Sie lächelte. »Du hast recht. Es ist schön, beim Bewährten zu bleiben. Das gilt nicht nur für den Zeitungskauf.« Er verabschiedete sich und trat vor die Tür. Schon um diese Zeit schien es, als würde er gegen eine Hitzewand prallen, als er hinaustrat. Es fehlten der Regen, die Luftbewegung, ein kräftiges Gewitter. Ein Taxifahrer hatte ihm vor ein paar Tagen erklärt, dass er aus dem Irak stamme. Dort hätte er schon sechzig Grad erlebt. Die Luft sei dort aber trocken und deshalb besser zur ertragen als die feuchte Schwüle in Kiel. »Nicht einmal das können die Deutschen«, hatte der Mann angefügt. Lüder stieg in seinen betagten BMW 520. Er dachte mit Grausen an den Feierabend. Der Wagen würde den ganzen Tag über in der prallen Sonne stehen. Das Lenkrad würde heiß sein, die Polster wie ein Wärmekissen wirken und die herabgedrehten Fenster konnten keine Klimaanlage ersetzen. Der nächste Wagen würde mit einer Klimaanlage ausgestattet werden. Der nächste Wagen? Lüder lächelte und begann, die ersten Takte des Songs aus dem Musical »Anatevka« zu singen, mit dem Shmuel Rodensky weltberühmt wurde. »Wenn ich einmal reich bin …« Das würde auf ihn nicht zutreffen. Er hätte früher einen anderen Berufsweg einschlagen müssen. Seine zwischenzeitlichen Bemühungen, den Polizeidienst zu verlassen und sich als Anwalt niederzulassen, waren gescheitert. Aber im Grunde seines Herzens hing er an seiner Tätigkeit als Kriminalrat in der Abteilung 4 des Landeskriminalamts, dem Polizeilichen Staatsschutz. Es war zu merken, dass die Schulferien begonnen hatten. Daher zwängten sich deutlich weniger Fahrzeuge über Kiels Straßen. Er erreichte das Polizeizentrum Eichhof, ein großes Areal, wo verschiedene polizeiliche Einrichtungen beheimatet waren. Auf dem Weg vom Parkplatz zum Dienstgebäude traf er einen Kollegen, der sofort nach der Begrüßung über das Wetter stöhnte. Lüder erreichte sein Büro, startete seinen Rechner, legte mehrere Tageszeitungen auf den Schreibtisch und ging in das Geschäftszimmer, das Reich von Edith Beyer. Die Mitarbeiterin im Vorzimmer des Abteilungsleiters war sommerlich luftig bekleidet. Vor ein paar Jahren wäre es noch undenkbar gewesen, dass sich eine Frau in einer Amtsstube so zeigte. Bei der derzeitigen Witterung war es eine Selbstverständlichkeit. Beim Militär nannte man es wohl Marscherleichterung. »Moin, Herr Dr. Lüders«, begrüßte sie ihn und sah auf die Armbanduhr. »Haben Sie es vergessen?« Er sah sie fragend an. »Haben Sie Geburtstag?« Sie lachte mädchenhaft. »Nein.« Dann zeigte Sie auf die Tür des Abteilungsleiters. »Er wartet auf Sie.« »Auf mich?« Dann fiel es ihm siedend heiß ein. Gestern Abend hatte Kriminaldirektor Dr. Starke noch eine Dienstbesprechung anberaumt. Sie sollte schon vor einer halben Stunde beginnen. »Macht nichts«, stellte Lüder fest. »Die Welt da draußen hat sich trotzdem weitergedreht.« Er legte Daumen und Zeigefinger der rechten Hand aneinander und führte sie zum Mund, als würde er an einer Kaffeetasse nippen. Edith Beyer nickte. »Ich bringe Ihnen einen Kaffee.« Lüder klopfte pro forma an das Holz der verschlossenen Tür und trat sofort ein, ohne die Aufforderung dazu abzuwarten. Kriminaldirektor Dr. Starke und Kriminaloberrat Gärtner saßen am Besprechungstisch, auf dem Papiere ausgebreitet waren. Sie sahen Lüder an. Während Gärtner es bei einem knappen »Moin« beließ, sagte Dr. Starke mit einem tadelnden Unterton: »Du kommst spät. Wir waren früher verabredet.« »Moin, lieber Jens«, erwiderte Lüder, ohne auf den Vorwurf einzugehen, und setzte sich zu den beiden. Gärtner trug ein sportliches Sommerhemd mit kurzen Ärmeln, das so weit aufgeknöpft war, dass die grauen Brusthaare am oberen Rand hervorlugten. Dr. Starke war, wie immer, perfekt gekleidet. Er trug ein blütenweißes Hemd, hatte aber auf eine Krawatte verzichtet. Der oberste Knopf war geöffnet. Das Sakko hing auf einem Bügel an einem Garderobenhaken. Dr. Starke wäre es nie in den Sinn gekommen, sein Sakko über der Stuhllehne aufzuhängen. Er zeigte auf ein Schreiben, das zwischen ihm und Gärtner lag, und wollte es Lüder über den Tisch schieben. »Danke, ich kann über Kopf lesen«, antwortete Lüder. Es war eine Notiz des Innenministeriums, die an die Leitung des LKA gerichtet war. Darin zeigte man sich besorgt über eine Drohung, die an die Geschäftsleitung der Nordic Energi GmbH in Rendsburg gerichtet war. »Ihr zerstört unsere Welt. Die einzige, die wir haben. Ihr zerstört das Leben. Unser Leben. Das unserer Kinder. Wir haben euch zugerufen: Hört auf. Aber ihr seid...