Nixon | Settlers Creek | E-Book | sack.de
E-Book

E-Book, Deutsch, 352 Seiten

Nixon Settlers Creek

Roman
1. Auflage 2025
ISBN: 978-3-293-31200-5
Verlag: Unionsverlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark

Roman

E-Book, Deutsch, 352 Seiten

ISBN: 978-3-293-31200-5
Verlag: Unionsverlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark



Box Saxton beobachtet besorgt die Sturmfront, die sich über der Küstenstraße im Süden Neuseelands zusammenbraut, als ihn der Anruf erreicht, der alles verändert: Sein neunzehnjähriger Stiefsohn Mark hat sich das Leben genommen.

Gemeinsam mit seiner Frau versucht Box, den Verlust zu begreifen, als der leibliche Vater des Sohnes auftaucht. Tipene ist Maori, und obwohl er den Jungen kaum kennt, besteht er darauf, Mark nach Maori-Tradition bei seinen Ahnen zu bestatten. Mit dem neuseeländischen Recht auf seiner Seite, stiehlt er den Körper des Jungen. Getrieben von Trauer und Wut, nimmt Box die Verfolgung auf, um seinen Sohn zurückzuholen.

Der eindringliche Kampf zweier Väter um ihren Sohn rührt an einen Urkonflikt Neuseelands und fragt nach der Bedeutung von Familie, Herkunft und Liebe.

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Prolog
Ein paar Witzbolde haben eine nackte Schaufensterpuppe an eine der großen Kiefern gehängt. Das war der erste Gedanke des alten Mannes. Vermutlich wollten sie die Jogger erschrecken, die da vorbeikamen. Teenager oder Studenten – junge Leute jedenfalls, die ein paar Bier zu viel intus hatten. Die sind wohl gestern Nacht in die Hügel hochgefahren, um sich zu amüsieren. Der Mann war unterwegs, um Kiefernzapfen zu sammeln, die der Nachtwind von den kahlen Zweigen geschüttelt hatte. Die brauchte er zum Kaminanzünden. Vorsichtig legte er den Nylonsack, den er bei sich hatte, aufs Gras. »Gardener Grain« war in verblassendem Waldgrün darauf zu lesen. Die sechs oder sieben Zapfen, die er bislang eingesammelt hatte, beulten den Stoff bereits aus, und er blieb einen Moment stehen, um sicherzugehen, dass der Sack auf dem steilen grasbewachsenen Abhang nicht ins Rutschen geriet. Langsam setzte er sich in Bewegung, ging am Abhang entlang zu einer lockeren Kieferngruppe in etwa fünfzig Metern Entfernung. Der Morgen war völlig windstill, und die Figur an dem Baum bewegte sich nicht. Der Mann trat vorsichtig auf das Gras. Er hatte Angst zu stürzen. An diesem Morgen hatte er sein Arthrosemittel nicht genommen, weil ihm schlecht wurde, wenn er die Tabletten zweimal am Tag schluckte, wie es der Arzt verschrieben hatte. Er glaubte nicht an Tabletten. Und sein Vertrauen in Ärzte war äußerst beschränkt. Er befürchtete, dass die kleinen weißen Dreiecke ihm ein Magengeschwür beschert hatten. Und schon begannen seine Fingergelenke wieder zu schmerzen, vielleicht nur deshalb, weil er an sie gedacht hatte. Er sah auf seine Hände hinab, die Knöchel waren angeschwollen und blau verfärbt. In seinen Füßen pochte es. Der Wetterbericht um sechs Uhr morgens hatte gewarnt, dass am Nachmittag aus südlicher Richtung ein Unwetter aufziehen würde, aber jetzt strahlte der Himmel noch makellos blau. Es war der dritte Sonntag im April, sehr früh am Morgen, die Herbstsonne war erst vor einer halben Stunde aufgegangen. In der Nacht hatte es heftigen Wind gegeben, doch er hatte sich vor Tagesanbruch gelegt. In der klaren Luft waren im Norden die Ausläufer der südlichen Vororte der Stadt auszumachen. Die Häuser drängelten sich die Hügel hinauf: rote, orangefarbene und weiße Dächer über briefmarkengroßen Rasenstücken, dazu die hartrandigen, schnurgeraden Linien der Straßen, die an diesem Sonntagmorgen noch menschenleer dalagen. Von seinem Hügel aus konnte er auf die weitläufigen Sportplätze der örtlichen Grundschule schauen und auf eine weichgezeichnete Reihe alter Weiden und Pappeln dahinter, die den Flusslauf erkennen ließ. Jenseits davon die Ansammlung von Hochhäusern im Stadtzentrum, hinter denen sich am Horizont im Westen die Berge abzeichneten – sie wirkten zum Greifen nahe, lagen aber gut zwei Autostunden entfernt. Der alte Mann arbeitete sich unterhalb des Wanderwegs voran, fast bis zu den Knien im nie gemähten Gras, das höchstens ab und an ein paar Schafe sah. Er hörte zwei eifrige frühe Mountainbiker, die sich zwischen heftigen Atemstößen abgehackt unterhielten, während sie sich den Berg hinaufkämpften. Wegen der Bäume konnte er sie jedoch nicht sehen. Die Sonne schien auf die Felsnase über ihm, während seine Seite des Hügels, die westliche, bis ins Tal hinunter im Schatten lag. Als er den Kopf hob und zu den hohen Monterey-Kiefern hinüberschaute, sah er seinen Atem in der kalten Morgenluft. Unterhalb des Wegs standen etwa ein Dutzend Kiefern eng zusammen. Sie hatten sich zum größten Teil selbst ausgesät und waren so dicht gewachsen, dass sich ihre Zweige ineinander verschlangen. Die Nadeln lagen in einer so dicken Schicht darunter, dass dort nichts wuchs. Da konnte man leicht ausrutschen. Er hatte während des Gehens auf den Boden gesehen, doch jetzt, als er nahe genug bei den Bäumen war, hob er den Blick. »O Gott!« Seine Stimme zerriss die Morgenstille. Keine Schaufensterpuppe. Natürlich nicht. Wie hatte er das nur denken können? »O Gott! Um Gottes willen!« Splitterfasernackt. »Gott!« Leiser diesmal. Der Kopf war leicht in den Nacken gelegt, angehoben von dem dicken Knoten. Das Kinn wies auf die ersten kahlen Zweige. Die Augen waren geschlossen, und der Mann dankte im Stillen dafür. Unwillkürlich starrte er auf das Schamhaar. Die dunkle Nacktschnecke darin, der Penis. Der tote Mann – nein, nicht mal alt genug dafür, vermutlich noch ein Teenager, der arme Kerl –, der Fast-Mann also, der Junge hatte seine Sachen ordentlich zusammengelegt und in einer Vertiefung zwischen den Baumwurzeln gestapelt. »O mein Gott«, dachte er. Dieser Junge war im Begriff, sich zu erhängen, und hatte sich noch die Mühe gemacht, seine Kleider zusammenzufalten. Der alte Mann staunte. Oben auf dem Stapel die Blue Jeans. Der schwarzglänzende Ledergürtel lag aufgerollt daneben. Er spürte sein Herz hämmern, als wäre er den ganzen Weg aus dem Tal hochgerannt. Er trat näher heran. Mit einem Blick erkannte er, wie der Junge es bewerkstelligt hatte. Ein Drahtzaun lief den Hügel hinauf und trennte ein Privatgrundstück von dem stadteigenen Naturschutzgebiet mit seiner Neupflanzung von Flachs und diesen blödsinnigen Kohlbäumen. Der Junge musste auf den nächstgelegenen Zaunpfahl geklettert sein, das Seil über den Ast geworfen und verknotet haben. Dann hatte er sich die Schlinge um den Hals gelegt. Und war gesprungen. So einfach war das. Der Mann wandte den Blick von der baumelnden Leiche und schaute über die Stadt. Er atmete tief ein. Der Herbsthimmel war blau, weit und wolkenlos. Er spürte einen Schweißausbruch auf der Stirn. In den Handflächen dasselbe. Er wischte sich die Hände an der Hose ab und
fragte sich, wie lange der Junge da wohl schon hing. Die Bäume schützten ihn vor den Blicken der frühmorgendlichen Jogger und Mountainbiker, aber sicher nicht den ganzen gestrigen Tag schon, nicht so lange. Irgendjemand hätte ihn entdeckt. Das Haus des Mannes war das drittletzte an dem asphaltierten Teil der Straße. Wegen seiner Arthritis schlief er schlecht und hörte gewöhnlich, wenn Autos nachts bis zum Farmtor fuhren. In der letzten Nacht hatte er nichts gehört. Er dachte daran, sofort zum Haus zurückzukehren und die Polizei zu benachrichtigen. Doch irgendwie schien ihm das nicht richtig. Aus einem Grund, den er erst sehr viel später würde benennen können, dachte er an seinen Vater. Weihnachten war er vierzig Jahre tot gewesen, und immer noch fragte sich der Mann, was der alte Griesgram wohl tun würde, wenn er jetzt hier wäre. Er seufzte und ging noch näher heran, wobei er auf die rutschigen Kiefernnadeln achtgab. Trotz seiner steifen Finger und der Druckstelle unter seinem linken Fuß kletterte er auf den Zaunpfahl. Langsam, Zentimeter für Zentimeter; flüssige, schnelle Bewegungen waren ihm schon lange nicht mehr möglich. Er kam sich vor wie aus Holz gemacht, wie ein Liegestuhl vielleicht, den man behutsam auseinanderklappen musste, weil die Scharniere verrostet waren. Der Pfosten, auf dem sein Fuß jetzt stand, war erst kürzlich erneuert worden, wie einige andere auch. Das Holz war hell, ohne Flechten oder feuchte Flecken. Der alte Mann hatte im letzten Sommer ein paar Leute von der Stadt gesehen, die verfaulte Zaunpfähle durch neue ersetzten. Jetzt, mit einem Fuß auf dem Pfahl und einer Hand an der rauen Baumrinde, konnte er sich mit dem anderen Fuß vom Boden des Abhangs abstoßen. Er schwankte ein bisschen, dann stützte er sich am Baum ab und fand Halt. Der Leichnam hing mit dem Rücken zu ihm. Als er sicher stand, fischte der alte Mann mit der Linken sein Taschenmesser aus der Gesäßtasche und klappte mithilfe seiner Zähne die große Klinge heraus. Das Metall berührte seine Zunge, und sofort schmeckte er es im ganzen Mund: scharf und brackig, seine Füllungen schmerzten davon. Er balancierte auf dem Pfosten und schwankte wieder ein wenig, als hätte sich ein Morgenwind erhoben, doch die Luft war ruhig und kalt. Nein, die Leiche war gestern noch nicht da gewesen, da war er ganz sicher. Wenn der Junge am gestrigen Abend hier raufgekommen war, als es noch hell genug war, um das zu tun, was er tun zu müssen glaubte, dann hatte er die ganze Nacht da gehangen. Der Mann erinnerte sich, dass der Wind kurz vor Mitternacht ziemlich heftig gewesen war. Er hatte im Bett gelegen und gelauscht, wie der Wind auf Südwest gedreht hatte und die Kiefern und die beiden großen Eukalyptusbäume bei seinem Haus in der Dunkelheit knarrten und rauschten. Im Nebenzimmer hatte Irene, seine Frau, mit ihrem schweren Federbett geraschelt. Sie nahm jeden Abend zwei Schlaftabletten und wäre nicht mal dann aufgewacht, wenn am Fußende ihres Bettes ein Eisenbahnzug voller Sexualverbrecher gehalten hätte. Er stellte sich vor, wie der Junge in der Dunkelheit tot am Baum hing. Wie der starke Wind ihn wohl gedreht haben mochte. Der Südwestwind blies immer heftig durch dieses Tal. Bog die Bäume. Er stellte sich vor, wie sich der Leichnam bewegte, hin- und herschwang, sich drehte – und das weniger als hundert Meter von seinem Haus entfernt, wo er friedlich in seinem Bett lag. Die Knochen in den Fußballen des Mannes begannen zu schmerzen, der Pfahl bot zu wenig Platz, er musste auf den Ballen balancieren. Er versuchte den Schmerz zu ignorieren, um sich auf die vor ihm liegende Aufgabe zu konzentrieren. Er musste sich weiter strecken, als er gedacht hatte, um mit seinem Messer an das Seil zu kommen. Es war eine erstklassige...


Weidle, Stefan
Stefan Weidle (*1953 in Stuttgart) gründete 1994 gemeinsam mit seiner Frau den Weidle Verlag, der 2024 vom Wallstein Verlag übernommen wurde. Er übersetzt darüber hinaus Literatur aus dem Englischen und Französischen, darunter Werke von Carl Nixon, Edem Awumey, Miguel de Unamuno und Mary Wollstonecraft Shelley. Bis 2015 war er Vorsitzender des Vorstands der Kurt-Wolff-Stiftung und setzte sich für unabhängige Verlage und Buchhandlungen ein. Stefan Weidle lebt in Bonn und Berlin.

Nixon, Carl
Carl Nixon (*1967 in Christchurch, Neuseeland) studierte Religionswissenschaften und Pädagogik an der University of Canterbury. Nach seinem Studium unterrichtete er Englisch und lebte eine Zeit lang in Japan und New York. Sein mehrfach ausgezeichnetes Werk umfasst Romane, Kurzgeschichten und Theaterstücke, er erhielt den Katherine Mansfield Short Story Award und gewann zwei Mal den Sunday Star Times Short Story Contest. Sein Debütroman Rocking Horse Road stand vier Monate auf der KrimiZEIT-Bestenliste. Nixon lebt in Christchurch.



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