nach den Aufzeichnungen von M.; gekürzte Ausgabe
E-Book, Deutsch, 560 Seiten
ISBN: 978-3-7557-4414-6
Verlag: BoD - Books on Demand
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
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1. MEISTER UND SCHÜLER
ABBILDUNG 21: M. (MAHENDRA GUPTA) (1854-1932) März 1882 Es war an einem Sonntag im Frühling, einige Tage nach Sri Ramakrishnas Geburtstag, als M. ihn zum ersten Mal traf. Sri Ramakrishna lebte im Kalibari, dem Tempelgarten der Mutter Kali am Ufer des Ganges in Dakshineswar. M., der sonntags frei hatte, war mit seinem Freund Sidhu ausgegangen, um mehrere Gärten in Baranagore zu besuchen. Als sie in Prasanna Bannerjis Garten spazieren gingen, sagte Sidhu: „Es gibt einen bezaubernden Ort am Ufer des Ganges, wo ein Paramahamsa lebt. Willst du dorthin gehen?“ M. war damit einverstanden, und sie machten sich sofort auf den Weg zum Tempelgarten in Dakshineswar. Zur Abenddämmerung kamen sie am Haupttor an und gingen direkt in Sri Ramakrishnas Zimmer. Dort trafen sie ihn auf einem hölzernen Sofa sitzend und nach Osten blickend an. Mit einem Lächeln auf seinem Gesicht sprach er über Gott. Der Raum war voller Leute, die alle auf dem Boden saßen und seine Worte in tiefer Stille aufnahmen. M. stand sprachlos da und schaute zu. Es war ihm, als stünde er an dem Ort, wo sich alle heiligen Orte treffen, und als würde Sukadeva selbst das Wort Gottes verkünden oder Sri Chaitanya mit Ramananda, Swarup und den anderen Verehrern den Namen und das Lob des Herrn in Puri singen. Sri Ramakrishna sagte: „Wenn du beim Hören des Namens von Hari oder Rama Tränen vergießt und dir die Haare zu Berge stehen, dann kannst du dir sicher sein, dass du keine solche Andachten wie das Sandhya mehr ausführen musst. Erst dann hast du das Recht, den Ritualen zu entsagen, oder vielmehr werden die Rituale von selbst von dir abfallen. Dann genügt es, wenn du den Namen von Rama oder Hari wiederholst oder einfach nur OM.“ M. sah sich erstaunt um und dachte: „Was für ein schöner Ort! Was für ein bezaubernder Mann! Wie schön seine Worte sind! Ich will mich nicht mehr von der Stelle bewegen.” Nach einigen Minuten dachte er: „Ich will zuerst den Ort sehen. Dann komme ich zurück und setzte mich hin.” Als er das Zimmer mit Sidhu verließ, hörte er die liebliche Musik des Abendgottesdienstes mit Gong, Glocke, Trommel und Zimbeln, die im Tempel erklang. Er konnte auch am südlichen Ende des Gartens Musik aus dem Nahabat hören. Die Klänge reisten über den Ganges, trieben davon und verloren sich in der Ferne. Es blies ein sanfter Frühlingswind, der vom Duft der Blumen erfüllt war. Der Mond war soeben aufgegangen. Es war, als würden Natur und Menschen sich zusammen auf den Abendgottesdienst vorbereiten. M. und Sidhu besuchten die zwölf Siva-Tempel, den Radhakanta-Tempel und den Tempel von Bhavatarini [Kali]. Als M. den Gottesdienst vor den Statuen beobachtete, wurde sein Herz von Freude erfüllt. Auf dem Rückweg zu Sri Ramakrishnas Zimmer unterhielten sich die beiden Freunde. Sidhu erzählte M., dass der Tempelgarten von Rani Rasmani gegründet worden war. Er sagte, dass Gott dort täglich als Kali, Krishna und Siva verehrt wurde und dass innerhalb der Tore viele Sadhus und Bettler gespeist wurden. Als sie wieder Sri Ramakrishnas Tür erreichten, fanden sie sie verschlossen vor. Brinde, die Magd, stand draußen. M., der nach englischer Sitte erzogen worden war und keinen Raum ohne Erlaubnis betreten würde, fragte sie: „Ist der heilige Mann drinnen?“ Brinde antwortete: „Ja, er ist im Zimmer.“ M.: „Seit wann lebt er hier?” Brinde: „Oh, schon lange.” M.: „Liest er viele Bücher?“ Brinde: „Bücher, oh nein. Sie sind alle auf seiner Zunge.“ ABBILDUNG 22: DAS NAHABAT IN DAKSHINESWAR Dort lebte Sarada Devi (die Heilige Mutter) in einem kleinen Zimmer
im Erdgeschoss. Wikimedia Commons, Foto: Alan Perry, 2002 M. hatte soeben sein Studium am College beendet. Es verwunderte ihn zu hören, dass Sri Ramakrishna keine Bücher las. M.: „Vielleicht ist es Zeit für seinen Abendgottesdienst. Können wir hineingehen? Sagst du ihm, dass wir ihn gern sehen möchten?“ Brinde: „Geht hinein, Kinder. Geht hinein und setzt euch.” Als sie hineingingen, trafen sie Sri Ramakrishna alleine an. Er saß auf dem hölzernen Sofa. Soeben war Weihrauch entzündet worden, und alle Türen waren geschlossen. Als sie eintraten, grüßte M. den Meister mit gefalteten Händen. Dann setzten er und Sidhu sich auf seine Bitte hin auf den Boden. Sri Ramakrishna fragte sie: „Wo lebt ihr? Was ist eure Beschäftigung? Warum seid ihr nach Baranagore gekommen?“ M. beantwortete die Fragen, bemerkte aber, dass der Meister hin und wieder geistesabwesend zu sein schien. Später erfuhr er, dass diese Stimmung Bhava, Ekstase, genannt wird. Es ist wie der Zustand des Anglers, der mit seiner Rute dasitzt. Der Fisch kommt und verschlingt den Köder. Der Schwimmer beginnt zu zitternd. Der Angler ist auf der Hut. Er ergreift die Angel und beobachtet beständig und erwartungsvoll den Schwimmer. Er spricht mit niemandem. Solcherart war der Zustand von Sri Ramakrishnas Geist. Später hörte M. und beobachtete selbst, dass Sri Ramakrishna nach der Abenddämmerung oft in diese Stimmung geriet und sich manchmal der äußeren Welt überhaupt nicht mehr bewusst war. M.: „Vielleicht willst du deinen Abendgottesdienst verrichten. Sollen wir dann lieber gehen?“ Sri Ramakrishna (immer noch in Ekstase): „Nein – Abendgottesdienst? Nein, das ist es nicht.“ Nachdem sie ein wenig miteinander gesprochen hatten, verabschiedete sich M. vom Meister und ging. Sri Ramakrishna sagte: „Komm wieder.“ Auf seinem Heimweg begann M. sich zu fragen: „Wer ist dieser gelassen aussehende Mann, der mich an sich zieht? Ist es möglich, dass ein Mensch groß ist, ohne ein Gelehrter zu sein? Wie wundervoll ist das! Ich werde ihn gern wieder besuchen. Er selbst hat gesagt: ‚Komm wieder.‘ Ich werde morgen oder übermorgen zu ihm gehen.“ M.s zweiter Besuch bei Sri Ramakrishna fand auf der südöstlichen Veranda um acht Uhr morgens statt. Der Meister war gerade dabei, rasiert zu werden. Der Barbier war soeben gekommen. Da es immer noch die kalte Jahreszeit war, hatte er sich einen Baumwollschal mit einer roten Bordüre umgelegt. Als der Meister M. sah, sagte er: „Also bist du gekommen. Das ist gut. Setz dich hier hin.“ Er lächelte. Er stotterte ein wenig, wenn er sprach. Sri Ramakrishna (zu M.): „Wo lebst du?” M.: „In Kalkutta, Herr.” Sri Ramakrishna: „Wo wohnst du hier?“ M.: „In Baranagore bei meiner älteren Schwester – in Ishan Kavirajs Haus.“ Sri Ramakrishna: „Oh, bei Ishan? Wie geht es Keshab. Er war sehr krank.“ M.: „Das habe ich auch gehört, aber ich glaube, es geht ihm jetzt gut.“ Sri Ramakrishna: „Ich habe ein Gelübde abgelegt, die Mutter mit grünen Kokosnüssen und Zucker für Keshabs Genesung zu verehren. Manchmal wache ich in den frühen Morgenstunden auf und rufe Sie an: ‚Mutter, bitte mach Keshab wieder gesund. Wenn Keshab nicht mehr lebt, mit wem soll ich dann reden, wenn ich nach Kalkutta gehe?‘ Und deshalb habe ich beschlossen, Ihr eine grüne Kokosnuss und Zucker darzubringen. Sag, kennst du einen Herrn Cook, der nach Kalkutta gekommen ist? Stimmt es, dass er Vorträge hält? Einmal nahm mich Keshab auf einem Dampfschiff mit, und dieser Herr Cook war in der Gruppe.“ M.: „Ja, Herr, ich habe so etwas gehört. Aber ich war nie bei seinen Vorträgen. Ich weiß nicht viel über ihn.“ Sri Ramakrishna: „Prataps Bruder hat mich besucht. Er ist einige Tage geblieben. Er hatte keine Beschäftigung und sagte, er wolle hier leben. Ich habe erfahren, dass er seine Frau und seine Kinder bei seinem Schwiegervater zurückgelassen hat. Er hat eine ganze Horde von ihnen! Also habe ich ihn zur Rede gestellt. Stell dir nur vor, er ist der Vater von so vielen Kindern! Werden die Leute aus der Nachbarschaft ihnen zu essen geben und sie großziehen? Er schämt sich nicht einmal dafür, dass jemand anderer seiner Frau und seinen Kindern zu essen gibt und dass er sie im Haus seines Schwiegervaters zurückgelassen hat. Ich habe ihn sehr gescholten und ihn gebeten, sich nach Arbeit umzusehen. Dann war er bereit wegzugehen. Bist du verheiratet?“ M.: „Ja, Herr.” Sri Ramakrishna, mit einem Schauder: „Oh Ramlal! (Neffe von Sri Ramakrishna und Priester im Kali-Tempel). Ach, er ist verheiratet!“ M. saß bewegungslos da, als habe er sich eines schrecklichen Vergehens schuldig gemacht. Seine Augen starrten zu Boden. Er dachte: „Ist es denn so schlimm zu heiraten?“ Der Meister fuhr fort: „Hast du Kinder?” M. konnte dieses Mal sein Herz klopfen hören. Er flüsterte mit zitternder Stimme: „Ja, Herr, ich habe Kinder.“ Sehr traurig sagte Sri Ramakrishna: „Ach, er hat auch Kinder!” M. war...